Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 01.11.1957)

 

Tenor

Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 1. November 1957 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin Rosa L. und ihre Tochter K. beziehen seit November 1952 Hinterbliebenenrenten aus der Angestelltenversicherung ihres 1943 in Rußland gefallenen Ehemannes und Vaters Joseph L.. Im August 1955 beanspruchte die Witwe zugleich im Namen ihrer Töchter E. und K. von der Beklagten die Nachzahlung der Renten für die Zeit seit 1943. Die Beklagte lehnte dies unter Hinweis auf § 2 des „Gesetzes über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fristen in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung” vom 13. November 1952 und das dazu ergangene Änderungsgesetz vom 25. Juli 1955 ab. Das Sozialgericht (SG.) Hildesheim bestätigte diese Entscheidung; es ließ die Berufung zu. In der Rechtsmittelbelehrung sind als Anschrift des Landessozialgerichts (LSG.) Niedersachsen, das damals noch LSG. Celle hieß, nur der Ort und die Strasse, aber nicht die Hausnummer angegeben (Urteil vom 23.3.1956). Die Klägerinnen legten gegen das am 7. April 1956 zugestellte Urteil durch ihren damaligen Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt W. in N. mit Schriftsatz vom 3. Mai 1956, zur Post gegeben am 7. Mai 1956 und beim LSG. eingegangen am 8. Mai 1956, Berufung ein.

Das LSG. sah die Berufung als verspätet an und verwarf sie als unzulässig: Die Rechtsmittelbelehrung entspreche den gesetzlichen Vorschriften, weil die Anschrift des LSG. deutlich genug angegeben worden sei. Die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben. Die Rechtsmittelfrist sei durch ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten versäumt worden; sie sei nicht im Fristenkalender eingetragen gewesen und dadurch eine Kontrolle durch den Bürovorsteher verhindert worden. Des weiteren habe der Prozeßbevollmächtigte die Berufungsschrift erst am letzten Aufgabetag dem erst wenige Wochen bei ihm tätigen, fünfzehnjährigen Lehrling zur Beförderung gegeben, ohne die Erledigung des Auftrags selbst zu überwachen oder den Bürovorsteher damit zu beauftragen. – Das LSG. ließ die Revision zu (Urteil vom 1.11.1957).

Die Klägerinnen legten gegen das am 29. November 1957 zugestellte Urteil am 28. Dezember 1957 Revision ein und begründeten sie am 15. Januar 1958: Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG. sei nicht vollständig, weil die genaue Anschrift des LSG. fehle und nicht auf die Möglichkeit der Sprungrevision hingewiesen sei. Außerdem habe das LSG. an die Sorgfaltspflicht eines Rechtsanwalt überhöhte Anforderungen gestellt. An diese dürften im Verfahren vor den Sozialgerichten nicht die Maßstäbe angelegt werden, wie sie im Anwaltsprozeß vor den Zivilgerichten üblich seien. Daß die Frist nicht im Kalender vermerkt worden sei, sei nicht ursächlich für die verspätete Einlegung der Berufung gewesen. Weil es eine einfache Aufgabe für den sonst zuverlässigen Lehrling gewesen sei, den Brief zu frankieren und zur Post zu geben, habe sich die Kontrolle erübrigt; insbesondere sei der Prozeßbevollmächtigte nicht verpflichtet gewesen, sich zu erkundigen oder von dem Lehrling berichten zu lassen, ob er den Brief auch sofort aufgegeben habe.

Die Klägerinnen beantragten,

das Urteil des LSG. Niedersachsen vom 1. November 1957 aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Im Rubrum des angefochtenen Urteils ist als Klägerin nur die Witwe R. L. angegeben. Das LSG. hat dabei übersehen, daß mit der Klage ausdrücklich auch die Nachzahlung von Waisenrenten für die Töchter E. und K.begehrt worden ist. Diese hätten deshalb im Rubrum mit genannt werden müssen. Der Senat hat in seinem Urteil das Rubrum entsprechend ergänzt.

Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG. entspricht den gesetzlichen Vorschriften.

Die Rechtsmittelbelehrung soll die Beteiligten darüber unterrichten, was sie zu unternehmen haben, um ein den gesetzlichen Formvorschriften entsprechendes Rechtsmittel fristgerecht einlegen zu können. In ihr müssen deshalb auch das: Gericht, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist, und sein Sitz angegeben werden (§ 66 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–). Das ist hier geschehen, indem als Berufungsgericht das LSG. in Celle, Georg-Wilhelm-Straße bezeichnet worden ist. Damit ist die Anschrift so klar beschrieben, daß eine Verwechselung oder eine Verzögerung bei der Zustellung – trotz des Fehlens der Hausnummer – ausgeschlossen erscheint. Dies gilt insbesondere für die Verhältnisse beim LSG. Niedersachsen in Celle. Celle ist nur eine mittlere Stadt. In der Georg-Wilhelm-Straße gibt es nur zwei Häuser. Hier kann eine verspätete Zustellung wegen: Fehlens der Hausnummer nicht vorkommen. Zwar hat das LSG. Berlin entschieden (Breith. 1955 S. 217), eine Rechtsmittelbelehrung sei unrichtig und setze die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf, wenn sie nicht auch den Ortsteil, die Straße und die Hausnummer des Berufungsgerichts enthalte. Diese Entscheidung befaßt sich aber mit den besonderen Verhältnissen in Berlin und ist auf die wesentlich kleinere Stadt Celle nicht anwendbar.

Die Rechtsmittelbelehrung ist auch nicht deshalb unrichtig, weil das SG. es unterlassen hat, die Klägerinnen auf die Möglichkeit der Sprungrevision hinzuweisen. Um ihr Ziel zu erreichen, auch den Rechtsunkundigen zu unterrichten, in welcher Weise die Entscheidung angefochten werden kann, muß die Belehrung einfach und klar gehalten werden. Das Gericht darf sich deshalb darauf beschränken, die Beteiligten über das nächstliegende, in erster Linie in Betracht kommende Rechtsmittel aufzuklären. Es genügt, wenn es sie über die Berufung, nicht auch über die Sprungrevision belehrt (BSG. SozR. § 161, SGG Bl. Da 4 Nr. 10). Die Berufungsfrist hat deshalb mit der Zustellung des Urteils zu laufen begonnen; beim Eingang der Berufungsschrift beim LSG. war die Berufungsfrist abgelaufen.

Das LSG. hat zutreffend für die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist verneint. Die Frist ist nicht ohne Verschulden des damaligen Prozeßbevollmächtigten versäumt worden (§ 67 SGG). Ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten wird dem des Beteiligten gleichgestellt (BSG. SozR § 67 SGG Bl. Da 1 Nr. 2). An die Sorgfaltspflicht eines Prozeßbevollmächtigten können im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit keine geringeren Anforderungen gestellt werden als in den Verfahren vor den übrigen Gerichten. Zwar unterscheiden sich in den einzelnen Verfahrensordungen die materiellen Voraussetzungen, unter denen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden darf, doch hat der Prozeßbevollmächtigte, vor welchem Gericht er auch auftreten mag, die gleichen Aufgaben und Pflichten zu erfüllen. Rechtsmittel muß er stets innerhalb der gesetzlichen Fristen einlegen; er hat durch entsprechende Vorkehrungen dafür zu sorgen, daß alle dafür erforderlichen Maßnahmen rechtzeitig erfolgen. Er muß seinen Bürobetrieb so einrichten, daß das Einhalten der Rechtsmittelfristen gewährleistet ist. In allen Verfahrensarten hat die Nichteinhaltung von Rechtsmittelfristen für die Parteien nachteilige Folgen. Es ist daher nicht gerechtfertigt, bei der Prüfung des Verschuldens unterschiedliche Maßstäbe anzulegen.

Ein Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter braucht sich nicht selbst um die Fristenkontrolle zu kümmern, sondern darf sie seinem Büropersonal überlassen; sonst wäre er formeller Dinge wegen in seiner eigentlichen Tätigkeit als Berater und Sprecher der Rechtsuchenden zu stark beeinträchtigt. Sein Bürobetrieb muß aber so geordnet sein, daß die Überwachung der Fristen durch den Bürovorsteher oder einen anderen zuverlässigen Angestellten gewährleistet ist. dazu gehört insbesondere das Eintragen der Fristen in einen Fristenkalender. Nach den Feststellungen des LSG. war die vorliegende Streitsache ausnahmsweise nicht in einen solchen Kalender eingetragen, weil der damalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerinnen nach seinen Angaben die Akten auf seinem Schreibtisch liegen und selbst in Beobachtung hatte. Wenn ein Rechtsanwalt die eingeführt Ordnung seines Büros in einem Einzelfall durchbricht, dann muß er besonders darauf bedacht sein, daß auf eine andere Weise der ordnungsgemäße Geschäftsablauf gewährleistet wird. Daran hat es aber im vorliegenden Fall gefehlt. Der Rechtsanwalt hat keine Anordnungen getroffen, die die sonst übliche Kontrolle der Rechtsmittelfristen ersetzt hätten. Weil der Vorgang nicht im Fristenkalender eingetragen war und somit nicht vom Bürovorsteher überwacht werden konnte, hatte der Anwalt selbst sich irgendwie – etwa durch Rückfrage – darum kümmern müssen, ob der Lehrling den Brief auch rechtzeitig aufgegeben hatte. In dem Unterlassen jeder Kontrollmaßnahme liegt ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten.

Es ist zwar richtig, wie die Klägerinnen meinen, daß ein Rechtsanwalt nicht verpflichtet ist, sich einen Bürovorsteher zu halten und diesem die Fristenkontrolle zu übertragen. Nur muß der Anwalt dann anderweitige ausreichende Maßnahmen zur Überwachung der Fristen treffen. Das hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerinnen eben nicht getan.

Die Revision war demgemäß zurückzuweisen, ohne daß der Senat zur Frage des Rentenbeginns nach dem Kriegsfristengesetz, über die das Bundessozialgericht bereits früher (BSG. Bd. 3 S. 72 ff.) entschieden hat, Stellung zu nehmen brauchte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Penquitt, Dr. Haug, Dr. Krebs

 

Fundstellen

Haufe-Index 926311

NJW 1959, 1895

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