Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente in der AnV. Wartezeiterfüllung. Anrechnung von Ersatzzeiten
Orientierungssatz
Die Zuerkennung einer Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung ist nicht möglich, wenn die 60-monatige Wartezeit nicht erfüllt ist und eine Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit eines Heimatvertriebenen nicht angerechnet werden kann, da die in Betracht kommende Regelung des § 28 AVG nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen gilt, die in der Zeit seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind und das AnVNG für Übergangsfälle nichts Gegenteiliges aussagt.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 17 Fassung: 1953-02-23, § 8 Fassung: 1957-02-23, § 43 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 26 Fassung: 1957-02-23, § 27 Fassung: 1957-02-23, § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 6 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 17 Fassung: 1957-02-23, § 8 Fassung: 1957-02-23, § 44 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23, § 1250 Fassung: 1957-02-23, § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 5 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 07.08.1958) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 08.05.1956) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 7. August 1958 wird aufgehoben.
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 8. Mai 1956 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Kläger beanspruchen die Hinterbliebenenrenten aus der Versicherung ihres Ehemannes bzw. Vaters A C. Dieser hat seit 1948 Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV.) geleistet. Bei einem Teil derselben bestreitet die Beklagte die Rechtsgültigkeit und die Anrechenbarkeit. Nach den im Verfahren getroffenen Feststellungen sind - selbst wenn man alle Beiträge anrechnet - nur 59 Beitragsmonate nachgewiesen. Der Versicherte ist am 16. Juni 1955 verstorben.
Die Beklagte lehnte es ab, den Klägern die Witwen- und Waisenrenten zu gewähren, weil die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nicht erfüllt sei (Bescheid vom 11.11.1955).
Das Sozialgericht Lübeck wies die Klage aus dem gleichen Grunde ab (Urteil vom 8.5.1956). Auf die Berufung der Kläger änderte das Landessozialgericht Schleswig das Urteil des Sozialgerichts dahin ab, daß es die Beklagte verurteilte, den Klägern durch einen neuen Bescheid die Hinterbliebenenrenten vom 1. Januar 1957 an zu gewähren; im übrigen wies es die Berufung zurück: Mit den vom Versicherten geleisteten Beiträgen sei die Wartezeit nicht erfüllt. Nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht sei kein Rentenanspruch gegeben. Anders sei die Rechtslage vom 1. Januar 1957 an zu beurteilen. Der Versicherte habe bis zu seiner Flucht im Jahre 1945 seinen ständigen Wohnsitz in Ostpreußen gehabt, er sei Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes. Da er seit dem 1. Januar 1948 eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt habe, seien die mit Beiträgen nicht belegten Zeiten vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 sowie das Jahr 1947, in dem er unverschuldet arbeitslos gewesen sei, als Ersatzzeiten auf die Wartezeit anzurechnen. Diese Anrechnung sei nach Art. II §§ 43, 17 und 8 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in Verbindung mit den §§ 26, 27 Abs. 1 b und 28 des Angestelltenversicherungsgesetzes neuer Fassung (AVG n. F.) gerechtfertigt. Mit den sich hiernach ergebenden weiteren Versicherungszeiten sei die Wartezeit erfüllt und der Anspruch auf die Hinterbliebenenrenten vom 1. Januar 1957 an gegeben (Urteil vom 7.8.1958).
Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 29. Dezember 1958 zugestellte Urteil am 19. Januar 1959 Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck zurückzuweisen. Sie begründete die Revision am 16. Februar 1959: Gerügt werde die unrichtige Anwendung des § 28 AVG n. F. Diese Vorschrift könne - wie das Bundessozialgericht bereits entschieden habe - auf Versicherungsfälle aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 nicht angewandt werden.
Die Kläger stellten keinen Antrag zur Sache.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Versicherungsfall, auf den die Kläger ihre Ansprüche auf die Hinterbliebenenrenten stützen (Tod des Versicherten), ist im Jahre 1955 eingetreten. Weil der Rechtsstreit beim Inkrafttreten des AnVNG am 1. Januar 1957 bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebte (Art. 2 § 43 Satz 1 AnVNG), sind die Vorschriften in Art. 2 §§ 17 und 8 AnVNG anzuwenden. Diese enthalten besondere Bestimmungen für den Fall, daß der Tod des Versicherten - wie hier - vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 31. März 1945 eingetreten ist.
Für den Versicherten sind, wie das Landessozialgericht festgestellt hat, im günstigsten Falle 59 Beitragsmonate zur Rentenversicherung der Angestellten nachgewiesen. Damit ist die gesetzliche Wartezeit, die eine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten umfaßt (§ 40 Abs. 2 AVG n. F.), nicht erfüllt.
Tatbestände, nach denen die Wartezeit kraft Gesetzes als erfüllt gilt (§ 29 AVG n. F.), liegen nicht vor. Die Entscheidung über die Ansprüche der Kläger hängt deshalb davon ab, ob Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit angerechnet werden können. Das Landessozialgericht hat angenommen, dies sei für die Jahre 1945 bis 1947 der Fall, weil der Versicherte als Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anzusehen und im Jahre 1947 unverschuldet arbeitslos gewesen sei. Es hat sich dabei auf die Vorschrift in § 28 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 AVG n. F. bezogen, worin die Anrechnung von Ersatzzeiten dieser Art erstmals geregelt ist. § 28 AVG n. F. gilt jedoch, wie der Senat bereits früher entschieden hat, nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die in der Zeit seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind (SozR. § 1251 RVO n. F., Aa Nr. 1). Dies folgt aus der grundsätzlichen Regelung, die das AnVNG für Übergangsfälle enthält (Art. 2 § 6); danach ist auf Versicherungsfälle, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten sind, das bisherige Recht anzuwenden, soweit nicht in den Übergangsvorschriften etwas anderes bestimmt ist. Für die Anrechnung von Ersatzzeiten enthalten aber die §§ 8 und 17 in Art. 2 des AnVNG keine Bestimmungen; diese Vorschriften führen daher für die Versicherungsfälle, für die sie gelten, nicht die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG ein. Zwar weist Art. 2 § 8 AnVNG auf § 26 AVG n. F. hin. Dies bedeutet aber nicht, daß deshalb - über den Klammerzusatz in § 26 und über § 27 AVG - auch § 28 AVG angewandt werden muß. Der Hinweis auf § 26 AVG in Art. 2 § 8 AnVNG betrifft vielmehr allein die Anwartschaftsregelung, wie sie in § 26 AVG enthalten ist, insbesondere wird dadurch dem Grundsatz der Unverfallbarkeit der Beiträge, die in der Zeit seit 1924 geleistet sind, eine auf den 1. April 1945 zurückdatierte Geltung verschafft. Dagegen betrifft der Hinweis auf § 26 AVG nicht gleichzeitig auch die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG. Dies schließt der Senat in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut, dem Zweck und dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschriften und aus den Gesetzesmaterialien. An dieser Auffassung, der inzwischen der 4. Senat des Bundessozialgerichts beigetreten ist (vgl. Urteil vom 8.7.1959 - 4 RJ 47/58 -), hält der Senat auch nach erneuter Prüfung der Rechtslage fest. § 28 AVG findet sonach im Falle der Kläger, die ihre Ansprüche auf einen im Jahre 1955 eingetretenen Versicherungsfall stützen, keine Anwendung; die Wartezeit, von deren Erfüllung das Gesetz die Ansprüche auf die Versicherungsleistungen abhängig macht, ist in ihrem Falle nicht erfüllt.
Danach erweist sich die Revision der Beklagten als begründet; das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben und die Berufung der Kläger gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des Sozialgerichts Lübeck im vollen Umfang zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen