Leitsatz (redaktionell)
Selbsttötung als Schädigungsfolge iS des BVG § 1.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 4 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz vom 26. April 1962 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Kläger begehren die Gewährung von Waisenrenten nach ihrem Vater F P. Dieser ist als Soldat wegen mehrerer Körperfehler von seiner Einberufung im Juli 1941 an bis Oktober 1943 als av bzw. gv-Heimat beurteilt und bis Ende Februar 1944 - seiner Versetzung zum Ersatztruppenteil - im Bürodienst beim Wehrbezirkskommando verwendet worden. Bei Untersuchungen auf Kriegsbrauchbarkeit im Januar, März und September 1944 wurde er als bedingt kv bezeichnet, kam am 13. Oktober 1944 von der Stammkompanie zur Marschkompanie, war dort vom 8. November 1944 ab revierkrank auf Stube und verstarb am 28. November 1944 durch Selbstmord.
Den Rentenantrag der Kläger vom 13. März 1950 lehnte das Versorgungsamt nach Vernehmung von Zeugen und Einholung ärztlicher Stellungnahmen durch den Bescheid vom 15. Mai 1952 ab, weil keine ungewöhnlichen Verhältnisse vorgelegen hätten, welche dazu zwängen, die Schuld an dem Freitod des Vaters der Kläger der militärischen Organisation und ihrem Versagen zuzuschreiben. Der Freitod sei lediglich die Reaktion auf die durchschnittlichen Verhältnisse, wie sie bei der Wehrmacht vorgelegen hätten und durch die damaligen Zeitverhältnisse bedingt gewesen seien, so daß man sie nicht als Schädigungsfolge anerkennen könne.
Die Berufung der Kläger nach altem Recht ist als Klage auf das Sozialgericht (SG) übergegangen. Dieses hat Beweis erhoben durch Einholung von ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen und hat durch Urteil vom 6. Juli 1955 die Klage abgewiesen, weil zwischen dem Entschluß zum Selbstmord und den Einwirkungen des Kriegsdienstes kein Zusammenhang bestehe; weder die Abstellung eines Soldaten zur Front noch die Tatsache, daß ihm von Kameraden der Vorwurf von Geisteskrankheit gemacht worden sei, seien ausreichende Momente, welche die freie Willensbestimmung beeinträchtigen könnten. In der eigenen freien Willensbestimmung müsse das entscheidende Moment zum Selbstmord gesehen werden.
Auf die Berufung der Kläger hat das Landessozialgericht (LSG) Beweis erhoben durch Beiziehung von Akten und Auskünften, Vernehmung von Zeugen und Einholung des ärztlichen Gutachtens von dem Oberregierungsmedizinalrat beim Landesversorgungsamt Nordrhein Dr. D vom 21. April 1961 mit Ergänzung vom 28. November 1961. Durch Urteil vom 26. April 1962 hat es auf die Berufung der Kläger das Urteil des SG und die Verwaltungsbescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Klägern einen Bescheid über die Gewährung von Waisenrenten zu erteilen. Es hat die Revision zugelassen. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Ausweislich der Ergebnisse der Beweisaufnahme, insbesondere des Gutachtens des Sachverständigen Dr. D, sei zur Zeit der Selbsttötung die freie Willensbestimmung wesentlich beeinträchtigt, wenn nicht ausgeschlossen gewesen. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen - der insoweit von unrichtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen sei - sei auch der ursächliche Zusammenhang zwischen Einwirkungen des Wehrdienstes und der Ausführung des Selbstmordes zu bejahen. Es hat sich der Auffassung des Sachverständigen, der Verstorbene habe sich der affektiven Panikstimmung, welche durch eine auf der kv-Beurteilung beruhende Schockwirkung zu erklären sei, willenlos überlassen, nicht angeschlossen, sondern hat als bedeutungsvoll angesehen, "daß der Verstorbene durch die auf der kv-Beurteilung beruhende Schockwirkung überfahren" worden sei und mit "panischem Entsetzen" und mit "Kopflosigkeit" reagiert habe. In diesem überraschend hereingebrochenen Zustand der Ausschließung der freien Willensbestimmung sei es dem Verstorbenen nicht mehr möglich gewesen, seinen Willen gemäß den Anforderungen der Situationen zu steuern. Bedeutsam sei nicht, wie im Durchschnitt Menschen zu reagieren pflegen, sondern nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wie gerade dieser Mensch nach der Struktur seiner Persönlichkeit, also seinem seelischen Zustand und seiner möglicherweise abartigen Reaktionsweise habe reagieren können und müssen. Auch die zweite wesentliche Bedingung für die Selbsttötung, nämlich das befürchtete Schicksal, wie der Vater in Geisteskrankheit zu verfallen, sei den Einwirkungen des Wehrdienstes zuzurechnen. Denn der Verstorbene sei durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse in den Glauben versetzt worden, er leide an der gleichen Geisteskrankheit wie sein Vater und gehe dem gleichen Schicksal entgegen, wie dieser in einer Anstalt zu sterben. Die Kenntnis von der Geisteskrankheit des Vaters sei insoweit nicht bedeutsam, sondern ausschlaggebend sei der Umstand gewesen, daß der Verstorbene durch das Ergebnis der Untersuchung im September 1944 zu der Überzeugung gekommen sei, nunmehr an dem gleichen Leiden erkrankt zu sein.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit §§ 1 und 38 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) samt den entsprechenden Vorschriften des vorher geltenden Landesrechts.
Die Kläger beantragen,
die von dem Beklagten eingelegte Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beklagte hat die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob der Vater der Kläger bei der Selbsttötung sich in einem Zustand der wesentlichen Beeinträchtigung oder Ausschließung der freien Willensbestimmung befunden hat und ob dies auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen ist. Beide Fragen hat das LSG bejaht.
Die tatsächlichen Feststellungen über die Störung der freien Willensbestimmung im Augenblick der Selbsttötung sind in der Revisionsinstanz nicht angegriffen und binden deshalb nach § 163 SGG das BSG. Hingegen hat der Beklagte gegen die Feststellung des Berufungsgerichts über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Einwirkungen des Wehrdienstes und dem zur Selbsttötung führenden Zustand die Verfahrensrügen der unzureichenden Sachaufklärung und der Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung erhoben.
Was zunächst die Rüge der unzureichenden Sachaufklärung anlangt, so kann zweifelhaft sein, ob diese Rüge formgerecht erhoben worden ist. Denn der Beklagte hat nur die Beweismittel bezeichnet, welche das Berufungsgericht hätte wählen müssen. Über das zu erwartende Beweisergebnis hat er hingegen keine Ausführungen gemacht. Jedoch ist die Rüge der unzureichenden Sachaufklärung nicht für sich allein erhoben, sondern zur Begründung der Rüge einer Verletzung des § 128 SGG. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat; insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder Denkgesetze in Betracht (BSG 2, 236, 237). Der Beklagte will durch den Hinweis, daß das LSG ohne die vom Sachverständigen angeregte weitere Sachaufklärung entschieden habe, dartun, daß es seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet habe. Der Beklagte hat dargelegt, welche Umstände bei einer seines Erachtens ordnungsmäßigen Beweiswürdigung hätten berücksichtigt werden müssen und zu welchem Ergebnis eine solche seines Erachtens fehlerfreie Beweiswürdigung geführt hätte - nämlich zur Verneinung der Kausalität. Diese Rüge ist formgerecht erhoben, aber nicht begründet.
Es trifft zwar zu, daß der Sachverständige Dr. D in seinem ersten Gutachten ausgeführt hat, es sei "wesentlich zu wissen, warum P. ab 8. November 1944 revierkrank auf Stube" gewesen sei. Er hat aber sein Gutachten trotzdem erstattet und hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er es nicht als abschließende ärztliche Stellungnahme des Falles ansehen könne, weil über den Grund der Reviererkrankung nichts bekannt sei. Er hat weiter ausgeführt, es dürfe außer Zweifel stehen, daß sich der Verstorbene zur Zeit der Tat in einem Zustande des präsuicidalen Syndroms befunden habe und daß in dieser Phase subjektiver Ausweglosigkeit und irrealer Vorstellungsinhalte die freie Willensbestimmung aufgehoben gewesen sei. Im Hinblick auf diese Ausführungen des Sachverständigen konnte das Berufungsgericht ohne Rechtsverstoß das Gutachten für abschließend erachten, zumal auch sein Versuch einer weiteren Sachaufklärung durch Nachfrage bei dem Zeugen S an welchen der Verstorbene einen Abschiedsbrief gerichtet hatte, ergebnislos geblieben ist. Infolgedessen hat das LSG insoweit die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht überschritten. Auch die weitere Frage, ob es bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs die ihm gezogenen Grenzen beachtet hat, ist zu bejahen. Zunächst ist das LSG mit sehr eingehender Begründung und durchaus wohlerwogenen Gründen von der Auffassung des Sachverständigen abgewichen. Es hat zutreffend ausgeführt, daß dieser von einer unrichtigen Rechtsauffassung ausgegangen ist. Denn dem Gutachter war, wie aus seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. November 1961 hervorgeht, die Rechtsprechung des BSG über die Kausalität psychischer Reaktionen (vgl. BSG 11, 50 ff) bekannt; überdies hatte ihn das Berufungsgericht mit Anschreiben vom 31. Oktober 1961 darauf hingewiesen. Er hat gegen diese Rechtsprechung u.a. ausgeführt, sie habe in Kreisen der Psychiater Bestürzung und Befremden ausgelöst; sie lasse sich mit den Erkenntnissen der Psychiatrie und Psychopathologie nicht in Einklang bringen; sie werde sowohl in versorgungsärztlichen Kreisen, insbesondere von den Fachneurologen und auch von fachwissenschaftlichen Kreisen abgelehnt. Diese und die hiermit übereinstimmenden Ausführungen der Revision können den Senat nicht zu einem Abweichen von den Grundsätzen der Entscheidung veranlassen, die in BSG 11, 50 ff abgedruckt sind. Denn alle diese Ausführungen lassen eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Entscheidung des BSG vermissen. Sie sind durchweg zweckbestimmt und laufen darauf hinaus, nur wegen des nicht gebilligten Ergebnisses Ausführungen gegen das Urteil zu machen. Dies gilt insbesondere für die Auffassung, die Konzeption des BSG laufe auf eine Förderung der negativen Auslese hinaus. Derartige Behauptungen sind nicht geeignet, begründete Rechtsdarlegungen zu widerlegen. Außerdem erledigen sich die Gegenvorstellungen gegen das genannte Urteil des BSG durchweg dadurch, daß die Pflicht des Tatsachenrichters zur Feststellung der Umstände verkannt ist, welche es rechtfertigen, abartige psychische Reaktionen noch in den kausalen Ablauf einzuordnen. Der Senat verkennt nicht die Schwierigkeiten, welche sich bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs psychogener oder neurotischer Störungen mit Einwirkungen des Wehrdienstes ergeben. Insoweit sei auf das Urteil des 4. Senats vom 7. April 1964 (vgl. BSG SozR RVO § 1246 Bl. Aa 26 Nr. 38) und das des 11. Senats vom 1. Juli 1964 (11/1 RA 158/61) verwiesen. Die Simulationsnähe zahlreicher Neurosen fordert bei der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale einen strengen Maßstab. Diese Schwierigkeiten entheben aber das Gericht nicht der Pflicht, den Sachverhalt erschöpfend aufzuklären, damit es eine ausreichende Grundlage für seine Entscheidung erhält. Erst wenn das Gericht trotz sorgfältiger Ermittlungen bei kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung der Störung oder ihre Überwindbarkeit nicht ausschließen kann, wäre von dem Rentenbewerber die Folge des Nichtfestgestelltseins des ursächlichen Zusammenhangs nach den Regeln über die objektive Beweislosigkeit zu tragen.
Diese Grundsätze und die Rechtsprechung des BSG zu neurotischen Störungen hat das Berufungsgericht beachtet. Es hat insbesondere aus den Darlegungen des Sachverständigen Dr. D ohne Rechtsverstoß gefolgert, daß dieser die individuellen Verhältnisse des Vaters der Kläger nicht mehr berücksichtigt hat, als er Ausführungen über Persönlichkeiten im biologischen (somatischen und psychischen) "Normenbereich" gemacht hat. Mit dieser Auffassung hat der Sachverständige zu erkennen gegeben, daß er die vom LSG an ihn gerichteten Fragen nicht so beantwortet hat, wie von einem Sachverständigen als Gehilfen des Richters erwartet werden muß. Infolgedessen war das Berufungsgericht berechtigt zu prüfen, welche Teile des Gutachtens von einer irrigen Rechtsauffassung getragen waren und welche nicht. Diese Unterscheidung hat das LSG im Urteil deutlich gemacht. Seine Ausführungen sind frei von Rechtsirrtum. Während der Sachverständige von einem objektiven Maßstab ausgegangen ist und geprüft hat, ob der Verstorbene bei Anspannung des ihm zumutbaren - nicht des vorhandenen - Willens mit dem ihn beeinträchtigenden Geschehen hat fertig werden können, hat das LSG die Persönlichkeit des Vaters der Kläger berücksichtigt und festgestellt, daß er durch die Untersuchung im September 1944 zusammen mit der Überschreibung zur Marscheinheit vom 8. Oktober 1944 "überfahren" worden und durch die - irrige - Annahme, geisteskrank zu sein, in einen solchen Zustand geraten ist, daß er seinen vorhandenen Willen nicht mehr hat einsetzen können. Diese Feststellung ist mit den Ausführungen des Sachverständigen über das präsuizidale Syndrom vereinbar und findet im ersten Gutachten eine ausreichende Stütze.
Das LSG hat auch die Kausalitätsnorm der Kriegsopferversorgung zutreffend angewandt, denn es hat sämtliche für den eingetretenen Erfolg erkennbaren Bedingungen in den Kreis seiner Erwägung einbezogen und hat aus ihnen die wehrdiensteigentümlichen als wesentlich und damit als Ursachen im Rechtssinne angesehen. Seine Entscheidung läßt insoweit einen Rechtsverstoß nicht erkennen. Der Beklagte hat auch hierzu keine Ausführungen gemacht.
Da sonach die angefochtene Entscheidung zutreffend ist, war die Revision, wie geschehen, zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen