Leitsatz (amtlich)

Der Versicherungsträger darf bei der Rentenanpassung die Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente nicht nachprüfen.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1958-08-28; RAG 7 § 7

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Februar 1966 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren am 17. September 1918, war von Juli 1936 bis Juli 1945 als Verwaltungsangestellter bei einem Landratsamt versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Bescheid vom 14. August 1948 wurde dem Kläger, der an Lähmungserscheinungen als Folge einer Poliomyelitis litt, Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt. Mit Bescheid vom 6. September 1962 entzog die Beklagte dem Kläger die Rente, weil er (seit Oktober 1960) in ungekündigter Stellung eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellter (Telefonist) ausübe und wieder eine vollwertige Arbeitskraft sei. Auf die Klage hob das Sozialgericht (SG) Oldenburg durch das - rechtskräftig gewordene - Urteil vom 25. November 1964 den Entziehungsbescheid vom 6. September 1962 auf: Der Kläger sei im Jahre 1936 mit den Lähmungserscheinungen, die als Folge der Poliomelitis geblieben seien, als Bürogehilfe in das Arbeits- und Versicherungsleben eingetreten. Daraus sei er im August 1945 nicht wegen Verschlimmerung seines Leidens, sondern aus anderen Gründen ausgeschieden, die medizinischen Befunde hätten sich nicht geändert; der Kläger sei immer berufsfähig gewesen; eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 63 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) liege nicht vor.

Mit Bescheid vom 5. April 1965 gewährte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit über den 31. Oktober 1962 hinaus, jedoch nur in Höhe des bis Oktober 1962 durch Umstellung und Anpassung erreichten Zahlbetrages (174,60 DM); sie lehnte es ausdrücklich ab, die Rente des Klägers nach dem 5.6. und 7. Rentenanpassungsgesetz (RAG) neu zu berechnen.

Das SG Oldenburg verurteilte die Beklagte, die Rente auch unter Berücksichtigung des 5. RAG und der weiteren Anpassungsgesetze zu gewähren (Urteil vom 25.8.1965). Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 4. Februar 1966 zurück: Die Beklagte habe den Bescheid vom 2. Februar 1948 nicht in der Weise "berichtigen" dürfen, daß sie die Rente auf den im Oktober 1962 erreichten Besitzstand von 174, 60 DM habe "einfrieren" lassen; dies verstoße gegen die Bindungswirkung (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) des Bescheides vom 2. Februar 1948; auch die Rentenanpassungsgesetze enthielten für einen Fall, wie den vorliegenden, keine Vorschrift, die es dem Versicherungsträger gestatteten, bei der Rentenanpassung von einem anderen als dem bindend festgestellten Rentenzahlbetrag auszugehen. Das LSG ließ die Revision zu.

Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein. Sie beantragte,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 4. Februar 1966 und das Urteil des SG Oldenburg vom 25. August 1965 aufzuheben und die Klage (gegen den Bescheid vom 5. April 1965) zurückzuweisen.

Die Beklagte rügte, das LSG habe § 77 SGG und die Vorschriften der Rentenanpassungsgesetze verletzt.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch unbegründet.

Angefochten ist der Bescheid der Beklagten vom 5. April 1965. Mit diesem Bescheid hat es die Beklagte abgelehnt, die Rente des Klägers wegen Berufsunfähigkeit, die ihm durch den Bescheid vom 2. Februar 1948 bewilligt worden ist und die durch Umstellung nach Art. 2 §§ 31 ff des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) und durch Anpassung nach dem 1. bis 4. Anpassungsgesetz (im Oktober 1962) einen monatlichen Zahlbetrag von 174, 60 DM erreicht hat, nach dem 5., 6. und 7. RAG sowie "nach eventuell folgenden Rentenanpassungsgesetzen" zu berechnen. Hierzu hat sich die Beklagte für berechtigt gehalten, weil - wie es in dem Bescheid vom 5. April 1965 heißt - "Berufsunfähigkeit zur Zeit der Rentenbewilligung nicht vorgelegen hat und auch noch nicht eingetreten ist; die Rente wegen Berufsunfähigkeit wird damit ohne materielle Rechtsgrundlage nur weitergewährt, weil formelle Bindung an den Rentenbescheid vom 2. Februar 1948 eingetreten ist; die Bindungswirkung dieses Bescheides beschränkt sich jedoch auf die durch die zwischenzeitlichen Änderungs- und Anpassungsgesetze erreichte Rentenhöhe; von weiteren Rentenerhöhungen ist jedoch die materiell-rechtlich zu Unrecht gewährte Leistung auszuschließen".

Das LSG hat den angefochtenen Bescheid zu Recht als einen rechtswidrigen Verwaltungsakt angesehen; die Beklagte hat den Anspruch des Klägers auf Berechnung seiner Rente nach den Rentenanpassungsgesetzen (5. bis 7. RAG) nicht verneinen dürfen; der Anspruch auf Anpassung der Versichertenrente ist nach den Vorschriften der Rentenanpassungsgesetze begründet.

Zu Unrecht beruft sich die Beklagte auf die Urteile des erkennenden Senats vom 15. Februar 1966 (BSG 24, 236) und vom 28. Juni 1966 (11 RA 50/66). In diesen Urteilen hat der Senat entschieden, daß der Versicherungsträger bei der Anpassung der nach §§ 30 ff AVG berechneten und der nach Art. 2 §§ 31 ff AnVNG umgestellten Renten nach dem 6. und 7. RAG an eindeutig falsch ermittelte Berechnungsfaktoren nicht gebunden ist, vielmehr die falschen durch die richtigen Berechnungsfaktoren ersetzen darf, in jedem Fall, aber mindestens den bisherigen Zahlbetrag der Rente weitergewähren muß. Damit ist zwar gesagt, daß seit dem 4. RAG bei den genannten Renten Berechnungsfehler früherer Bescheide bei der Anpassung mit Wirkung vom Anpassungsjahr korrigiert werden können; wie aber der Senat bereits in dem Urteil vom 15. Februar 1966 hat erkennen lassen, gilt dies nur für die Berechnungsfaktoren, nicht dagegen auch für die Anspruchsvoraussetzungen. Das verdeutlichen gerade die §§ 1 - 4 des 5. RAG und die entsprechenden Vorschriften der späteren Rentenanpassungsgesetze. § 1 gebietet allgemein die Anpassung von "Versichertenrenten"; die Rente des Klägers ist ohne Zweifel eine Versichertenrente. Die folgenden Bestimmungen legen die Art und Weise der Anpassung fest. Sie unterscheiden in der Angestelltenversicherung a) "Renten, die nach §§ 30 ff AVG berechnet sind" (§ 2) und b) "Renten nach Art. 2 §§ 31 - 34 AnVNG" (§ 3) von den "übrigen Renten" (§ 4)". Renten, deren Anspruchsvoraussetzungen fehlen, gehören immer in eine dieser Gruppen (die Rente des Klägers zur Gruppe b oder zur letzten Gruppe). Soweit die §§ 2 - 4 die Art und Weise der Anpassung regeln, spielen dabei die Anspruchsvoraussetzungen der Rente keine Rolle; die §§ 2 - 4 berühren nur die Rentenberechnung, sie bieten keinen Anhalt dafür, daß in ihrem Rahmen die Anspruchsvoraussetzungen der Renten nochmals mit überprüft werden müßten oder könnten. Im Anpassungsverfahren besteht daher allenfalls eine Korrekturmöglichkeit, wenn infolge Anwendung falscher Berechnungsfaktoren die Höhe der Rente unrichtig festgestellt worden ist, die Frage, ob die Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente, für das "Stammrecht" also, (vgl. BSG 5, 4) erfüllt gewesen sind oder nicht und damit die Frage, ob Rente zu Recht oder zu Unrecht bewilligt worden ist, darf dagegen im Anpassungsverfahren nicht gestellt werden. Der Versicherungsträger ist nicht ermächtigt, im Anpassungsverfahren frühere Feststellungen über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu ändern; die Beklagte hat deshalb die Anpassung nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, ihre frühere Feststellung der Berufsunfähigkeit des Klägers sei (von Anfang an) unrichtig gewesen, dem Kläger stehe deshalb überhaupt keine rechtmäßige und anpassungsfähige Rente zu. Die Anpassung besteht in der Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung von Veränderungen der allgemeinen Bemessungsgrundlage nach einem bestimmten Modus; sie gestattet zwar (unter den in den Urteilen des Senats dargelegten Umständen) die Korrektur von Fehlern, die der Rentenberechnung zugrunde gelegen und die Rentenhöhe bestimmt haben; der Anpassung widerspricht es aber, auch die Feststellungen in Frage zu stellen, die den Anspruch auf Rente dem Grunde nach haben berechtigt erscheinen lassen; die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen muß vielmehr im Anpassungsverfahren unberührt bleiben. Der Versicherungsträger kann deshalb die laufende Erhöhung einer zu Unrecht bewilligten Rente nicht unter Berufung auf die Anpassungsgesetze ablehnen, er kann die Rente nicht auf dem bisherigen Zahlbetrag "einfrieren" lassen. Daran ändert nichts, daß die Versicherungsträger im allgemeinen auch keine rechtliche Möglichkeit haben, eine zu Unrecht bewilligte Rente wenigstens für die Zukunft zu entziehen und "Bewilligungsbescheide" insoweit zurückzunehmen. Es ist durchaus zuzugeben, daß dieses Ergebnis unbefriedigend ist; das läßt sich aber solange nicht ändern, als die Frage der Rücknahme von Anfang an fehlerhafter begünstigenden Verwaltungsakte für die Rentenversicherung vom Gesetzgeber nicht befriedigend geregelt ist; das Bundessozialgericht hat hierzu bereits mehrfach Stellung genommen (vgl. besonders BSG 24, 203, 206, 207 mit weiteren Hinweisen und BSG 24, 236, 240). Das LSG hat somit die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 211

MDR 1967, 78

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