Entscheidungsstichwort (Thema)
Reihenfolge der Kinder iS des Kindergeldrechts
Leitsatz (amtlich)
Für die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" des KGG § 34 sind sowohl bei den anspruchsberechtigten Personen (Abs 1) als auch bei den zu berücksichtigenden Kindern (Abs 2) die steuerrechtlichen Vorschriften maßgebend.
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Reihenfolge der Kinder iS des Kindergeldrechts ist das Lebensalter (Geburtsdatum) maßgebend.
2. Im Gegensatz zum bürgerlichen Recht knüpfen die Begriffe des Steuerrechts an die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse (Wohnsitz, Aufenthalt) an; der Willenserklärung kommt dabei nur untergeordnete Bedeutung zu, sie ist unbeachtlich, solange sie zu der tatsächlichen Gestaltung in Widerspruch steht.
Normenkette
KGG § 34 Abs. 2 Fassung: 1961-07-18, Abs. 1 Fassung: 1961-07-18; StAnpG §§ 13-14; BGB § 7
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Oktober 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Kläger beantragte Ende 1959 bei der Familienausgleichskasse (FAK) der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (BG) als Rechtsvorgängerin der Beklagten die Gewährung von Kindergeld. Er hat aus erster Ehe einen Sohn R (geb. 1954), der sich in seinem Haushalt befindet, sowie eine Tochter H (geb. 1956), die sich mit Einwilligung des Klägers (Vereinbarung vom 18. November 1957) bei ihrer Mutter in G aufhält. Die gesetzliche Vertretung und die Sorge für die Person dieser beiden Kinder steht laut Beschluß des Amtsgerichts Bremerhaven vom 13. März 1958 dem Kläger zu. Er hat ferner das aus der ersten Ehe seiner zweiten Frau stammende Kind P St. (geb. 1955) in seinen Haushalt aufgenommen und besitzt ein weiteres eheliches Kind (C, geb. 1961) aus zweiter Ehe. Seine geschiedene Ehefrau hatte wiederholt schriftlich bestätigt, daß sich die Tochter H seit Januar 1958 bei ihr in G befinde und sich auch dauernd bei ihr aufhalten werde. Der Kläger zahlt indessen den Unterhalt für H.
Die FAK hat den Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld für die Tochter H abgelehnt (Bescheid vom 8. März 1960); dieses Kind habe weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937. Deshalb könne es nicht beim Kindergeld berücksichtigt werden. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Seine Klage wurde vom Sozialgericht - SG - (Urteil vom 31. Oktober 1962) abgewiesen.
Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 20. Oktober 1964) zurückgewiesen, nachdem es die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) zum Verfahren beigeladen hatte. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: § 34 Abs. 1 des Kindergeldgesetzes (KGG) verweise für die Auslegung der Begriffe "Wohnsitz" sowie "gewöhnlicher Aufenthalt" ausdrücklich auf steuerrechtliche Vorschriften. Die darin enthaltene Begriffsbestimmung müsse auch für Abs. 2 gelten, weil der Gesetzgeber dort hinsichtlich des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder keine abweichende Regelung getroffen habe. Daher sei hierfür § 13 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) maßgebend; die Tochter H habe also ihren Wohnsitz in G. Da die Bundesregierung keine Ausnahmeregelung für deutsche Staatsangehörige, die in Österreich wohnen oder sich dort ständig aufhalten, nach § 34 Abs. 3 KGG getroffen habe, stehe dem Kläger für die Zeit bis zum 30. Juni 1964 kein Kindergeld für H zu.
Revision wurde zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Oktober 1964 und des SG Bremen vom 31. Oktober 1962 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. März 1960 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Kindergeld für seine Tochter H zu gewähren.
Nach seiner Auffassung ist bei der Auslegung des § 34 Abs. 2 KGG - im Gegensatz zu Abs. 1 dieser Vorschrift - der Wohnsitzbegriff des bürgerlichen Rechts zugrunde zu legen. Die vorinstanzlichen Urteile seien insoweit fehlerhaft und beruhten auf einer unrichtigen Würdigung der Rechtslage.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich im Ergebnis der Begründung des Berufungsurteils an. Bei der Auslegung des Wohnsitzbegriffes in § 34 Abs. 1 und 2 KGG sei kein Unterschied zu machen. Infolgedessen stehe dem Kläger kein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld für H zu.
Die Beigeladene hat ebenfalls beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.
Revisionsbeklagte ist die Verwaltungs-BG als Rechtsnachfolgerin der nach §§ 33 Abs. 2 Satz 1, 47 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG - (BGBl 1964 I 265) mit Ablauf des 30. Juni 1965 aufgelösten FAK. Sie ist nach § 33 Abs. 2 Satz 2 BKGG in deren Rechte und Verbindlichkeiten eingetreten und hat den vorliegenden Rechtsstreit aufgenommen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für sein Kind H Kindergeld zu gewähren ist. Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 8. März 1960, mit dem sie die Gewährung von Kindergeld nach dem KGG abgelehnt hat. Der prozessuale Anspruch des Klägers ist darauf gerichtet, daß ihm Kindergeld für sein Kind H nach dem KGG gezahlt wird. Hierauf allein beziehen sich die Anträge des Klägers in sämtlichen Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit.
Nach § 1 KGG erhalten Kindergeld Arbeitnehmer, Selbständige und mithelfende Familienangehörige, wenn sie drei oder mehr Kinder haben und nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei einer BG versichert sind oder sich versichern können oder nach § 541 Nr. 5 und 6 RVO versicherungsfrei sind. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen, weil er als selbständiger Rechtsanwalt versicherungsfrei (§ 541 Nr. 5 RVO aF) und damit nach § 1 Nr. 2 KGG anspruchsberechtigt ist. Das KGG setzt voraus, daß der Anspruchsberechtigte mindestens drei Kinder hat (§ 4 Abs. 1 KGG). § 2 Abs. 1 KGG bestimmt, welche Kinder im Sinne des Gesetzes zu berücksichtigen sind. Dabei ist nach dem Aufbau des KGG zu unterscheiden zwischen Kindern, die nur mitzählen, den sogenannten "Zählkindern" und solchen, die einen Anspruch auf Kindergeld begründen, den sogenannten "Zahlkindern" (vgl. BSG 25, 291).
Der Kläger, von dem zwei Kinder aus erster Ehe (R und H) und ein Kind aus zweiter Ehe (C) abstammen und der das Kind (P) seiner zweiten Ehefrau als Stiefkind in seinen Haushalt aufgenommen hat, besitzt tatsächlich vier Kinder. Ein Kindergeldanspruch für das Kind H steht ihm jedoch nicht zu. Wie der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 25. November 1966 (BSG 25, 291, 293) ausgeführt hat, ist für die Reihenfolge der Kinder im Sinne des Kindergeldrechts das Lebensalter (Geburtsdatum) maßgebend. Nach dieser Zählweise ist die Tochter H das dritte Kind des Klägers. Damit ist sie als sogenanntes "Zählkind" im Sinne des KGG bei der Feststellung der Gesamtkinderzahl des Klägers zu berücksichtigen. Der Kindergeldanspruch für H wäre aber nur dann begründet, wenn sie auch als "Zahlkind" gelten würde. Das ist indessen nicht der Fall.
Nach § 34 Abs. 2 KGG besteht ein Anspruch auf Kindergeld nicht für Kinder, die weder ihren Wohnsitz noch ihren ständigen Aufenthalt in dem Gebiet des Deutschen Reichs nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 haben. Diese Vorschrift wurde durch § 10 Nr. 10 des Kindergeld-Ergänzungsgesetzes (KGEG) vom 23. Dezember 1955 (BGBl I 841) in das KGG eingefügt. Nach der ursprünglichen Fassung des KGG vom 13. November 1954 (BGBl I 333) erhielten deutsche Staatsangehörige Kindergeld auch für Kinder, die außerhalb des Bundesgebietes lebten. Mit der Neuregelung bezweckte der Gesetzgeber einmal eine Anpassung des deutschen Rechts an das anderer Staaten, die grundsätzlich den Wohnsitz der Kinder innerhalb ihres Staatsgebietes für den Anspruch auf Kindergeld voraussetzen (Territorialitätsprinzip). Zum anderen sollte kein Kindergeld an Personen gezahlt werden, die für ihre im Ausland lebenden Kinder nicht sorgten oder dazu nicht in der Lage waren (BT-Drucks. 1884, II. Wahlp., S. 10; Lauterbach/Wickenhagen, Die Kindergeld-Gesetzgebung, § 34 Anm. 2 KGG).
Die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" sind nach § 34 Abs. 1 KGG nach steuerrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Das ergibt sich aus dem Klammerhinweis in dieser Vorschrift (§ 1 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). § 34 Abs. 2 KGG enthält diesen Hinweis auf das EStG nicht. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß in § 34 Abs. 2 KGG für diese Begriffe, die auch in Abs. 1 der Vorschrift enthalten sind, andere Gesichtspunkte - etwa zivilrechtliche Grundsätze (§§ 7 ff BGB) - maßgebend seien. Eine von Abs. 1 abweichende Anwendung oder Auslegung rechtfertigt sich schon aus gesetzestechnischen Gründen nicht. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die im einleitenden Teil (hier: Abs. 1) einer Vorschrift enthaltene Regelung für deren gesamten Inhalt gilt, sofern der Gesetzgeber nicht ausdrücklich in der Folge etwas Abweichendes bestimmt. Wenn der Gesetzgeber in § 34 Abs. 2 KGG eine von Abs. 1 abweichende Auslegung dieser Begriffe gewollt hätte, so hätte er dies zum Ausdruck bringen können und müssen. Das hat er jedoch weder im KGEG vom 23. Dezember 1955 (BGBl I 841) noch im KGÄndG vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1061), noch im Zweiten Änderungsgesetz zum KGG vom 16. März 1959 (BGBl I 153) und im Kindergeldkassengesetz (KGKG) vom 18. Juli 1961 (BGBl I 1001) getan. Schließlich bezieht sich auch die Ermächtigung zu Ausnahmen in Abs. 3 des § 34 KGG einheitlich auf die vorausgegangenen Vorschriften der Abs. 1 und 2; daraus ist ebenfalls abzuleiten, daß für die Grundbegriffe Unterschiede nicht gewollt sind.
Aus allen diesen Gründen sind die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" in § 34 Abs. 2 KGG - wie das LSG zu Recht annimmt - nicht anders als in Abs. 1 dieser Bestimmung zu verstehen und anzuwenden. Insbesondere kann der Wohnsitzbegriff des bürgerlichen Rechts (§§ 7 ff BGB) hier nicht zur Auslegung herangezogen werden (Bay. OLG, NJW 1958, 1444; LSG Niedersachsen, Breithaupt 1963, 38; Lauterbach/Wickenhagen, § 34 Anm. 8 und 9 KGG; Witting/Meier, Kindergeld-Handbuch, § 34 Anm. 2 und 4 KGG; Rundschreiben des Gesamtverbandes der FAKen vom 18. September 1956, KG-Kartei Nr. 269 zu § 34 Abs. 2 KGG).
Die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" werden zwar nicht in § 1 Abs. 2 EStG unmittelbar erläutert; insoweit ist jedoch auf § 13 und § 14 StAnpG zurückzugreifen, die die steuerrechtlichen Definitionen dieser Begriffe enthalten. Nach § 13 StAnpG hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er seine Wohnung innehat unter Umständen, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen will. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat nach § 14 StAnpG jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Land nicht nur vorübergehend weilt. Im Gegensatz zum bürgerlichen Recht knüpfen damit die Begriffe des Steuerrechts an die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse an. Der Willensrichtung kommt dabei nur untergeordnete Bedeutung zu; sie ist unbeachtlich, solange sie zu der tatsächlichen Gestaltung in Widerspruch steht (Kühn, Abgabenordnung, 7. Aufl., 1963, § 13 Anm. 2 StAnpG; Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 1963, § 13 Anm. 2, § 14 Anm. 2 StAnpG; Lauterbach/Wickenhagen, § 34 Anm. 5 KGG).
Daraus ergibt sich auch, daß ein Minderjähriger einen "Wohnsitz" oder "gewöhnlichen Aufenthalt" (hier: im Sinne der Steuergesetze) begründen oder aufheben kann, ohne daß es auf den Willen des gesetzlichen Vertreters ankommt (Soergel/Siebert, Komm. zum BGB, § 8 Anm. 9; BGH 7, 104, 109 ff). Im vorliegenden Fall indessen hatte der Kläger dem Verbleib der Tochter H bei der Mutter ausdrücklich zugestimmt (Vereinbarung vom 18. November 1957). Demgemäß hat das Kind H seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht beim Kläger, sondern im Sinne des § 34 Abs. 2 KGG in G bei seiner Mutter; dort ist auf längere Dauer der natürliche und räumliche Mittelpunkt seiner gesamten Lebensbeziehungen. Die bürgerlich-rechtliche Vorschrift des § 11 Abs. 1, Satz 1, Halbsatz 2 BGB, wonach das Kind bei verschiedenem Wohnsitz den Wohnsitz des Elternteils teilt, der das Kind in persönlichen Angelegenheiten vertritt, ist hier nicht anwendbar.
§ 34 Abs. 2 KGG verstößt nicht gegen das Grundgesetz - GG - (Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1). Die auf das Territorialprinzip abgestellte Regelung stellt keine Differenzierung dar, die auf unsachlichen (sachfremden) Erwägungen beruht. Soweit die Bundesregierung aufgrund der Ermächtigung nach § 34 Abs. 3 KGG durch Rechtsverordnungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz des § 34 Abs. 2 KGG zugelassen hat, ist dies ebenfalls durch legitime und sachgerechte Unterscheidungsmerkmale gerechtfertigt (vgl. BSG 25, 295, 298).
Da jedoch die Bundesregierung keine Ausnahmeregelung gemäß § 34 Abs. 3 KGG für Kinder, die in Österreich leben, getroffen hat, kann dem Kläger auch insoweit kein Kindergeld nach dem KGG gewährt werden.
Nach alledem stand dem Kläger für sein Kind H aufgrund des KGG für die Zeit bis zum 30. Juni 1964 kein Anspruch auf Kindergeld zu. Die Revision ist deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Nicht zu entscheiden hatte der Senat im vorliegenden Fall darüber, ob dem Kläger etwa vom 1. Juli 1964 an ein Kindergeldanspruch zusteht. Insoweit hatte der Kläger im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt. Er hat den einschlägigen Bescheid der inzwischen nach dem BKGG als Leistungsträger zuständig gewordenen BfArb getrennt angefochten und hierzu gesondert den Klageweg beschritten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen