Leitsatz (amtlich)
1. Auf eine Rente, die nach dem bis zum 1956-12-31 geltenden Recht zu berechnen ist, sind auch nach dem Inkrafttreten des WGSVG die Vorschriften des NVG vom 1949-08-22 - hier NVG § 4 Abs 7 aF - anzuwenden.
2. Die pauschal festgesetzten Bezüge nach BWGöD § 31d lassen nicht erkennen, ob und inwieweit darin die Verfolgungszeiten des Versicherten berücksichtigt worden sind.
Normenkette
NVG § 4 Abs. 7 Fassung: 1949-08-22; BWöDGÄndG 3 § 31d Fassung: 1955-12-23; WGSVGÄndG Art. 4 § 1 Fassung: 1970-12-22, § 5 Fassung: 1970-12-22
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. Oktober 1970 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. November 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob auf die Witwenrente der Klägerin Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung vom 1. Februar 1939 bis zum 31. Dezember 1949 mit Steigerungsbeträgen der Klasse D anzurechnen sind.
Für den im Dezember 1952 verstorbenen Ehemann der Klägerin, der rassisch Verfolgter war, sind mit Unterbrechungen von 1913 bis Januar 1939 Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden, zuletzt für eine Tätigkeit als Hilfskantor und Oberaufseher der jüdischen Gemeinde Breslau von April 1935 bis Januar 1939. Der Versicherte war im Februar 1939 aus Deutschland über Chile nach Israel ausgewandert. Er hatte zuletzt die israelische Staatsangehörigkeit.
Die Klägerin hat vom Bundesverwaltungsamt in Köln Versorgungsbezüge des Versicherten für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 1952 erhalten. Sie bezieht seit Januar 1953 Witwengeld nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes (BWGöD), wobei berücksichtigt ist, daß bei der Tätigkeit des Versicherten als Oberaufseher der jüdischen Gemeinde in Breslau Aussicht auf Ruhegehaltsberechtigung bestand; die letzten anrechenbaren Dienstbezüge sind mit jährlich 4.516,- RM festgesetzt worden; hiervon sind die Versorgungsbezüge mit 80 % und das Witwengeld mit 48 % berechnet worden.
Im Bescheid vom 24. August 1967 hatte die Beklagte die Hinterbliebenenrente seit Januar 1957 bewilligt, jedoch für die verfolgungsbedingte Ersatzzeit von Februar 1939 bis Dezember 1949 keine Steigerungsbeträge angerechnet. Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, einen neuen Witwenrentenbescheid mit der Maßgabe zu erteilen, daß bei der Berechnung der Rente Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung vom 1. Februar 1939 bis zum 31. Dezember 1949 mit Steigerungsbeträgen der Klasse D berücksichtigt werden (Urteil vom 26. November 1968). Das SG hat seine Entscheidung damit begründet, § 4 Abs. 7 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus vom 22. August 1949 (WiGBl. S. 263) - NVG - sehe die Gewährung von Steigerungsbeträgen nur dann nicht vor, wenn die Ersatzzeiten des § 3 Abs. 1 NVG bereits bei der Bemessung beamtenrechtlicher Versorgungsgebührnisse angemessen berücksichtigt seien. Daran fehle es aber. Die der Klägerin gewährten Versorgungsleistungen beruhten auf einer pauschalierten Berechnung, die nicht auf voraussichtliche Verbesserungen der Dienststellung während der Verfolgungszeit und damit verbundene Erhöhung des Einkommens abstelle. Bei dieser Regelung lasse sich nicht feststellen, ob der Versicherte ohne die nationalsozialistische Verfolgung die Versorgungsgebührnisse gar nicht oder nur in geringerer Höhe oder weitaus höher bemessen erhalten hätte. Da aber nicht entschieden werden könne, ob die Ersatzzeiten bei den Versorgungsgebührnissen tatsächlich angemessen berücksichtigt worden seien, müßten für sie auch Steigerungsbeträge gewährt werden. Das SG sah sich in dieser Ansicht durch ein Schreiben des Bundesverwaltungsamts vom 6. Dezember 1966 an die Beklagte bestärkt, worin erklärt war, daß ruhegehaltsfähige Dienstzeiten nach der Verdrängung des Versicherten aus dem jüdischen Dienst bei der Bemessung der Versorgungszahlungen im Falle der Klägerin nicht berücksichtigt worden seien.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 9. Oktober 1970).
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 3, 4 Abs. 1 und Abs. 7 NVG des § 31d BWGöD, des § 4 der DVO zu § 31d BWGöD und der §§ 108, 118 des Bundesbeamtengesetzes (BBG), ferner des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) und der §§ 60 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und 43, 44 der Zivilprozeßordnung (ZPO).
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. Oktober 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. November 1968 zurückzuweisen,
hilfsweise:
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 9. Oktober 1970 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
II
Nachdem die Klägerin nach ihrem auf Anregung des Revisionsgerichts neu gefaßten Revisionsantrag in erster Reihe eine Entscheidung in der Sache selbst begehrt, kann unentschieden bleiben, ob die nunmehr erst hilfsweise vorgebrachten Verfahrensrügen durchgreifen, wenngleich manches dafür spricht, weil es vom LSG unterlassen wurde, die nach § 60 Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 44 Abs. 3 ZPO erforderliche dienstliche Äußerung des wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnten Vorsitzenden des Senats des LSG einzuholen.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat entgegen der Auffassung der Beklagten Anspruch darauf, daß auf ihre Witwenrente Ersatzzeiten wegen nationalsozialistischer Verfolgung vom 1. Februar 1939 bis zum 31. Dezember 1949 mit Steigerungsbeträgen der Klasse D angerechnet werden (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 und 3 NVG; § 17 Abs. 5 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7.8.1953).
Die Vorinstanzen haben auf den Streitfall die Vorschriften des NVG angewendet. Dieses Gesetz ist gemäß Artikel 4 § 5 Abs. 2 Buchstabe b) des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1846) - WGSVG - mit Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Februar 1971 außer Kraft getreten (Artikel 4 § 5 Abs. 1 WGSVG). Da das WGSVG, soweit es hier in Betracht kommt, auch für Versicherungsfälle vor seinem Inkrafttreten gilt (Artikel 4 § 1 Satz 2), es sich hier um einen solchen Versicherungsfall handelt - Tod des Versicherten im Dezember 1952 -, könnte an sich der Schluß naheliegen, das Begehren der Klägerin sei jetzt nach den Vorschriften des WGSVG zu beurteilen. Dem ist indes nicht so. Vielmehr ist hier das frühere Recht des NVG weiter anzuwenden.
Die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG (in der Fassung des AnVNG) gilt nach ständiger Rechtsprechung nur für Rentenansprüche aus nach dem 31. Dezember 1956 eingetretenen Versicherungsfällen (vgl. BSG 9, 92; 10, 151; 16, 38). Ersatzzeiten wegen Verfolgung konnten nach dem zuvor geltenden Recht (§ 31 AVG a.F. iVm § 1263 RVO aF), da eine dem § 28 AVG n.F. entsprechende Regelung fehlte, lediglich nach den Vorschriften der §§ 3 ff. NVG angerechnet werden. Nach Artikel 1 § 11 WGSVG sind für die Berechnung der Renten die Verfolgungszeiten nach den für Ersatzzeiten geltenden allgemeinen Vorschriften zu berücksichtigen, soweit in den folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Die §§ 12 ff. WGSVG ermöglichen nur zum Teil, auf eigene Weise Verfolgten-Ersatzzeiten anzurechnen. §§ 13 Abs. 2 und 14 Abs. 1 des Artikels 1 WGSVG sind nach Artikel 4 § 1 Satz 1 WGSVG sogar ausdrücklich beschränkt auf Versicherungsfälle, die nach dem 1. Februar 1971 eintreten. Da das WGSVG für Versicherungsfälle aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 keine andere Anrechnungsmöglichkeit eröffnet, spricht dies bereits dafür, für derartige Versicherungsfälle auf die Vorschriften des NVG zurückzugreifen.
Eine Betrachtung der Regelungen der §§ 12 ff. des Artikels 1 WGSVG bestätigt dieses Ergebnis. Diese Vorschriften setzen voraus, daß bei der Rentenberechnung die ab 1. Januar 1957 gültige Rentenformel angewendet wird; sie beziehen sich deshalb in der Rentenversicherung der Angestellten auf Versicherungsfälle aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1956 und sind auf frühere Versicherungsfälle unanwendbar (Art. 2 § 6 AnVNG). Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang den Gedanken erwogen, ob eine Mischrechnung in der Weise zugelassen werden könne, daß die Ersatzzeiten dem neuen Recht, die sonstigen Berechnungsfaktoren hingegen dem früheren Recht entnommen werden könnten. Zutreffend hat sie aber diesen Gedanken verworfen. Eine derartige Mischrechnung verbietet sich schon deshalb, weil die frühere und die jetzige Rentenformel ihrem Wesen nach unvereinbar sind. Zudem bestimmt das WGSVG nichts darüber, daß Versicherungsfälle alten und neuen Rechts gleich zu behandeln sind. Nach Artikel 1 § 14 Abs. 2 WGSVG gelten unter den dort aufgeführten Voraussetzungen Beiträge als entrichtet. Bei der Ermittlung "der für den Verfolgten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage" sind die in diesen Zeiten erzielten Arbeitsentgelte oder Einkommen bis zur Höhe der jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze zugrunde zu legen (Satz 2 aaO). Daß diese Vorschrift sich nur auf Versicherungsfälle beziehen kann, die seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, liegt offen zutage; denn der Begriff der "Rentenbemessungsgrundlage" ist nur dem neuen Recht bekannt und gehört zur neuen Rentenformel.
Es ist daher der Beklagten beizustimmen, daß auf die Rente der Klägerin - weil sie wegen des vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfalls nach dem früheren Recht berechnet worden war - die Vorschriften des NVG, insbesondere hier diejenigen des § 4 NVG, weiterhin anzuwenden sind.
Die Beklagte verwahrt sich jedoch zu Unrecht dagegen, gemäß § 4 Abs. 1 NVG für die Ersatzzeiten Steigerungsbeträge nach der Klasse D der Angestelltenversicherung zu leisten. Sie führt für ihre Meinung, dies sei nach § 4 Abs. 7 NVG ausgeschlossen, ins Feld, die Ersatzzeiten seien bereits bei der Bemessung beamtenrechtlicher Versorgungsgebührnisse angemessen berücksichtigt. Sie verkennt dabei aber die Grundlagen, nach denen die der Klägerin als Witwe eines versorgungsberechtigten früheren Bediensteten einer jüdischen Gemeinde vom Bundesverwaltungsamt in Köln gewährten Hinterbliebenenbezüge bemessen sind.
Nach § 31 d BWGöD erhalten die früheren Bediensteten jüdischer Gemeinden, die einen Anspruch auf Versorgung gegenüber ihrem Dienstherrn hatten oder ohne Verfolgung des Judentums erlangt hätten, vom 1. Oktober 1952 an monatliche Versorgungszahlungen aufgrund ihrer früheren Dienstbezüge. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des § 31 d BWGöD (idF vom 2. April 1963 - BGBl. I S. 183 - und der Änderungsverordnung vom 21. Oktober 1965 - BGBl. I S. 1725 -) erhält die Witwe eines nach § 31 d BWGöD Berechtigten 48 vom Hundert des für den letzten Monat an den Bediensteten gezahlten Dienst- oder Arbeitseinkommens. Diese Leistung ist lediglich eine pauschale und wird in allen Fällen - ohne Rücksicht auf die Einzelschicksale - gleichmäßig gewährt. Wegen der Pauschalierung ist nicht zu erkennen, daß und inwieweit Ersatzzeiten und die in § 4 Abs. 4 und 5 NVG bezeichneten besonderen Tatbestände berücksichtigt worden sind. Damit läßt sich - anders als in dem in BSG 20, 293 entschiedenen Fall - nicht feststellen, ob und inwieweit die Verfolgungszeiten des Versicherten bei der Bemessung beamtenrechtlicher Versorgungsgebührnisse "angemessen" berücksichtigt worden sind, wenn auch nicht außer Acht zu lassen ist, daß die Regelung des § 31 d BWGöD dem Gedanken der Wiedergutmachung verpflichtet ist. Die Beklagte kann sich also nicht mit Erfolg auf § 4 Abs. 7 NVG berufen.
Demnach sind die Zeiten der nationalsozialistischen Verfolgung vom 1. Februar 1939 bis 31. Dezember 1949 mit Steigerungsbeträgen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 NVG zu berücksichtigen, und zwar - wie beantragt - nach § 4 Abs. 3 NVG nach der Gehaltsklasse D.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen