Leitsatz (amtlich)

Ein an Kindes Statt angenommenes Kind ist nur dann Vollwaise im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn weder leibliche noch Adoptiveltern leben.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 35 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1269 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29 . Januar 1960 aufgehoben . Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 27 . Mai 1959 wird zurückgewiesen .

Kosten sind nicht zu erstatten .

Von Rechts wegen .

 

Gründe

Der im Jahre 1940 geborene Kläger verlor in demselben Jahre seine Mutter , im Jahre 1944 seinen Vater . Im Jahre 1955 wurde er von der zweiten Frau seines gefallenen Vaters , seiner bisherigen Stiefmutter , an Kindes Statt angenommen .

Der Kläger bezieht seit dem Jahre 1950 Waisenrente aus der Invalidenversicherung seines Vaters . Nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23 . Februar 1957 beantragte er , diese gemäß Art . 2 § 35 dieses Gesetzes vom 1 . Januar 1957 an auf den Betrag von monatlich 50 , - DM umgestellte Waisenrente auf den für Vollwaisen geltenden Monatsbetrag von 75 , - DM zu erhöhen . Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9 . November 1957 ab , da Adoptivkinder , von denen , wie beim Kläger , ein Adoptivelternteil noch lebe , keine Vollwaisen seien . Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hildesheim durch Urteil vom 27 . Mai 1959 abgewiesen . Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen am 29 . Januar 1960 den Bescheid der Beklagten sowie das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt , dem Kläger vom 1 . Januar 1957 an die Waisenrente als Vollwaisenrente zu zahlen .

Das LSG ist der Ansicht , der Begriff "Vollwaise" sei nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen . Nach diesem sei Vollwaise ein Kind , das , wie der Kläger , beide Eltern verloren habe . Daran werde durch ein Adoption nichts geändert . Durch eine solche erlange das Kind zwar nach § 1757 BGB die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes des Annehmenden , es würden jedoch die Rechte und Pflichten , die sich aus dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Kinde und seinen Verwandten ergeben , durch die Annahme an Kindes Statt nicht berührt , soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibe (§ 1764 BGB) . Die Reichsversicherungsordnung kenne keine Ausnahmevorschrift . Daher bleiben die Rechte aus einer Sozialversicherung erhalten . Diese Auffassung habe auch in ständiger Rechtsprechung das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) vertreten (Amtliche Nachrichten des RVA 1918 , 170; Entscheidungen und Mitteilungen des RVA Bd . 51 , 35; 41 , 47) . Auch im Versorgungsrecht und in der Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesbeamtengesetz (BBG) beeinträchtige eine Adoption die ohne Rücksicht auf die Bedürftigkeit festzusetzende Waisenrente bzw . das Waisengeld nicht . Der Kläger sei demnach trotz der Adoption Vollwaise geblieben und habe daher vom 1 . Januar 1957 an Anspruch auf Vollwaisenrente .

Das LSG hat die Revision zugelassen .

Gegen das am 21 . März 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7 . April 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) Revision eingelegt und das Rechtsmittel gleichzeitig begründet . Sie beantragt ,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 29 . Januar 1960 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen;

hilfsweise ,

das angefochtene Urteil dahin abzuändern , daß auf die ab 1 . Januar 1957 zu zahlende Vollwaisenrente die seit diesem Zeitpunkt gezahlte Halbwaisenrente anzurechnen ist .

Sie rügt die Verletzung des § 1269 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und meint , das LSG habe die in dieser Vorschrift enthaltene Bezeichnung "Vollwaise" unrichtig ausgelegt . Sinn und Zweck der Vollwaisenrente in der Arbeiterrentenversicherung sei es , Ersatz dafür zu schaffen , daß ein Kind nach dem Tode seiner Eltern keinen Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern mehr habe . Aus diesem Grunde sei ein Kind , dessen leibliches Elternpaar zwar verstorben sei , das aber noch einen Unterhaltsanspruch gegen seine Adoptivmutter habe , nicht Vollwaise im Sinne der Arbeiterrentenversicherung . Zwar blieben trotz einer Adoption die bisherigen verwandtschaftlichen Rechte und Pflichten grundsätzlich bestehen mit der Folge , daß dem Kinde die Rechte aus der Sozialversicherung seiner leiblichen Eltern erhalten bleiben . Dem sei aber bei dem Kläger bereits durch die Weitergewährung der Halbwaisenrente nach dem gefallenen Vater hinreichend Rechnung getragen . Die anderweitige Regelung des Beamtenrechts berühre den vorliegenden Fall nicht .

Der Kläger beantragt ,

die Revision gegen das Urteil des LSG Niedersachsen vom 29 . Januar 1960 zurückzuweisen .

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint , er sei trotz der Adoption Vollwaise seiner leiblichen Eltern geblieben , weil er durch die Adoption nur als Kind seiner Adoptivmutter "gelte" .

Die Revision ist zulässig und begründet .

§ 1269 Abs . 1 RVO schreibt vor , daß die Waisenrente bei Halbwaisen ein Zehntel , bei Vollwaisen ein Fünftel der Versichertenrente ohne Kinderzuschuß beträgt . In Übergangsfällen , in denen die Waisenrenten bereits vor Inkrafttreten des ArVNG festgestellt waren , sind nach Art . 2 §§ 31 und 35 ArVNG die Renten für Halbwaisen auf den Monatsbetrag von 50 , - DM , für Vollwaisen auf den Monatsbetrag von 75 , - DM umzustellen , und zwar rückwirkend vom 1 . Januar 1957 an , wenn ein entsprechender Antrag im Laufe des Jahres 1957 gestellt wird , wie es hier geschehen ist .

Der hiernach für die Höhe der Waisenrente bedeutungsvolle Begriff Vollwaise ist im Gesetz nicht näher bestimmt . Dies nötigt zu dem Schluß , daß der Gesetzgeber , als er ihn verwendete , von dem allgemeinen Sprachgebrauch ausging . Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter einer Vollwaise ein Kind , das beide Eltern verloren hat (BSG 10 , 189 , 191) , oder ein elternloses Kind , ein Kind ohne Eltern (so Der Große Brockhaus 16 . Aufl , Der Große Herder 5 . Aufl ., und Mackensen , Neues Deutsches Wörterbuch , 1953 , jeweils unter dem Stichwort "Waise") . Dabei hat der allgemeine Sprachgebrauch in erster Linie den Regelfall im Auge , daß ein Kind zwei eheliche Eltern hatte und beide verloren hat . Dieser Fall ist es auch , an den der Gesetzgeber in erster Linie , wenn nicht allein , gedacht haben dürfte . Der allgemeine Sprachgebrauch paßt jedoch nicht ohne weiteres für Fälle , in denen nicht nur zwei , sondern mehrere Personen als "Eltern" in Betracht kommen , insbesondere für einen Fall wie den vorliegenden , in dem ein Kind seine ehelichen Eltern verloren , aber noch eine Adoptivmutter hat .

Um so mehr bedarf es , um zu einer zutreffenden Auslegung zu gelangen , des Eingehens auf den Sinn und Zweck der in Rede stehenden Vorschriften . Dieser ist es , wie die Begründung zum Regierungsentwurf des ArVNG ergibt , den Vollwaisen deshalb eine höhere Waisenrente zu gewähren , weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (Bundestagsdrucksache - 2 . Wahlperiode - 2437 zu § 1273 RVO des Entwurfs) . Hieraus ergibt sich aber , daß an Kindes Statt angenommene Kinder nur dann Vollwaisen sind , wenn weder leibliche Eltern noch Adoptiveltern leben (so auch Brackmann , Handbuch der Sozialversicherung , 6 . Aufl ., S . 706 k) . Denn so lange einer von diesen noch lebt , hat es gegen ihn einen gesetzlichen Anspruch auf Unterhalt , wie aus den §§ 1601 und 1766 BGB hervorgeht . Hiernach ist der Kläger , da seine Adoptivmutter lebt , nicht Vollwaise .

Zu Unrecht hat das LSG zur Begründung seiner abweichenden Auffassung auf § 1764 BGB Bezug genommen . Diese Vorschrift bezieht sich auf die bürgerlichrechtlichen Rechte und Pflichten zwischen dem Kinde und seinen Verwandten , nicht auf die dem öffentlichen Recht angehörenden Rechte des Kindes gegen den Träger der Rentenversicherung . - Auch auf die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts kann das LSG sich nicht berufen . Dessen vom LSG angeführte Entscheidungen befassen sich nicht mit der nur für die Höhe der Waisenrente bedeutungsvollen Unterscheidung zwischen Vollwaisen und Halbwaisen , die erst durch die Neuregelungsgesetze des Jahres 1957 in die gesetzlichen Rentenversicherungen eingeführt worden ist , sondern mit der Frage , ob der Anspruch auf Waisenrente durch die Annahme des Berechtigten an Kindes Statt erlischt . Diese Frage , die das Reichsversicherungsamt verneint hat , ist nicht Gegenstand des gegenwärtigen Rechtsstreits .

Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Falle auch , ob eine Waise , die einen Anspruch auf Waisenrente in der für Vollwaisen geltenden Höhe erworben hat und nun an Kindes Statt angenommen wird , vom Zeitpunkt der Annahme an nur noch ein Recht auf die Rente als Halbwaise hat (so Brackmann aaO) . Allein mit dieser hier nicht wesentlichen Frage des Einflusses der Annahme an Kindes Statt auf bereits bestehende Ansprüche von Waisen befassen sich aber § 127 Abs . 3 des BBG und die versorgungsrechtliche Regelung , auf die das LSG hingewiesen hat .

Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen .

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .

 

Fundstellen

BSGE, 110

NJW 1962, 1174

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