Entscheidungsstichwort (Thema)
An Kindes Statt angenommene Kinder als Vollwaisen
Leitsatz (amtlich)
Die Klägerin ist, da ihre leibliche Mutter noch lebt, nicht Vollwaise.
Normenkette
RVO § 1269 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12 . Oktober 1960 aufgehoben .
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 30 . April 1958 wird zurückgewiesen .
Kosten sind nicht zu erstatten .
Von Rechts wegen .
Gründe
Die im Jahre 1940 geborene Klägerin , deren leibliche Mutter noch lebt und deren unehelicher Vater nicht festgestellt ist , wurde im Jahre 1950 von ihrer Pflegemutter , der Witwe M ... geborenen ..., an Kindes Statt angenommen . Im Jahre 1952 starb die Adoptivmutter . Aus deren Arbeiterrentenversicherung bezog die Klägerin vom Jahre 1955 bis Ende März 1960 Waisenrente . Nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23 . Februar 1957 beantragte sie , diese gemäß Art . 2 § 35 ArVNG vom 1 . Januar 1957 an auf den Betrag von monatlich 50 , - DM umgestellte Waisenrente auf den für Vollwaisen geltenden Monatsbetrag von 75 , - DM zu erhöhen . Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25 . Juli 1957 mit der Begründung ab , der Klägerin stehe Vollwaisenrente nicht zu , weil ihre leibliche Mutter noch lebe . Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 30 . April 1958 abgewiesen . Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) am 12 . Oktober 1960 den Bescheid der Beklagten und das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt , der Klägerin für die Zeit vom 1 . Januar 1957 bis zum 31 . März 1960 die Vollwaisenrente zu gewähren .
Das LSG ist der Ansicht , nach § 1262 Abs . 2 Nr . 4 in Verbindung mit § 1267 Abs . 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gälten als Kinder im Sinne des Waisenrentenrechts die an Kindes Statt angenommenen Kinder . Das bedeute umgekehrt , daß als "Eltern" dieser Kinder die Adoptiveltern gälten . Die leiblichen Eltern schieden bei der Prüfung der Frage , wann und in welcher Höhe einem angenommenen Kind Waisenrente aus der Versicherung der Adoptiveltern zustehe , aus . Eine Einschränkung dahin , daß einem angenommenen Kinde die Waisenrente aus der Versicherung der verstorbenen Adoptiveltern dann nicht zustehe , wenn die leiblichen Eltern noch leben , oder nur die Halbwaisenrente zustehe , wenn ein Teil der leiblichen Eltern noch lebt , kenne die RVO nicht . Da die Klägerin nach dem Tode der Adoptivmutter keine Adoptiveltern mehr gehabt habe , sei sie daher Vollwaise im Sinne des Gesetzes , so daß ihr die Vollwaisenrente aus der Versicherung der Adoptivmutter zugestanden habe .
Das LSG hat die Revision zugelassen .
Gegen das ihr am 19 . November 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13 . Dezember 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) Revision eingelegt und das Rechtsmittel nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 20 . Februar 1961 durch einen am 18 . Februar 1961 beim BSG eingegangenen Schriftsatz begründet . Sie beantragt ,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz in Mainz vom 12 . Oktober 1960 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 25 . Juli 1957 abzuweisen .
Sie rügt die Verletzung der §§ 1267 , 1269 RVO und meint , die Klägerin könne nicht als Vollwaise angesehen werden , weil ihre leibliche Mutter noch lebe . Ihr gegenüber habe die Klägerin nach dem Tode der Adoptivmutter wieder gesetzliche Unterhaltsansprüche gehabt . Die Waisenrente solle nur zum Ersatz von Unterhaltsansprüchen dienen , die durch den Tod weggefallen seien . Aus diesem Zweck der Waisenrente folge , daß eine Waise nur dann als Vollwaise angesehen werden könne , wenn keine unterhaltspflichtigen Personen mehr leben .
Die Klägerin beantragt ,
die Revision zurückzuweisen .
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint , gesetzliche Unterhaltsansprüche gegen die leiblichen Eltern müßten bei der Beurteilung der Waisenrente aus der Versicherung der Adoptiveltern außer Betracht bleiben .
Die Revision ist zulässig und begründet .
Die durch die Einstellung der Waisenrente während des Berufungsverfahrens eingetretene Beschränkung des Rechtsanspruchs hatte keinen Einfluß auf die Zulässigkeit der Berufung . Für die Beurteilung der Frage , ob die Berufung einen unbeschränkten Rentenanspruch betrifft , ist der Zeitpunkt ihrer Einlegung maßgebend , während spätere Veränderungen des Streitgegenstandes - soweit sie nicht auf einer willkürlichen Beschränkung durch den Rechtsmittelkläger beruhen - außer Betracht zu bleiben haben (BSG in SozR SGG § 146 Bl . Da 3 Nr . 6) . Die demnach zulässige Berufung gegen das die Klage abweisende Urteil des SG hätte jedoch keinen Erfolg haben dürfen . Daher war die Revision begründet .
§ 1269 Abs . 1 RVO schreibt vor , daß die Waisenrente bei Halbwaisen ein Zehntel , bei Vollwaisen ein Fünftel der Versichertenrente ohne Kinderzuschuß beträgt . In Übergangsfällen , in denen die Waisenrenten bereits vor Inkrafttreten des ArVNG festgestellt waren , sind nach Art . 2 §§ 31 , 35 ArVNG die Renten für Halbwaisen auf den Monatsbetrag von 50 , - DM , für Vollwaisen auf den Monatsbetrag von 75 , - DM umzustellen , und zwar rückwirkend vom 1 . Januar 1957 an , wenn ein entsprechender Antrag im Laufe des Jahres 1957 gestellt wird , wie es hier geschehen ist .
Der hiernach für die Höhe der Waisenrente bedeutungsvolle Begriff der Vollwaise ist im Gesetz nicht näher bestimmt . Dies nötigt zu dem Schluß , daß der Gesetzgeber , als er ihn verwendete , von dem allgemeinen Sprachgebrauch ausging . Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter einer Vollwaise ein Kind , das beide Eltern verloren hat (BSG 10 , 189 , 191) , oder ein elternloses Kind , ein Kind ohne Eltern (so der Große Brockhaus , 16 . Aufl ., Der Große Herder , 5 . Aufl ., und Mackensen , Neues Deutsches Wörterbuch , 1953 , jeweils unter dem Stichwort "Waise") . Dabei hat der allgemeine Sprachgebrauch in erster Linie den Regelfall im Auge , daß ein Kind zwei eheliche Eltern hatte und beide verloren hat . Dieser Fall ist es auch , an den der Gesetzgeber in erster Linie , wenn nicht allein , gedacht haben dürfte . Der allgemeine Sprachgebrauch paßt jedoch nicht ohne weiteres für einen Fall wie den vorliegenden , in dem ein Kind die Person verloren hat , von der es an Kindes Statt angenommen worden war , jedoch noch seine leibliche Mutter hat und seinen unehelichen Vater nicht kennt .
Um so mehr bedarf es , um zu einer zutreffenden Auslegung zu gelangen , des Eingehens auf Sinn und Zweck der in Rede stehenden Vorschriften . Dieser ist es , wie die Begründung zum Regierungsentwurf des ArVNG ergibt , den Vollwaisen deshalb eine höhere Waisenrente zu gewähren , weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (Bundestagsdrucksache - 2 . Wahlperiode - 2437 zu § 1273 RVO des Entwurfs) . Hieraus folgt aber , daß an Kindes Statt angenommene Kinder nur dann Vollwaisen sind , wenn weder leibliche Eltern noch Adoptiveltern leben (so auch Brackmann , Handbuch der Sozialversicherung , 6 . Aufl ., S . 706 k) . Denn so lange einer von diesen noch lebt , hat es gegen ihn einen gesetzlichen Anspruch auf Unterhalt , wie aus den §§ 1601 und 1766 BGB hervorgeht . Da der Gesetzgeber die Vollwaiseneigenschaft vom Nichtbestehen , nicht schon der Nichtdurchsetzbarkeit dieser gesetzlichen Unterhaltsansprüche abhängig gemacht hat , war die Klägerin , die gegen ihre noch lebende leibliche Mutter einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch hatte , nicht Vollwaise . Die Frage , ob ein Kind , das von nur einer Person an Kindes Statt angenommen worden war , aus deren Versicherung überhaupt einen Anspruch auf Vollwaisenrente zu erlangen vermag oder ob hierfür grundsätzlich ein Elternpaar erforderlich ist , kann unter diesen Ums Länden dahingestellt bleiben .
Demnach war das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen .
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .
Fundstellen