Entscheidungsstichwort (Thema)
An Kindes Statt angenommene Kinder als Vollwaisen
Leitsatz (amtlich)
Die Klägerin ist, da ihre leibliche Mutter noch lebt, nicht Vollwaise.
Normenkette
RVO § 1269 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28 . Mai 1959 wird zurückgewiesen .
Kosten sind nicht zu erstatten .
Von Rechts wegen
Gründe
Die im Jahre 1943 ehelich geborene Klägerin bezieht seit dem Jahre 1948 Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres im Jahre 1946 gestorbenen Vaters . Durch einen im Jahre 1949 abgeschlossenen , später vormundschaftsgerichtlich genehmigten und gerichtlich bestätigten Vertrag wurde sie von ihrer Pflegemutter , der Witwe M .... K ... geb . R .... an Kindes Statt angenommen . Diese ist im Jahre 1951 gestorben . Die leibliche Mutter der Klägerin lebt noch .
Nach Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23 . Februar 1957 beantragte die Klägerin , gemäß Art . 2 § 35 ArVNG die ihr gewährte und vom 1 . Januar 1957 an als Halbwaisenrente auf 50 ,-- DM monatlich umgestellte Rente auf eine Vollwaisenrente von 75 , -- DM monatlich zu erhöhen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25 . Juni 1957 ab , weil die Klägerin trotz des Todes ihres leiblichen Vaters und ihrer Adoptivmutter noch keine Vollwaise sei , da ihre leibliche Mutter noch lebe . Das Sozialgericht (SG) Berlin hat dagegen am 29 . Oktober 1958 den Bescheid vom 25 . Juni 1957 aufgehoben und die Beklagte verurteilt , der Klägerin vom 1 . Januar 1957 an die sich aus dem Gesetz ergebende Vollwaisenrente zu gewähren , weil jemand stets dann Vollwaise sei , wenn er zwei Elternteile verloren habe , auch wenn es sich dabei um einen leiblichen und einen Adoptiv-Elternteil handle . Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen . Das Berufungsgericht ist der Ansicht , die Waisenrente habe die Aufgabe , den durch den Tod des Versicherten wegfallenden Unterhalt zu ersetzen. Die höhere Vollwaisenrente solle dazu dienen , den Wegfall des Unterhaltsanspruchs gegen den zuletzt versterbenden Elternteil auszugleichen . Im Falle der Adoption bleibe jedoch die Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern bestehen , wenn sie auch der des Annehmenden bis zu dessen Tode im Range nachgehe . Das Gesetz gebe der Klägerin somit einen Unterhaltsanspruch gegen ihre leibliche Mutter ohne Rücksicht darauf , ob sie diesen Anspruch mit Rücksicht auf die ihr von ihrer verstorbenen Adoptivmutter zugefallenen Erbschaft nicht durchsetzen wolle oder auch nicht durchsetzen könne . Wegen des theoretisch bestehenden Unterhaltsanspruchs gegen ihre leibliche Mutter könne die Klägerin nicht als Vollwaise im Sinne der Arbeiterrentenversicherung angesehen werden .
Das LSG hat die Revision zugelassen .
Gegen das ihr am 10 . Juli 1959 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17 . Juli 1959 Revision eingelegt und das Rechtsmittel gleichseitig begründet . Sie beantragt ,
die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils zu verurteilen , ihr vom 1 . Januar 1957 an eine Vollwaisenrente in Höhe von monatlich 75 , -- DM zu Händen ihres Vormundes zu zahlen .
Sie rügt die Verletzung der §§ 1263 Abs . 1 und 2 , 1267 , 1262 Abs . 2 Nr . 4 , 1269 Abs . 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie der §§ 1741 , 1751 , 1753 , 1757 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) . Das angefochtene Urteil werde ihrer Stellung als Adoptivkind nicht gerecht . Ein solches habe die Stellung eines ehelichen Kindes . Es müsse deshalb immer dann als Vollwaise gelten , wenn die Adoptiveltern verstorben sind , ohne Rücksicht darauf , ob die leiblichen Eltern noch leben . Da es ihr nach dem Testament ihrer Adoptivmutter überdies nicht erlaubt sei , mit ihrer leiblichen Mutter in Verbindung zu treten , dürfe ihr die Vollwaisenrente nicht deshalb versagt werden , weil ihre leibliche Mutter noch lebe , zumal diese auch nicht fähig sei , Unterhalt zu gewähren .
Die Beklagte beantragt ,
die Revision zurückzuweisen .
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend .
Die Revision ist zulässig , aber nicht begründet .
§ 1269 Abs . 1 RVO schreibt vor , daß die Waisenrente bei Halbwaisen ein Zehntel , bei Vollwaisen ein Fünftel der Versichertenrente ohne Kinderzuschuß beträgt . In Übergangsfällen , in denen die Waisenrenten bereits vor Inkrafttreten des ArVNG festgestellt waren , sind nach Art . 2 §§ 31 und 35 ArVNG die Renten für Halbwaisen mindestens auf den Monatsbetrag von 50 ,-- DM , für Vollwaisen mindestens auf den Monatsbetrag von 75 ,-- DM umzustellen , und zwar rückwirkend vom 1 . Januar 1957 an , wenn ein entsprechender Antrag im Laufe des Jahres 1957 gestellt wird , wie es hier geschehen ist .
Der hiernach für die Höhe der Waisenrente bedeutungsvolle Begriff der Vollwaise ist im Gesetz nicht näher bestimmt . Dies nötigt zu dem Schluß , daß der Gesetzgeber , als er ihn verwendete , von dem allgemeinen Sprachgebrauch ausging . Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter einer Vollwaise ein Kind , das beide Eltern verloren hat (BSG 10 , 189 , 191) , oder ein elternloses Kind , ein Kind ohne Eltern (so Der Große Brockhaus , 16 . Aufl ., Der Große Herder , 5 . Aufl ., und Mackensen , Neues Deutsches Wörterbuch , 1953 , jeweils unter dem Stichwort "Waise") . Dabei hat der allgemeine Sprachgebrauch in erster Linie den Regelfall im Auge , daß ein Kind zwei eheliche Eltern hatte und beide verloren hat , ohne daß an ihre Stelle andere Personen getreten sind , die als "Eltern" in Betracht kommen . Dieser Fall ist es auch , an den der Gesetzgeber in erster Linie , wenn nicht , allein , gedacht haben dürfte . Der allgemeine Sprachgebrauch paßt jedoch nicht ohne weiteres für Fälle , in denen nicht nur zwei , sondern mehrere Personen als "Eltern" in Betracht kommen , insbesondere für einen Fall wie den vorliegenden , in dem ein eheliches Kind an Kindes Statt angenommen worden ist und den Annehmenden und seinen ehelichen Vater verloren hat , während die leibliche Mutter noch lebt .
Umso mehr bedarf es , um zu einer zutreffenden Auslegung zu gelangen , des Eingehens auf den Sinn und Zweck der in Rede stehenden Vorschriften . Dieser ist es , wie die Begründung zum Regierungsentwurf des ArVNG ergibt , den Vollwaisen deshalb eine höhere Waisenrente zu gewähren , weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (Bundestagsdrucksache - 2 . Wahlperiode - 2437 zu § 1273 RVO des Entwurfs) . Hieraus folgt aber , daß an Kindes Statt angenommene Kinder nur dann Vollwaisen sind , wenn weder die leiblichen Eltern noch die Adoptiveltern leben (so auch Brackmann , Handbuch der Sozialversicherung , 6 . Aufl ., S . 706 k) . Denn so lange einer von diesen noch lebt , hat es gegen ihn einen gesetzlichen Anspruch auf Unterhalt , wie sich aus den §§ 1601 und 1766 BGB ergibt . Hiernach ist die Klägerin , da ihre leibliche Mutter noch lebt , nicht Vollwaise . Darauf , ob diese zu einer Unterhaltsgewährung in der Lage ist , kommt es nach dem Gesetz nicht an , ebensowenig darauf , ob etwa sonstige Gründe vorliegen , aus denen die Klägerin keine Unterhaltsansprüche gegen ihre Mutter erheben will . Solche Umstände sind bedeutungslos dafür , ob jemand Voll- oder Halbwaise ist , da die Waisenrenten ihrem Wesen nach nur Ersatz für den durch den Tod des Ernährers wegfallenden Unterhalt sind , nicht aber Ersatz für einen aus irgendeinem anderen Grunde weggefallenen Unterhalt sein sollen (BSG SozR § 1269 RVO Bl . Aa . 3 Nr . 2) .
Damit mußte die Revision zurückgewiesen werden .
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG .
Fundstellen