Leitsatz (amtlich)
Bei einem Übergangsfall nach SGG § 215 Abs 8 ist nur nach den Vorschriften des SGG zu beurteilen, ob die Berufung statthaft ist. Sie ist auch dann statthaft, wenn die angefochtene Entscheidung des Oberversicherungsamtes nach den Verfahrensvorschriften der RVO endgültig war.
Normenkette
SGG § 215 Abs. 8 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 30. September 1955 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 16. Dezember 1947 eine Dauerrente in Höhe von 30 v. H. der Vollrente. Auf Grund eines Gutachtens der Universitätsklinik für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten in Göttingen vom 28. November 1952 entzog die Beklagte durch Bescheid vom 29. Dezember 1952 diese Dauerrente mit Wirkung von Ende Januar 1953 mit der Begründung, nach dem erwähnten ärztlichen Gutachten sei eine derart wesentliche Besserung eingetreten, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur noch 10 v. H. betrage. Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid ist vom Oberversicherungsamt Hannover durch Urteil vom 13. Mai 1953 als unbegründet zurückgewiesen worden.
Gegen das Urteil des Oberversicherungsamts hat der Kläger (weitere) Berufung zum Oberverwaltungsgericht in Lüneburg eingelegt. Von dort ist die Sache nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht Celle übergegangen. Dieses hat durch Urteil vom 30. September 1955 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Oberversicherungsamts als unzulässig verworfen. Das Landessozialgericht steht auf dem Standpunkt, daß auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes nur solche Rechtsmittel als zulässig übergegangen seien, die nach dem alten Verfahrensrecht zulässig waren. Es ist der Auffassung, daß im vorliegenden Falle nach dem Verfahrensrecht der Reichsversicherungsordnung (RVO) der Rekurs durch § 1700 Nr. 8 RVO ausgeschlossen gewesen sei.
Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Gegen das Urteil des Landessozialgerichts, das am 15. Oktober 1955 zugestellt worden ist, hat der Kläger mit Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 27. Oktober 1955 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 2. November 1955) Revision eingelegt. Er beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Oberversicherungsamts Hannover vom 13. Mai 1953 sowie des angefochtenen Urteils vom 30. September 1955 des Landessozialgerichts Celle die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger ist der Auffassung, daß es für die Zulässigkeit der Berufung in den nach § 215 Abs. 8 SGG auf die Landessozialgerichte übergegangenen Sachen ohne Bedeutung sei, ob gegen das angefochtene Urteil des Oberversicherungsamts der Rekurs nach den Vorschriften der RVO zulässig war.
Die Beklagte beantragt,
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).
Die Revision ist auch begründet.
Beim Inkrafttreten des SGG war die Sache noch beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg, einem allgemeinen Verwaltungsgericht des zweiten Rechtszuges, rechtshängig; da es sich zweifellos um eine Angelegenheit des § 51 SGG handelt, ist sie infolgedessen nach § 215 Abs. 8 SGG als Berufung auf das Landessozialgericht übergegangen, ohne daß es darauf ankommt, ob der Rechtsweg zum Oberverwaltungsgericht statthaft war (vgl. BSG. 1 S. 82, insbes. S. 88 und BSG. in SozR. SGG § 215 Bl. Da 6 Nr. 23).
Für die Statthaftigkeit der Berufung ist es - entgegen der von der Revision mit Recht gerügten Auffassung des Landessozialgerichts - bedeutungslos, daß nach dem Verfahrensrecht der Reichsversicherungsordnung (§ 1700 Nr. 8 RVO) der Rekurs gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Hannover ausgeschlossen war. Die Anfechtung der vor dem Inkrafttreten des SGG ergangenen Urteile der Oberversicherungsämter außerhalb des Landes Bayern und des ehemaligen Landes Württemberg-Baden und die Weiterverfolgung der gegen solche Urteile nach dem Verfahrensrecht der RVO eingelegten Rechtsmittel sind vom Gesetzgeber nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 214 SGG zugelassen worden. Wie aus den 2. Halbsätzen der Absätze 7 bis 9 des § 215 SGG hervorgeht, hat der Gesetzgeber jedoch die Überleitung der Fälle, in denen vor dem Inkrafttreten des SGG durch Anrufung der Verwaltungsgerichte ein neuer Rechtszug eröffnet worden war, nicht in gleicher Weise beschränkt. Dieser Regelung liegt die Erwägung zu Grunde, daß in diesen Fällen ein gleichwertiger Rechtszug eröffnet und damit eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Rechtslage vermieden werden sollte. Deshalb richtet sich die Zulässigkeit der Berufung im Falle des § 215 Abs. 8 SGG nur nach den Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG (vgl. das zu einem Fall des § 215 Abs. 7 SGG ergangene Urteil des BSG. in BSG. 1 S. 283; vgl. auch BSG. 1 S. 82 (87), 239 (241), 2 S. 225 (228), SozR. SGG § 215 Bl. Da 6 Nr. 23).
Hiernach ist im vorliegenden Falle die Berufung nicht ausgeschlossen. Es handelt sich zwar um eine Neufestsetzung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, jedoch hängt es von der Entscheidung ab, ob überhaupt eine Rente zu gewähren ist (vgl. § 145 Nr. 4 SGG).
Die Berufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt. Hierfür ist das zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels geltende Verfahrensrecht maßgebend (vgl. BSG. 1 S. 233 und BSG. in SozR. SGG § 215 Bl. Da 6 Nr. 23).
Die von der Beklagten in dieser Beziehung vorgebrachten Bedenken sind unbegründet. Das Urteil ist zwar der Beklagten schon am 27. Mai 1953 zugegangen, dem Kläger ist es jedoch, wie sich aus der Postzustellungsurkunde Bl. 59 der Akten des Landessozialgerichts ergibt, erst am 17. Juni 1953 zugestellt worden. Nach § 83 der Militärregierungsverordnung 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone war die Berufung innerhalb eines Monats nach der Zustellung des Urteils schriftlich (oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle) bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten wird, im vorliegenden Falle also beim Oberversicherungsamt Hannover. Dort ist der Schriftsatz vom 1. Juli 1953, mit dem der Kläger die Berufung eingelegt hat, am 2. Juli 1953, also rechtzeitig, eingegangen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Hannover war somit zulässig. Das Landessozialgericht hat sie zu Unrecht als unzulässig verworfen. Es hätte in eine sachliche Prüfung eintreten und eine Sachentscheidung treffen müssen.
Da eine Entscheidung in der Sache selbst durch das Bundessozialgericht nicht möglich ist, mußte das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen