Leitsatz (amtlich)
1. Im Steinkohlenbergbau der Ruhr ist die Tätigkeit eines Pförtners derjenigen eines Pferdeführers - Schleppers im Schichtlohn - im wesentlichen gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig.
2. Gegenüber einer vom Versicherungsträger verspätet durchgeführten Rentenentziehung greift der Einwand der Verwirkung des Rechts auf Entziehung jedenfalls dann nicht durch, wenn dem Versicherten durch die Entziehung kein darüber hinausgehender irgendwie gearteter zusätzlicher Nachteil erwächst.
Normenkette
RKG § 35 Fassung: 1942-10-04, § 54; RVO § 1293; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 14. Dezember 1954 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I. Der 1903 geborene, seit 1921 im Bergbau beschäftigte Kläger hat im Dezember 1924 auf der Zeche S als Pferdetreiber - Schlepper in Schichtlohn - durch einen Arbeitsunfall sein rechtes Bein unterhalb des Kniegelenks verloren. Seit dem Jahre 1926 bezieht er für die Unfallfolgen eine Rente in Höhe von 50 v. H. von der Bergbauberufsgenossenschaft. Die Beklagte gewährte ihm aus demselben Grunde vom 20. Mai 1925 an die Invalidenpension (später Knappschaftsrente).
Da die Akten der Beklagten über den Kläger im Krieg verloren gegangen sind, lassen sich aus den jetzt noch vorhandenen Unterlagen Einzelheiten über die Rentenbewilligung und etwaige Überprüfungen der Rentengewährung bis zum Jahre 1945 nicht entnehmen. Der Kläger hat jedenfalls einige Zeit nach dem Unfall die Arbeit auf der Zeche S wieder aufgenommen und ist dort seit langen Jahren als Pförtner tätig; für ihn wurden laufend weiter Beiträge an die Beklagte entrichtet.
II. Anfang 1953 überprüfte die Beklagte die Tätigkeit und den gesundheitlichen Zustand des Klägers; unter Berufung auf das Ergebnis dieser Feststellungen entzog sie dem Kläger alsdann die Knappschaftsrente mit Wirkung vom 30. Juni 1953, da er seit dem 22. Oktober 1928 als Bergeklauber und Pförtner tätig sei und damit bewiesen habe, daß er zur Verrichtung von Arbeiten in der Lage sei, die seiner früheren Tätigkeit als Schlepper im Schichtlohn im wesentlichen gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig seien.
Das Sozialgericht (SG.) Dortmund, auf das die durch den Kläger bei dem Knappschaftsoberversicherungsamt D eingelegte Berufung nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, verurteilte die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente. Es teilte zwar die Auffassung der Beklagten, der Kläger sei nicht mehr als berufsunfähig anzusehen, vertrat jedoch die Ansicht, die Beklagte habe ihr Recht, dem Kläger die Rente zu entziehen, dadurch verwirkt, daß sie davon annähernd 20 Jahre lang keinen Gebrauch gemacht habe; diese Verwirkung sei spätestens 1935, 7 Jahre nach Aufnahme der Pförtnertätigkeit, eingetreten.
III. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG.) in Essen durch Urteil vom 14. Dezember 1954 das Urteil des SG. in Dortmund auf und stellte den Entziehungsbescheid der Beklagten unter Abweisung der Klage wieder her. In seinem Urteil stellt es anhand der von ihm herbeigezogenen Unfallakten zunächst fest, daß der Kläger in den Jahren 1931 bis 1942 mehrfach an Unfallfolgen krank gefeiert und zweimal eine längere Krankenhausbehandlung erfahren habe; es stellt ferner, abweichend von der Vorinstanz, fest, daß der Kläger noch bis zum Oktober 1939 als Bergeklauber und erst anschließend als Pförtner beschäftigt gewesen sei. Hieraus folgert es, bereits die Auffassung des SG., die Rente hätte spätestens 1935 entzogen werden müssen, sei nicht bedenkenfrei, da der Kläger überhaupt erst 11 Jahre nach dem vom SG. angenommenen Zeitpunkt die Tätigkeit eines Bergeklaubers mit der weniger anstrengenden Arbeit eines Pförtners vertauscht habe und jedenfalls bis 1942 Zweifel an einer Besserung hätten bestehen können.
Das LSG. hält es jedoch, wie auch das SG., für unzweifelhaft, daß bei dem Kläger im Zeitpunkt der Rentenentziehung eine wesentliche Änderung gegenüber dem Zeitpunkt der Rentengewährung vorgelegen habe; diese Feststellung werde durch die ärztliche Stellungnahme und durch die Tatsache der langjährigen, eine Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen bestätigenden Ausübung der Pförtnertätigkeit sowie dadurch nachgewiesen, daß der Kläger nach den getroffenen Feststellungen in den letzten Jahren nicht mehr wegen der Unfallfolgen krank gefeiert habe.
Das LSG. betont sodann, daß den Belangen des Rentenempfängers der eine längst entziehbare Rente etwa infolge einer Säumnis des Versicherungsträgers noch weiter erhalten hat, bereits dadurch Rechnung getragen werde, daß der Entziehungsbescheid erst mit Ablauf des Zustellungsmonats wirksam werde. Der Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben sei zwar dem Recht der Sozialversicherung nicht fremd, doch liege dem vorliegenden Fall kein Sachverhalt zugrunde, bei dem die Gesetzesanwendung (§ 1293 Abs. 1 RVO) zu einem ganz unerträglichen Ergebnis führen würde. Der Kläger habe durch die jahrelange ununterbrochene Verrichtung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit trotz Rentenbezug seine spätere Altersversorgung infolge Entrichtung weiterer Beiträge zur Sozialversicherung verbessern können. Der notwendige Lebensunterhalt sei durch das Einkommen aus der ihm zumutbaren Pförtnertätigkeit gesichert. Auch von einer Unbilligkeit der Rentenentziehung könne daher nicht gesprochen werden.
Schließlich sei die Rentenentziehung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung unzulässig. Für die Anwendung des Verwirkungsgedankens sei im Rentenrecht der Sozialversicherung kein Raum, weil es nicht in das Belieben des Versicherungsträgers gestellt sei, ob und wann er eine Rente gewähren, entziehen oder belassen wolle. Die Vorschrift des § 1293 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) verfolge einen auf die Wahrung öffentlich-rechtlicher Belange gerichteten Zweck, der durch die Zulassung des Verwirkungseinwands vereitelt würde.
Das LSG. hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen.
IV. Mit seiner am 10. Februar 1955 gegen das Urteil eingelegten und am 28. Februar 1955 begründeten Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung einer Reihe materiell-rechtlicher Vorschriften.
Einmal vertritt er die Auffassung, daß nach der Aufhebung der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 13 die Rechtsprechung von 1939 und damit die Grundsätzliche Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA.) Nr. 4274 (AN. 39 S. 130) bedeutungslos geworden sei; er könne seinen Hauptberuf nicht mehr ausüben und sei somit nach den Grundsätzlichen Entscheidungen des RVA. Nr. 5415 (AN. 41 S. 121) und Nr. 5421 (AN. 41 S. 153) berufsunfähig. Das LSG. habe daher den § 54 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) in Verbindung mit § 1293 Abs. 1 RVO verletzt.
Weiter macht er geltend, sein Anspruch auf Zahlung der Knappschaftsrente sei nunmehr auch gewohnheitsrechtlich begründet. In der nicht rechtzeitigen Entziehung, die nur bis zum 31. Dezember 1939 nach § 1293 Abs. 2 RVO und vom 26. Januar 1946 bis zum 31. Mai 1949 nach der SVD 13 zulässig gewesen sei, liege ein Verzicht der Beklagten auf die Entziehung, der sie zur Weiterzahlung zwinge. Schließlich liege eine Verletzung des dem Sinn des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zugrundeliegenden Gedankens vor, der auch im Sozialversicherungsrecht anzuwenden sei. Die Entziehung stelle eine unzulässige Rechtsausübung dar; das Recht auf die Entziehung sei nach über 20 Jahren - falls man davon ausgehe, daß der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei, müsse diese lange Zeitspanne zugrundegelegt werden - verwirkt.
Demgegenüber bestreitet die Beklagte, daß der Kläger noch als berufsunfähig anzusehen sei. Die Verwirkung sei vom LSG. zu Recht abgelehnt worden. Die Entziehung sei bei Vorliegen eines entsprechenden Tatbestandes gesetzlich zwingend vorgeschrieben und könne im Rentenrecht daher nicht verwirkt werden; Treu und Glauben geböten im Gegenteil zu der Auffassung des Klägers, keine Leistung mehr zu verlangen, auf die ein Rechtsanspruch gar nicht mehr bestehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen in Essen vom 14. Dezember 1954 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Knappschaftsrente weiter zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen in Essen vom 14. Dezember 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision ist statthaft, da das LSG. sie zugelassen hat. Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig.
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
II. Als festgestellt muß angesehen werden, auch wenn dies vom LSG. nicht ausdrücklich erwähnt wird, daß der Kläger zu seinen früher verrichteten Arbeiten als Schlepper im Schichtlohn nicht mehr in der Lage ist. Ausdrücklich festgestellt hat das LSG. weiter, ohne daß in dieser Hinsicht Rügen irgendwelcher Verfahrensmängel erhoben wären, daß bei dem Kläger gegenüber der Zeit der Rentenbewilligung eine wesentliche Änderung insofern eingetreten ist, als er wieder Arbeiten als Pförtner, Kauenwärter oder Telefonist verrichten kann, und daß er lange Jahre ohne gesundheitlichen Schaden die Tätigkeit eines Pförtners tatsächlich voll ausgeübt hat und noch ausübt. Diese Feststellungen, die insoweit vom Kläger nicht angegriffen werden, sind für das Bundessozialgericht bindend. Wenn der Kläger aus diesen Feststellungen jedoch die Folgerung gezogen wissen will, daß er noch weiter als berufsunfähig anzusehen wäre, so ist diese Auffassung unzutreffend.
Der Kläger, der der Lohngruppe IV unter Tage angehört hat, vermag vielmehr nach jenen einwandfreien Feststellungen noch Tätigkeiten in einem knappschaftlichen Betriebe zu verrichten, die seiner früheren Tätigkeit als Schlepper im Schichtlohn im wesentlichen gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig sind. Wenn der Kläger diese Auffassung mit einem Hinweis auf die Entscheidungen des RVA. aus dem Jahre 1941 zu entkräften sucht, übersieht er, daß selbst jene Entscheidungen nur bei Hauern im Gedinge, nicht aber bei im Schichtlohn beschäftigten Bergarbeitern eine Verweisung auf andere Tätigkeiten nicht mehr zuließen; selbst nach jener Rechtsprechung wurden für die zuletzt genannten Gruppen von Bergarbeitern zahlreiche andere Arbeiten als im wesentlichen gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig angesehen. Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Überprüfung der Frage, ob jene Entscheidungen auch heute noch anzuwenden sind. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß der Kläger nach der von Rechtsirrtum freien Feststellung des LSG. nicht mehr berufsunfähig ist, zumal die gerügte Verletzung der Vorschrift des § 54 RKG nicht vorliegt.
III. Die weiteren Rügen des Klägers laufen alle darauf hinaus, daß der Beklagten, auch wenn objektiv infolge einer wesentlichen Änderung keine Berufsunfähigkeit mehr vorliege, doch im Jahre 1953 die Geltendmachung dieser Tatsache und daher die Entziehung der Rente verwehrt gewesen sei, da sie eine übermäßig lange Zeit seit dem Eintritt der wesentlichen Änderung habe verstreichen lassen, ohne hieraus Folgen zu ziehen.
Bei seinen Rügen hat der Kläger mehrere allgemeine Rechtsbegriffe als verletzt bezeichnet, die in seinem Vorbringen nicht genau auseinandergehalten werden.
IV. Einmal beruft sich der Kläger auf die Verletzung eines gewohnheitsrechtlichen Satzes, der im einzelnen von ihm nicht normiert wird, aber nach seinem Vorbringen offenbar zum Inhalt haben soll, daß eine nicht rechtzeitige Rentenentziehung zur Weiterzahlung der einmal gewährten Rente verpflichte. Wie der Kläger selbst ausführt, setzt die Entstehung eines Gewohnheitsrechts die gleichmäßige Übung der Beteiligten und deren Überzeugung voraus, daß "das Geübte" Recht sein solle. Es erübrigt sich, diese in ihren Grundzügen wohl zutreffende Ansicht über die Entstehung von Gewohnheitsrecht hier noch weiter zu vertiefen, denn auch ohne nähere Prüfung ist ersichtlich, daß für die Entstehung eines derartigen Gewohnheitsrechtes keinerlei Anhalt vorliegt; von dem Kläger ist nicht einmal versucht worden, seine Behauptung irgendwie zu belegen, die von ihm selbst angeführten Merkmale der Bildung eines Gewohnheitsrechtes seien im vorliegenden Falle erfüllt. In einem Rechtsgebiet, das, wie das Recht der Invalidenversicherung, derartig eingehend und vollkommen durch gesetztes Recht geregelt ist, müßte für die Annahme der Entstehung von Gewohnheitsrecht, wenn dies überhaupt einmal ausnahmsweise möglich sein sollte, eine unbedingt eindeutige und klare, langdauernde dementsprechende Übung und einhellige Rechtsüberzeugung aller beteiligten Kreise gefordert werden. Für das Bestehen irgendwelcher derartiger Merkmale sind im vorliegenden Falle keinerlei Anhaltspunkte zu erkennen.
V. Mit dieser Rüge der Nichtbeachtung eines angeblichen Gewohnheitsrechtssatzes verquickt der Kläger einen weiteren Begriff. In der nicht rechtzeitigen Entziehung soll ein Verzicht der Beklagten auf ihr Entziehungsrecht überhaupt zu erblicken sein. Als "rechtzeitige Entziehung" will er dabei eine Entziehung "im Rahmen des § 1293 Abs. 2 RVO bis zum 13. Dezember 1937 und nach der SVD 13 vom 21. Juni 1946 bis zum 31. Mai 1949" angesehen wissen. Was der Kläger mit dem Hinweis auf diese Bestimmungen bezweckt, wird aus seinem Vortrag nicht klar; ist eine Entziehung, die nur auf die von ihm genannten Vorschriften gestützt werden konnte, während der erwähnten Zeiten unterblieben, so ist eine Entziehung zu einem späteren Zeitpunkt mangels entsprechender gültiger Vorschriften überhaupt unzulässig, so daß es insoweit auf einen Verzicht gar nicht ankommen könnte.
Aber auch wenn man dem Sinn des klägerischen Vorbringens entsprechend in einer "rechtzeitigen Entziehung" eine Entziehung auf Grund des § 1293 Abs. 1 RVO innerhalb einer angemessenen Frist nach Kenntnis des Versicherungsträgers von der eingetretenen Zustandsänderung erblicken wollte, läßt sich in die bloße Tatsache einer "nicht rechtzeitigen Entziehung" keine so weitgehende Bedeutung wie ein Verzicht hineinlegen, zumindest dann nicht, wenn nicht noch irgend welche zusätzlichen Handlungen oder Willensäußerungen des Versicherungsträgers hinzutreten. Es erübrigt sich unter diesen Umständen, die an sich höchst zweifelhafte Frage zu prüfen, ob und wieweit im Rahmen des Sozialversicherungsrechts derartige Verzichtserklärungen überhaupt rechtlich wirksam abgegeben werden können.
VI. Weiter erhebt der Kläger der Beklagten gegenüber die Einrede der Verwirkung. Bei dieser handelt es sich nach der allgemein vertretenen Auffassung um einen Sonderfall der Einrede unzulässiger Rechtsausübung (BGB Komm. der Reichsgerichtsräte, 10. Aufl. S. 448 ff., Anmerkung 49 zu § 242). Dieser Sonderfall, der zunächst im Rahmen privatrechtlicher Beziehungen entwickelt worden ist, wird gekennzeichnet dadurch, daß das Geltendmachen eines Anspruchs nach Ablauf einer auf die jeweiligen Verhältnisse des Einzelfalls abzustellenden übermäßigen Zeitspanne als gegen Treu und Glauben verstoßend anzusehen ist.
Im Rahmen privatrechtlicher Ansprüche wird der Einwand der Verwirkung im allgemeinen dann als berechtigt angesehen, wenn einerseits der Gläubiger eine längere Zeit verstreichen läßt, ohne seine Forderung geltend zu machen, wenn andererseits der Schuldner aus diesem Verhalten des Gläubigers den begründeten Schluß ziehen durfte, der Gläubiger werde seinen Anspruch überhaupt nicht mehr geltend machen und wenn schließlich dadurch dem Schuldner ein zusätzlicher Nachteil daraus erwächst, daß er nunmehr die Forderung, mit deren Erhebung er füglich nicht mehr zu rechnen brauchte, doch noch zu erfüllen hat (vgl. Anmerkung von Herschel in NJW. 47/48 S. 234 zum Urteil des LAG. Hannover).
Es ist zwar anerkannt, daß dieser Gedanke der Verwirkung nicht allein auf die privatrechtliche Sphäre beschränkt ist, sondern daß er auch im öffentlichen Recht angewandt werden kann. Noch mehr als im Privatrecht muß jedoch im Gebiete des öffentlichen Rechts darauf hingewiesen werden, daß es sich bei der Verwirkung um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt, der nur mit allergrößter Vorsicht anzuwenden ist (Erman, Komm. z BGB, 1952, Anm. 18 zu § 242).
Ob die Übertragung des Gedankens der Verwirkung auf das Gebiet des öffentlichen Rechts nur dann möglich ist, wenn es sich um Ansprüche handelt, die von einem Beteiligten geltend gemacht werden, der sich in einer einem privatrechtlichen Gläubiger vergleichbaren Stellung befindet - wofür sich die überwiegende Auffassung in Literatur und Rechtsprechung auszusprechen scheint - oder ob grundsätzlich Rechte aller Art verwirken können, kann für die vorliegende Entscheidung dahingestellt bleiben. Bereits die Feststellung, daß die verspätete Rentenentziehung bei dem Kläger keine irgendwie gearteten zusätzlichen Nachteile, sondern einzig eine ihm an sich nicht zustehende langjährige Weiterzahlung der Rente, also einen unstreitigen Vermögensvorteil zur Folge hatte, reicht aus, um auf alle Fälle die Berufung auf die Einrede der Verwirkung auszuschließen.
VII. Aber auch abgesehen von dem Sonderfall der Verwirkung kann der Beklagten nicht der vom Kläger schließlich erhobene generelle Vorwurf unzulässiger Rechtsausübung gemacht werden. Auch diese Einwendung stützt sich allein auf den das gesamte Rechtsleben, auch das Gebiet des öffentlichen Rechts, beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben. Bei allen hierauf gestützten Einwendungen ist entscheidend (vgl. Erman a. a. O., Anm. 7 zu § 242), ob im Einzelfall die Heranziehung jenes Grundsatzes erforderlich ist, um anderenfalls eintretende, mit Treu und Glauben schlechthin unvereinbare Folgen zu vermeiden. Eine unzulässige, oder noch eindeutiger ausgedrückt, eine mißbräuchliche Rechtsanwendung läßt sich jedoch in einem Falle, in dem der Gesetzgeber dem Versicherungsträger ausdrücklich das Recht zur Rentenentziehung eingeräumt hat, jedenfalls dann nicht annehmen, wenn nicht ganz besondere Umstände des Einzelfalls zur Annahme eines Mißbrauchs gebieterisch zwingen. Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein; aus den in den Instanzen wechselnden Vorbringen des Klägers ist vielmehr im Gegenteil zu entnehmen, daß er selbst noch bis in die jüngste Zeit die Auffassung vertrat, es sei überhaupt eine wesentliche Änderung in seinem Zustand seit der Rentengewährung noch nicht eingetreten; daß er also mit anderen Worten bis zu jenem Zeitpunkt überhaupt selbst die Anwendung des § 1293 Abs. 1 RVO noch gar nicht für zulässig erachtete. Unter diesen Umständen kann es nicht darauf ankommen, welche Zeit der Kläger als Pförtner, welche er als Wärter und welche er evtl. früher in einer anderen Tätigkeit verrichtet hat; auf alle Fälle liegt in der späten Geltendmachung des Entziehungsrechts kein irgendwie beachtlicher Verstoß gegen Treu und Glauben, der dazu zwingen könnte, die Beklagte zur Unterlassung der Geltendmachung ihres Entziehungsanspruchs zu veranlassen.
Unter diesen Umständen konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen