Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungspflichtige Beschäftigung iS von § 86 Abs. 2 S. 1 RKG
Orientierungssatz
1. Für die Anwendung des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG kommt es nicht darauf an, ob der jeweilige Rentenbezieher oder - bewerber aufgrund der ausgeübten Beschäftigung versicherungspflichtig ist; entscheidend ist vielmehr, ob die Beschäftigung ihrer Art nach - also unabhängig von den individuellen Verhältnissen der jeweilig beschäftigten Personen - die Versicherungspflicht begründet.
2. Bei der Tätigkeit eines Beamten handelt es sich trotz der bestehenden persönlichen Versicherungsfreiheit um eine "versicherungspflichtige Beschäftigung" iS des § 86 Abs 2 S 1 RKG.
Normenkette
RKG § 86 Abs 2 S 1, § 45 Abs 1 Nr 1; AVG § 6 Abs 1 Nr 3; RVO § 1229 Abs 1 Nr 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.11.1986; Aktenzeichen L 15 Kn 131/85) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 23.10.1985; Aktenzeichen S 18 Kn 123/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zusteht.
Der Kläger war seit dem 1. Dezember 1951 im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau tätig, und zwar zuletzt vom 1. April 1960 bis zum 30. Juni 1967 als Grubensteiger der Gehaltsgruppe 04 der technischen Angestellten unter Tage. Nach entsprechender Umschulung wurde er am 19. Juli 1969 Beamter; er ist Gewerbeamtmann beim Gewerbeaufsichtsamt nach der Besoldungsgruppe A 11.
Die Beklagte lehnte den am 5. Februar 1984 gestellten Antrag auf Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit mit Bescheid vom 20. Juni 1984 ab, weil der Kläger nach § 86 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) nicht als vermindert bergmännisch berufsfähig gelte. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung der Bergmannsrente verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger gelte nach § 86 Abs 2 Satz 1 RKG nicht als vermindert bergmännisch berufsfähig. Aufgrund der durch Umschulung erworbenen neuen Kenntnisse und Fertigkeiten erwerbe er als Beamter ein Entgelt, das sowohl die persönliche Rentenbemessungsgrundlage erreiche als auch der Tätigkeit eines Grubensteigers im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sei. Die Differenz zwischen dem Gehalt eines Grubensteigers und dem eines Gewerbeamtmanns betrage unter Berücksichtigung des 13. Monatsgehalts weniger als 12,5 v.H. Der Anwendung des § 86 Abs 2 RKG stehe auch nicht entgegen, daß der Kläger seine Einkünfte aus einer versicherungsfreien Tätigkeit als Beamter erziele. Die negative Fiktion dieser Vorschrift erfasse zwar nur versicherungspflichtige Beschäftigungen. Es genüge aber, daß die Beschäftigung dem Grunde nach versicherungspflichtig ist, und es komme nicht darauf an, ob der Beschäftigte ausnahmsweise versicherungsfrei oder von der Versicherungspflicht befreit sei.
Mit der Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend, ihm stehe die Bergmannsrente zu, denn er sei vermindert bergmännisch berufsfähig. Da er als Beamter keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübe, stehe die negative Fiktion des § 86 Abs 2 RKG dem Anspruch nicht entgegen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet, denn das LSG hat mit Recht die Klage abgewiesen, weil der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Bergmannsrente hat.
Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG ist zwar davon auszugehen, daß der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig iS des § 45 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 RKG ist, weil er gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist, die von ihm verrichtete Tätigkeit eines Grubensteigers oder andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlichen Betrieben auszuüben. Gleichwohl hat er keinen Anspruch auf die begehrte Bergmannsrente, denn nach § 86 Abs 2 Satz 1 RKG gilt er als nicht vermindert bergmännisch berufsfähig. Die negative Fiktion dieser Vorschrift, die sowohl nach ihrem Wortlaut als auch nach ihrer systematischen Einordnung in das Gesetz Voraussetzungen für die Rentenentziehung regeln sollte, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch bei der Entscheidung über den Rentenantrag anzuwenden (BSG SozR Nrn 4 und 6 zu § 86 RKG). Ist einem Rentenempfänger, der nach § 86 Abs 2 RKG als nicht vermindert bergmännisch berufsfähig gilt, die Bergmannsrente zu entziehen, so kann sie einem Versicherten, bei dem die gleichen Voraussetzungen vorliegen, erst gar nicht gewährt werden.
Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG muß davon ausgegangen werden, daß die Tätigkeit des Klägers als Gewerbeamtmann neue, dh andere Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt als seine frühere knappschaftliche Tätigkeit als Grubensteiger. Das Entgelt aus dieser Tätigkeit entspricht auch der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage des Klägers und ist darüber hinaus auch dem Entgelt aus der Tätigkeit eines Grubensteigers iS des § 45 Abs 2 RKG im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig (zu diesem Erfordernis vgl BSG SozR 2600 § 45 Nr 20 und § 86 Nr 6). Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen werden, die der Kläger auch nicht mehr angreift.
Mit dem LSG ist auch anzunehmen, daß es sich iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG um Entgelt "aus versicherungspflichtiger Beschäftigung" handelt, obwohl der Kläger als Beamter nach § 6 Abs 1 Nr 3 des Angestellten-Versicherungsgesetzes (AVG) versicherungsfrei ist. Der Begriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung in § 86 Abs 2 Satz 1 RKG ist keineswegs eindeutig, sondern auslegungsfähig und -bedürftig. Obwohl genau genommen nicht die Beschäftigung, sondern der sie ausübende Arbeitnehmer versicherungspflichtig ist (vgl § 1 Abs 1 RKG, § 1227 Reichsversicherungsordnung -RVO-, § 2 AVG), hat die sprachliche Ungenauigkeit des Gesetzes, die auch Eingang in den Sprachgebrauch der Versicherungsträger und Gerichte gefunden hat, doch ihre rechtliche Bedeutung. Für die Anwendung des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG kommt es nicht darauf an, ob der jeweilige Rentenbezieher oder -bewerber aufgrund der ausgeübten Beschäftigung versicherungspflichtig ist; entscheidend ist vielmehr, ob die Beschäftigung ihrer Art nach - also unabhängig von den individuellen Verhältnissen der jeweilig beschäftigten Personen - die Versicherungspflicht begründet. Die Rentenversicherungsgesetze (RKG, AVG und RVO) unterscheiden systematisch einerseits die grundsätzliche Versicherungspflicht und andererseits die individuelle Versicherungsfreiheit oder Befreiungsmöglichkeit. Die Vorschriften über die Versicherungspflicht (§ 1 RKG, § 2 AVG, § 1227 RVO) bezeichnen die Beschäftigungen, die grundsätzlich die sie ausübenden Personen versicherungspflichtig machen, dh die iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG versicherungspflichtigen Beschäftigungen. Die Vorschriften über die Versicherungsfreiheit, insbesondere der Beamten (§ 6 AVG, § 1229 RVO) ändern nichts daran, daß die ausgeübte Beschäftigung grundsätzlich die Versicherungspflicht begründet. Lediglich die individuellen Merkmale in der Person des einzelnen Beschäftigten führen ausnahmsweise trotz der grundsätzlich gegebenen Versicherungspflicht zur Versicherungsfreiheit eben dieses einzelnen Beschäftigten. Dadurch wird die Versicherungspflicht der Beschäftigung iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG nicht berührt. Das zeigt sich auch daran, daß Beamte, die persönlich versicherungsfrei waren, nach Aufgabe dieser Beschäftigung unter den Voraussetzungen des § 9 Abs 1 AVG, § 1232 Abs 1 RVO für die Zeit nachzuversichern sind, in der sie "sonst in der Rentenversicherung .... versicherungspflichtig gewesen wären". Diese Regelung geht also davon aus, daß auch ein Beamter eine Beschäftigung ausübt, die dem Grunde nach versicherungspflichtig ist.
Für die hier gefundene Auslegung des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG spricht ferner der erkennbare Sinn und Zweck der Norm, die durch das Gesetz zur Neuregelung der knappschaftlichen Rentenversicherung (KnVNG) in das RKG eingefügt worden ist. Wenn auch die Gesetzesmaterialien keine konkrete Auskunft über die vom Gesetzgeber verfolgten Absichten geben (vgl BT-Drucks 3365 - Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, S 5 zu den §§ 77 bis 97; Protokoll über die 203. Sitzung des Zweiten Deutschen Bundestages vom 10. April 1957, S 11575 und 11584), kann das gesetzgeberische Anliegen doch unschwer aus der Regelung selbst entnommen und bei der Auslegung der Vorschriften berücksichtigt werden. Aus ihr wird nämlich deutlich, daß der Gesetzgeber verhindern wollte, daß jemand eine Bergmannsrente bezieht, der aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten ein Arbeitsentgelt erwirkt, das eine zusätzliche Gewährung einer Sozialleistung als nicht gerechtfertigt erscheinen läßt. Die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit hat - wie die Gesamtregelung zeigt - Lohnersatzfunktion. Sie soll dem Versicherten einen Ausgleich dafür bieten, daß er gesundheitsbedingt nicht mehr in der Lage ist, mit einer knappschaftlichen Tätigkeit ein Entgelt zu erwerben, das dem aus seiner bisherigen knappschaftlichen Tätigkeit im wesentlichen entspricht. Erzielt der Versicherte aber aufgrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten mit einer anderen Tätigkeit, die - unabhängig von den Eigenschaften der sie ausübenden Person - die Versicherungspflicht begründet, so ist die gesundheitsbedingte Einkommenseinbuße hinreichend ausgeglichen und der Grund für die Gewährung der Bergmannsrente entfallen. Zwar wird dem Versicherten im Rahmen des § 45 Abs 2 RKG nicht zugemutet, eine Tätigkeit aufzunehmen, die nicht der knappschaftlichen Rentenversicherungspflicht unterliegt. Deshalb schließt die bloße Fähigkeit zur Ausübung einer außerknappschaftlichen Tätigkeit - auch im Rahmen des § 86 Abs 2 RKG - den Anspruch auf die Bergmannsrente nicht aus. Nimmt der Versicherte aber eine außerknappschaftliche Tätigkeit tatsächlich auf und erwirbt er mit der grundsätzlich die Versicherungspflicht begründenden Tätigkeit ein Entgelt in Höhe seiner persönlichen Rentenbemessungsgrundlage, so erschien dem Gesetzgeber die zusätzliche Rente wegen der fehlenden oder zu geringen Lohneinbuße nicht gerechtfertigt. Obwohl das System der Bergmannsrente, das auf die ursprüngliche landesrechtliche knappschaftliche Sonderversicherung und auf die spätere reichsgesetzliche Doppelversicherung zurückgeht, im übrigen sowohl bei der Berücksichtigung von Versicherungszeiten als auch bei den Voraussetzungen des Versicherungsfalles nur knappschaftliche Zeiten und Beschäftigungen berücksichtigt, erschien dem Gesetzgeber in § 86 Abs 2 Satz 1 RKG eine Ausnahme von diesem System gerechtfertigt, weil die Gewährung der Bergmannsrente trotz fehlender wesentlicher Lohneinbuße sozialpolitisch nicht verständlich wäre. Die Rechtsprechung des BSG hat auch bei dem sogenannten vorgezogenen Altersruhegeld (§ 48 Abs 2 RKG, § 1248 Abs 3 RVO, § 25 Abs 3 AVG) die versicherungsfreie Tätigkeit eines Beamten als "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" angesehen (BSGE 21, 137, 138f; 23, 67, 68f). Der Kläger kann zwar mit seiner Tätigkeit als Beamter wegen der für ihn bestehenden Versicherungsfreiheit die bisher erworbene Rentenanwartschaft nicht mehr verbessern. Das liegt aber nur daran, daß er als Beamter einem anderen Versorgungssystem angehört und ändert nichts daran, daß seine Beschäftigung ihrer Art nach die Rentenversicherungspflicht begründet und das Bedürfnis nach einem Lohnausgleich ausschließt. Der 5. Senat des BSG hat schon in seinem Urteil vom 23. Februar 1967 (SozR Nr 4 zu § 86 RKG) darauf hingewiesen, "daß es sich bei § 86 Abs 2 Satz 1 RKG um die gesetzliche Normierung des in der Rentenversicherung seit langem anerkannten Grundsatzes handelt, daß diese bergmännische Sonderrente trotz Vorliegens ihrer gesetzlichen Voraussetzungen dann nicht zu gewähren ist, wenn der Versicherte mit dem Einkommen aus einer anderen Erwerbstätigkeit in Wirklichkeit keinen oder zumindest keinen wesentlichen Einkommensverlust erleidet". Allerdings muß dieser - beschränkt legalisierte - Grundsatz wegen seines Ausnahmecharakters auf den Tatbestand des § 86 Abs 2 RKG beschränkt bleiben, der nicht im Wege der Auslegung über seinen Regelungsinhalt hinaus auf nicht versicherungspflichtige Beschäftigungen erweitert werden darf.
In der zitierten Entscheidung hat der 5. Senat des BSG zwar angenommen, daß bei der Feststellung des für Anwendung des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG maßgebenden Entgelts aus versicherungspflichtiger Beschäftigung nur das Entgelt zu berücksichtigen ist, für das Beiträge zu leisten sind. Auch wenn man daran festhält, steht das der hier getroffenen Entscheidung nicht entgegen, denn das Urteil des 5. Senats des BSG enthält keine Aussage darüber, was unter einer versicherungspflichtigen Beschäftigung iS des § 86 Abs 2 Satz 1 RKG zu verstehen ist. Gegenstand der Entscheidung war nur die Frage, welche Einkommensteile unberücksichtigt bleiben müssen. Unter "Einkommen, von dem Beiträge zu entrichten sind", kann auch das Einkommen aus grundsätzlich "versicherungspflichtiger Beschäftigung" verstanden werden, von dem nur wegen der persönlichen Versicherungsfreiheit des Beschäftigten keine Beiträge entrichtet werden. Es ist damit also das Einkommen umschrieben, das seiner Art nach bei Bestehen der persönlichen Versicherungspflicht zur Berechnung der Beiträge herangezogen wird. Dieses Einkommen hat der 5. Senat nur wegen der Vergleichbarkeit der persönlichen Bemessungsgrundlage erwähnt, ohne eine darüber hinausgehende Aussage zu treffen.
Gilt der Kläger danach als nicht vermindert bergmännisch berufsfähig, so treten die Rechtsfolgen des § 45 Abs 1 Nr 1 RKG nicht ein. Der Kläger hat also keinen Anspruch auf die Bergmannsrente. Seine Revision gegen das die Klage abweisende Urteil des LSG mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen