Leitsatz (amtlich)

Die Regelung der Versicherungspflicht der Handwerker in HwVG § 1 und der hiervon in den HwVG §§ 6, 7 zugelassenen Ausnahmen verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

 

Leitsatz (redaktionell)

Trotz ausreichender Altersversorgung durch einen Erbbauzins besteht Versicherungspflicht nach HwVG § 1. Die gesetzliche Bestimmung des HwVG § 1 steht im Einklang mit dem Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz.

 

Orientierungssatz

Bei der Ordnung von Massenerscheinungen, wie sie die Sozialversicherung enthält, sind typisierende Regelungen allgemein als notwendig anerkannt und als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen worden (vgl BVerfG 1958-12-16 1 BvL 3, 4/57, 8/58 = BVerfGE 9, 20, 32; BVerfG 1960-04-05 1 BvL 31/57 = BVerfGE 11, 50, 60; BVerfG 1960-06-28 2 BvL 19/59 = BVerfGE 11, 245, 253; BVerfG 1963-07-27 1 BvL 30/57, 11/61 = BVerfGE 17, 1, 23; BVerfG 1968-03-06 1 BvL 2/63 = BVerfGE 23, 135, 146; BVerfG 1968-10-16 1 BvL 7/62 = BVerfGE 24, 220, 235).

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 12 Abs. 1 Fassung: 1956-03-19, Art. 14 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; HwVG § 6 Fassung: 1960-09-08, § 7 Fassung: 1960-09-08, § 1 Fassung: 1960-09-08

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. November 1965 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der am 11. März 1905 geborene und am 3. Mai 1967 verstorbene Ehemann der Klägerin in der Handwerkerversicherung versicherungsfrei war.

Der Ehemann der Klägerin war seit 13. November 1946 als selbständiger Malermeister in der Handwerksrolle eingetragen.

Die Beklagte stellte seine Versicherungs- und Beitragspflicht nach § 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) mit Wirkung vom 1. Januar 1962 an fest (Bescheide vom 20. März und 5. Mai 1962). Dem widersprach der Ehemann der Klägerin, weil er am 12. August 1960 einen Erbbaurechtsvertrag über eines seiner Grundstücke auf 99 Jahre abgeschlossen habe. Durch den monatlichen Erbbauzins von 544,31 DM sei seine Altersversorgung ausreichend gesichert. Wenn ihn das Gesetz trotzdem zwinge, zusätzlich Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten oder eine Lebensversicherung abzuschließen, verstoße es damit gegen das Grundgesetz (GG).

Die gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhobene Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen wies die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Lüneburg vom 1. April 1965 mit der Begründung zurück, eine Versicherungsfreiheit bestehe weder nach § 2 HwVG oder den §§ 1228 bis 1231 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch nach den Übergangsvorschriften der §§ 6, 7 HwVG. Die Vorschriften des HwVG über die deswegen zu bejahende Versicherungspflicht des damaligen Klägers seien auch mit dem GG vereinbar. Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 16. November 1965).

Mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision hat der frühere Kläger eine Verletzung der in Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrechte gerügt.

Das angefochtene Urteil verstoße gegen diese Artikel des Grundgesetzes, weil es ihm trotz der - aufgrund des Erbbaurechtsvertrages - bestehenden ausreichenden Altersversorgung noch eine Beitragsentrichtung zur gesetzlichen Rentenversicherung zumute. Wegen seines Alters sei er nach den Vorschriften des HwVG in wesentlichen Punkten schlechter gestellt als jüngere Handwerker. Gegen den Gleichheitsgrundsatz werde auch dadurch verstoßen, daß nur ein fristgemäß abgeschlossener Lebensversicherungsvertrag als Voraussetzung für die Versicherungsfreiheit zugelassen werde. Die im Urteil ausgesprochene Versicherungspflicht enthalte für ihn wirtschaftlich auch ein Hemmnis in seinen Entschließungen und in seinen eigenen Maßnahmen zur zweckentsprechenden Vorsorge für die Zukunft. Sie beeinträchtige damit die im Grundgesetz geschützte Entfaltung seiner Persönlichkeit. Zugleich schränke sie ihn im vermögensrechtlichen Bereich, im weiteren Sinne also in seinem Eigentum ein.

Nach dem Tode des Klägers (3.5.1967) hat dessen Witwe die Aufnahme des Rechtsstreits erklärt unter Vorlage der Ablichtung des Erbscheines über ihre alleinige Rechtsnachfolge.

Die jetzige Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Niedersachsen vom 16. November 1965 und das Urteil des SG Lüneburg vom 1. April 1965 sowie den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18. Juni 1963 aufzuheben und festzustellen, daß der frühere Kläger von der Beitragsleistung nach dem Handwerkerversicherungsgesetz befreit war.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie macht sich die Ausführungen des Berufungsgerichts über die Vereinbarkeit der die Versicherungspflicht des früheren Klägers begründenden Bestimmungen des Handwerkerversicherungsgesetzes mit dem Grundgesetz zu eigen.

II

Die Klägerin hat als Witwe und Alleinerbin das durch den Tod des ursprünglichen Klägers unterbrochene Revisionsverfahren (§ 68 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - i.V.m. § 239 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) wirksam aufgenommen. Die Vorlage des Erbscheins zum Nachweis der Rechtsnachfolge war erforderlich, weil hier kein Rentenrechtsstreit anhängig ist und deswegen § 1288 Abs. 2 RVO keine Anwendung findet.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist aber unbegründet.

Die Revision geht zutreffend davon aus, daß eine Versicherungsfreiheit des Ehemannes der Klägerin nach dem am 1. Januar 1962 in Kraft getretenen Handwerkerversicherungsgesetz (§ 16 HwVG) nicht bestanden hat. Entgegen ihrer Meinung läßt aber die Regelung der Versicherungspflicht in diesem Gesetz keinen Verstoß gegen das Grundgesetz erkennen. Es ist daher auch nicht geboten, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nach Art. 100 Abs. 1 GG herbeizuführen.

Die Regelung der Versicherungspflicht der Handwerker in § 1 HwVG und der hiervon in den §§ 6, 7 HwVG zugelassenen Ausnahmen steht im Einklang mit dem nach Art. 3 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz. Der Gleichheitssatz läßt Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Ob und inwieweit der Gleichheitssatz bei der Ordnung von einzelnen Lebenssachverhalten Unterscheidungen erlaubt, richtet sich nach der Natur des in Frage stehenden Sachbereiches (BVerfGE 6, 84, 91). Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liegt erst dann vor, wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die Differenzierung sich nicht finden läßt, die Regelung also willkürlich ist (ständige Rechtsprechung des BVerfG; vgl. BVerfGE 1, 14, 52; 12, 341, 438; 18, 38, 46).

Die Revision sieht eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG darin, daß ältere Handwerker durch das HwVG "in wesentlichen Punkten schlechter gestellt" seien als jüngere Handwerker und meint damit wohl in erster Linie, daß die für ältere Handwerker aufgrund der Versicherungspflicht noch zu erzielenden Renten betragsmäßig in einem ungünstigen Verhältnis zu den zu leistenden Beiträgen stehen. Die Revision übersieht dabei, daß dies die Folge der im Bereich der Sozialversicherung naturgemäß generalisierenden Betrachtungsweise des Gesetzgebers ist. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen, wie sie die Sozialversicherung enthält, sind solche typisierende Regelungen allgemein als notwendig anerkannt und vom BVerfG im Grundsatz ständig als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen worden (vgl. BVerfGE 9, 20 32; 11, 50, 60; 11, 245, 253; 17, 1, 23; 23, 135, 146; 24, 220, 235). Ob im Einzelfall ein Vor- oder Nachteil mit der Einführung bzw. Neuregelung einer für einen umfangreichen Personenkreis bestimmten Pflichtversicherung verbunden ist, muß bei der in der Sozialversicherung somit zulässigen generalisierenden Betrachtungsweise zwangsläufig unberücksichtigt bleiben. Wenn der Gesetzgeber mit der umfassenden Neuregelung der Handwerkerversicherung dem Allgemeininteresse der Handwerkerschaft in ihrer Gesamtheit den Vorrang eingeräumt hat vor einer im Einzelfall sich aus der Versicherungspflicht etwa ergebenden Härte, so liegt das im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit.

Gleiches gilt für die von der Revision angeführte Besserstellung der Handwerker, die, um versicherungsfrei zu sein, noch bis zum 31. Dezember 1961 den Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 HwVG entsprechende Lebensversicherungsverträge abgeschlossen haben, im Vergleich zu denjenigen Handwerkern, die - wie der Ehemann der Klägerin - eine Altersvorsorge durch einen Erbbaurechtsvertrag getroffen haben. Eine sachwidrige Differenzierung des Gesetzgebers läßt sich hier ebenfalls nicht feststellen, wenn man berücksichtigt, daß die Fälle einer Alterssicherung durch Abschluß eines Erbbaurechtsvertrages in der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht typisch sind und deshalb vom Gesetzgeber im Rahmen der notwendigerweise generalisierenden Regelung auch der Ausnahmen von der Versicherungspflicht der Handwerker außer acht gelassen werden durften. Daß das HwVG Handwerker, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes einen ausreichenden Lebensversicherungsvertrag i.S. des § 3 des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk abgeschlossen hatten, hinsichtlich der Versicherungsfreiheit anders behandelt als diejenigen, die andere, atypische Vorsorgen getroffen hatten, ist jedenfalls nicht sachfremd.

Für die gerügte Verletzung des in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrechts der Berufsfreiheit werden von der Revision keine Gründe angeführt. Solche sind auch nicht ersichtlich. Daß ein Gesetz, das eine Pflichtversorgung für selbständige Berufsgruppen einführt, nicht gegen die Grundrechte verstößt, hat das BVerfG bereits anläßlich seiner Überprüfung von Zwangsversorgungsregelungen für freiberuflich tätige Ärzte entschieden (vgl. BVerfGE 10, 361; 12, 323). Die hier zu prüfende Regelung der allgemeinen Pflichtversicherung für Handwerker zeigt keine Besonderheiten, die Anlaß zu einer abweichenden Beurteilung bieten.

Die Auferlegung von Pflichtbeiträgen zu einer Versorgungseinrichtung stellt auch keine Verletzung des Eigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 GG dar. Dies ist allgemein anerkannt und vom BVerfG ebenfalls bereits ausgesprochen (vgl. BVerfGE 4, 7, 17; 10, 89, 116). Auch der mittelbare und nur wirtschaftlich fühlbare "Zwang" zur Aufgabe anderer Formen der Altersversorgung läßt sich nicht als Eigentumsverletzung ansehen (BVerfGE 10, 354, 371). Eine solche Aufgabe wird im übrigen von der Revision nicht einmal geltend gemacht.

Schließlich liegt auch der von der Revision gerügte Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG nicht vor. Eine Verletzung des Grundrechts der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist stets dann zu verneinen, wenn die fragliche Norm Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist (ständige Rechtsprechung des BVerfG; vgl. BVerfGE 6, 32, 37; 17, 306, 313). Die im HwVG getroffene Regelung der Pflichtversicherung für Handwerker gehört aber zur verfassungsmäßigen Ordnung.

Die Revision kann aus diesen Gründen keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI707681

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