Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. rechtserheblicher Sachverhalt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Orientierungssatz

Zur Verletzung der Sachaufklärungspflicht gem § 103 SGG, wenn das LSG es unterlässt, den Sachverhalt zu erforschen, der für die Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtserheblich ist.

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.12.1955)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen Vom 19. Dezember 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beantragte am 30. Oktober 1948 Versorgung wegen der Folgen einer chronischen Malariaerkrankung mit Herzfehler, die er sich nach seiner Angabe in französischer Gefangenschaft in Korsika zuzog. Mit Bescheid vom 17. August 1949 erhielt er wegen "Schwäche des niederen Nervensystems nach Malaria, Plattfuß beiderseits nach Mittelfußbruch" eine Rente auf Grund einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 40 v.H. Diese Rente wurde durch Bescheid vom 21. Juli 1950 entzogen, da die nunmehr allein noch anerkannte Gesundheitsschädigung "Plattfuß beiderseits nach Mittelfußbruch" eine MdE. von weniger als 30 v.H. verursache. Der Einspruch des Klägers blieb erfolglos (Entscheidung des Beschwerdeausschusses des Versorgungsamts Münster vom 18. Januar 1952). Die Einspruchsentscheidung wurde am 1. Februar 1952 zur Post gegeben.

Der Kläger hat mit Schreiben vom 30. Mai 1952, eingegangen beim Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Westfalen am 3. Juni 1952, gegen die Einspruchsentscheidung vom 18. Januar 1952 Klage erhoben und hinsichtlich der Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung dieses Antrags hat er ausgeführt, daß er der Ortsgruppe des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschland, Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V. (VdK.), in Liesborn am 26. Februar 1952 den Auftrag zur Einlegung der Berufung erteilt habe. Dieser Auftrag sei bei der Geschäftsstelle des Kreisverbandes Beckum des VdK. am 27. Februar 1952 eingegangen. In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1952 sei in der Kreisgeschäftsstelle ein Brand ausgebrochen, durch den ein Teil der in Bearbeitung befindlichen Handakten vernichtet oder stark beschädigt worden sei. Die noch brauchbaren Papiere seien bei den Rettungsarbeiten in Kisten gesammelt und zunächst privat sichergestellt worden. Bei der nach Behebung des Brandschadens vorgenommenen Sichtung sei der Auftrag des Klägers zur Einlegung der Berufung vorgefunden worden. Die Fristversäumnis sei somit durch höhere Gewalt verursacht worden. Durch Urteil vom 1. April 1954 hat das Sozialgericht (SG.) Münster die Klage als verspätet abgewiesen, da dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden könne. Der Brand in der Kreisgeschäftsstelle des VdK. sei sieben Tage vor Ablauf der Klagefrist ausgebrochen. Dadurch sei der Kläger an der Einhaltung der Frist durch ein Naturereignis verhindert worden, da die Nachprüfung der geretteten Papiere auf Fristsachen in den ersten Tagen nach ihrer Sicherstellung nicht möglich gewesen sei. Spätestens nach drei Wochen sei jedoch dieses Hindernis behoben gewesen, so daß die Frist von einem Monat für die Stellung des Antrags auf Wiedereinsetzung am 21. April 1952 abgelaufen sei. Der erst am 3. Juni 1952 eingegangene Wiedereinsetzungsantrag sei somit verspätet.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und zu der Ablehnung seines Wiedereinsetzungsantrags ausgeführt, daß der Brandschaden nicht so schnell hätte beseitigt werden können, wie das SG. angenommen habe. Der Kreisverband des VdK. verfüge nicht über hinreichende finanzielle Mittel, um den Brandschaden durch bezahlte Handwerker beseitigen zu lassen. Dies sei vielmehr im Wege der Selbsthilfe geschehen. Erst nach Wiederherstellung der Büroräume etwa Ende März 1952 habe mit der Erledigung der laufenden Arbeiten wieder begonnen werden können. Die geretteten Papiere und Akten hätten zunächst gesichtet und, soweit sie erheblich beschädigt gewesen seien, durch Rückfragen bei den Ortsgruppen rekonstruiert werden müssen. Diese Arbeiten seien etwa Mitte Mai 1952 beendet gewesen, so daß das Hindernis erst am 15. Mai 1952 als beseitigt angesehen werden könne. Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 19. Dezember 1955 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Das LSG. hat es dahingestellt sein lassen, ob im vorliegenden Falle der Wiedereinsetzungsantrag des Klägers nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung - RVO - (§ 131 RVO) oder des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (§ 67 SGG) zu beurteilen sei, da nach beiden Gesetzen der Wiedereinsetzungsantrag binnen einem Monat nach Beseitigung des Hindernisses gestellt werden müsse. Das Hindernis, nämlich der Brand in der Kreisgeschäftsstelle und die dadurch verursachte Beschädigung der Räume, sei nach der eigenen Darstellung des Klägers Ende März 1952 beseitigt gewesen. Der Wiedereinsetzungsantrag hätte daher spätestens bis Ende April 1952 gestellt werden müssen. Da der Antrag jedoch erst am 3. Juni 1952 eingegangen sei, liege eine Überschreitung der Frist für die Wiedereinsetzung um mindestens einen Monat vor. Diese Frist sei durch den Prozeßbevollmächtigten des Klägers schuldhaft versäumt worden. Der Kläger habe dieses Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten zu vertreten, der sofort nach dem Brand Sicherungsmaßnahmen hätte treffen müssen, ohne Rücksicht darauf, daß er seine Tätigkeit in der Kreisgeschäftsstelle des VdK. nur nebenberuflich ausgeübt habe. Der Prozeßbevollmächtigte hätte spätestens Ende März 1952 die geretteten Schriftstücke nach Fristen durchsehen und auch durch Rundschreiben bei den Ortsgruppen feststellen müssen, welche Verfahren anhängig seien und in welchen Sachen eine Fristversäumnis drohe.

Der Kläger hat gegen das am 31. Dezember 1955 zugestellte Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen mit Schriftsatz vom 26. Januar 1956 - beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 27. Januar 1956 - Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1955 die Streitsache zur sachlichen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

In der beim BSG. am 23. März 1956 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis 29. März 1956 - eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Kläger eine unzureichende Sachaufklärung als wesentlichen Mangel des Verfahrens. Das Berufungsgericht habe seinen Wiedereinsetzungsantrag auf Grund völliger Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse bei der Kreisgeschäftsstelle des VdK. abgelehnt, da seinen früheren Prozeßbevollmächtigten, Kreisgeschäftsführer S... kein Verschulden an der Fristversäumnis treffe. Aus dessen Angabe, daß die beschädigten Räume etwa Ende März 1952 wiederhergestellt gewesen seien, habe das LSG. gefolgert, daß das Hindernis in diesem Zeitpunkt behoben gewesen sei. Diese Annahme stehe im Widerspruch zu der Erklärung des Geschäftsführers S... daß er erst Mitte Mai 1952 so weit gewesen sei, die Arbeit nach Durchsicht der geretteten Papiere wieder aufzunehmen. Die vom LSG. angenommene Möglichkeit, durch Rundschreiben an die Ortsgruppen festzustellen, welche Verfahren anhängig seien und in welchen Sachen Fristablauf drohe, sei praktisch nicht durchführbar gewesen, da die Mitglieder des VdK. im Landesverband Nordrhein-Westfalen bei Einlegung von Rechtsmitteln unmittelbar mit den Kreisgeschäftsstellen verkehrten. Werde in Ausnahmefällen ein Antrag über eine Ortsgruppe geleitet, so sei diese lediglich Bote und übe keine Kontrolle über entgegengenommene und weitergeleitete Anträge aus. Die Ortsgruppen hätten daher auch auf ein Rundschreiben des Kreisverbandes keine Auskunft über den Stand eines Rentenverfahrens ihrer Mitglieder und etwa ablaufende Fristen geben können. Das Berufungsgericht habe es unterlassen, sich ein klares Bild über die Verhältnisse bei der Kreisgeschäftsstelle des VdK. zu verschaffen. Bei Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Geschäftsführers S... hätte zumindest dessen Vernehmung angeordnet werden müssen. Das LSG. habe somit seine Aufklärungspflicht verletzt.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Er ist der Auffassung, daß das LSG. die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen in seiner Entscheidung berücksichtigt und daraus die rechtlichen Folgerungen gezogen habe. Da die Tatsachen, die in das Wissen des Zeugen S. gestellt würden, vom LSG. gewürdigt worden seien, sei eine Vernehmung dieses Zeugen nicht notwendig gewesen.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat, ist sie nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (BSG. 1 S. 150).

Der Kläger rügt zutreffend, daß das Berufungsgericht zu einer Ablehnung seines Wiedereinsetzungsantrags ohne ausreichende Sachaufklärung gekommen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG. ist das Verfahren des LSG. als fehlerhaft anzusehen, wenn es eine vom Vorderrichter zu Unrecht ausgesprochene Prozeßabweisung bestätigt. Die falsche Beurteilung der Prozeßvoraussetzungen, zu denen auch die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung gehört, betrifft somit das eigene Verfahren des Berufungsgerichts (BSG. 4 S. 200, BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 8 Nr. 40). Eine Prozeßabweisung statt einer Sachentscheidung stellt daher einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Allerdings kann der Senat einen solchen Verfahrensmangel noch nicht feststellen, da der Sachverhalt hinsichtlich der Frage, ob dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist stattzugeben ist, nicht hinreichend aufgeklärt ist. Jedenfalls liegt aber der von dem Kläger gerügte Mangel unzureichender Sachaufklärung vor.

Nach § 103 SGG hat das Gericht von Amts wegen auch den Sachverhalt zu erforschen, der für die Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtserheblich ist (BSG. in SozR. SGG § 67 Bl. Da 9 Nr. 12 und 13). Da das Gericht an das Vorbringen und die Beweisanträge der Parteien nicht gebunden ist, kann es ohne Antrag weitere Beweise erheben oder von der Erhebung weiterer Beweise, selbst wenn sie beantragt sind, absehen, falls es den Sachverhalt für hinreichend geklärt ansieht. Das Gericht bestimmt im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Dieses Ermessen ist durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Nur wenn das LSG. diese Verpflichtung verletzt, liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vor.

Im vorliegenden Falle ist das Berufungsgericht seiner Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen. Für den Wiedereinsetzungsantrag gelten die Vorschriften der RVO (§§ 131 bis 134 RVO), die erst mit dem Inkrafttreten des SGG am 1. Januar 1954 aufgehoben worden sind (vgl. BSG. 1 S. 44). Nach § 131 Abs. 1 RVO kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur erteilt werden, wenn die Verhinderung, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, auf "Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle" zurückzuführen ist. Das LSG. hat den Brand in der Kreisgeschäftsstelle des VdK. in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1952 zutreffend als ein Hindernis im Sinne dieser Vorschrift angesehen. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 132 Abs. 1 RVO binnen einer Frist zu beantragen, deren Dauer durch die Dauer der versäumten Frist bestimmt wird. Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist. Als Hindernis für die fristgerechte Einlegung der Berufung sieht das Berufungsgericht lediglich den Brand in der Geschäftsstelle und die dadurch verursachte Beschädigung der Räume an, die nach Angabe des Kreisgeschäftsführers S... etwa Ende März 1952 beseitigt worden ist. Nach Ansicht des LSG. läuft von diesem Zeitpunkt ab die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag, die im Hinblick auf die Dauer der versäumten Klagefrist einen Monat beträgt. Gegen diese Auffassung bestehen Bedenken. Wenn die Angaben des Kreisgeschäftsführers S... zutreffen, daß er erst nach Wiederherstellung der beschädigten Räume mit der Sichtung der geretteten Papiere beginnen konnte, so muß entsprechend den noch festzustellenden Verhältnissen eine gewisse Zeit zugebilligt werden, die für die Aufarbeitung der beschädigten Papiere angemessen ist. Das Hindernis im Sinne des § 131 Abs. 1 RVO, das durch den Brand in den Räumen der Kreisgeschäftsstelle des VdK. eingetreten ist, kann im Gegensatz zu der Ansicht des LSG. nicht schon mit der Wiederherstellung der Räume als beseitigt angesehen werden. Es besteht vielmehr noch so lange fort, bis die weiteren Folgen des Brandes - Beschädigung der Handakten und sonstigen Papiere sowie deren ungeordnete Unterbringung in Kisten - beseitigt sind. Die Frage, ob die Frist des § 132 Abs. 1 RVO für den Wiedereinsetzungsantrag versäumt ist, hängt daher davon ab, ob die Aufarbeitung der beschädigten Papiere, die bei den Rettungsarbeiten ungeordnet in Kisten sichergestellt worden waren, eine längere Zeit beanspruchen konnte. Das Berufungsgericht hat hierzu keine Feststellungen getroffen, so daß der Senat nicht beurteilen kann, in welcher Zeit unter Berücksichtigung der bei der Kreisgeschäftsstelle des VdK. vorliegenden Verhältnisse die Durchsicht und Aufarbeitung der geretteten Schriftstücke vorgenommen werden konnten. In dieser Hinsicht wird durch Vernehmung von Zeugen insbesondere aufzuklären sein, in welchem Umfange beschädigte Schriftstücke aufgearbeitet werden mußten und welches Ausmaß an Arbeit durch Rückfragen bei den Ortsgruppen des VdK. entstand. Sollte diese noch vorzunehmende Sachaufklärung ergeben, daß die Angabe des Kreisgeschäftsführers S... er habe erst Mitte Mai 1952 an die Bearbeitung der vorliegenden Streitsache gehen können, zutrifft, so wäre erst in diesem Zeitpunkt das Hindernis beseitigt und damit der Wiedereinsetzungsantrag rechtzeitig. Da das Berufungsgericht insoweit die ihm nach § 103 SGG obliegende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat, ist die Revision des Klägers nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG wegen Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels statthaft.

Das Urteil beruht auch auf dieser Gesetzesverletzung, da die Möglichkeit besteht, daß das LSG. anders entschieden hätte, wenn es die erforderliche Sachaufklärung durchgeführt hätte (vgl. BSG. 2 S. 197 = SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 29). Im Hinblick darauf, daß in dieser Sache noch weitere Ermittlungen erforderlich sind, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2180158

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