Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn die Versorgungsbehörde nach KOV-VfG § 40 Abs 1 den früheren Bescheid auch für die Vergangenheit zurücknimmt, so steht es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, den Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an die neue Regelung gilt.
2. Eine nach dem Inhalt des Gesetzes offensichtlich verfehlte Auslegung einer Norm durch die Verwaltungsbehörde, die deshalb auch nicht Anlaß zu der "Klärung" einer Rechtsfrage durch eine ständige Rechtsprechung des BSG geben konnte, jedenfalls nicht gegeben hat, fällt nicht unter KOV-VfG § 40 Abs 2. Ein solcher unabhängig von einer Rechtsprechung des BSG jederzeit als offensichtlich rechtswidrig erkennbarer Bescheid kann nur durch einen Zugunstenbescheid nach KOV-VfG § 40 Abs 1 aufgehoben werden.
3. Eine ständige Rechtsprechung iS des KOV-VfG § 40 Abs 2 ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn mehrere Senate des BSG dieselbe Rechtsfrage einheitlich entschieden haben und gegenteilige Entscheidungen anderer Senate nicht vorliegen (vergleiche BSG 1961-08-16 11 RV 96/61 = BSGE 15, 17, 19 und BSG 1961-09-28 7/9 RV 1426/59 = BSGE 15, 137, 139).
4. Das Erfordernis einer ständigen Rechtsprechung mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung der Versorgungsverwaltung, sich die vom BSG bekundete Rechtsauffassung zu eigen zu machen und ihre frühere Entscheidung rückwirkend durch einen neuen Bescheid zu ersetzen (BSG 1961-09-28 7/9 RV 1426/59 = BSGE 15, 137), bedarf unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift einer ihrem Zweck entsprechenden engen Auslegung.
5. KOV-VfG § 40 Abs 2 gibt dem Berechtigten als Antragsteller - im Gegensatz zu KOV-VfG § 40 Abs 1 - das Recht, die Durchbrechung der bindenden Wirkung eines Verwaltungsaktes sowie der Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen rückwirkend zu erzwingen. Da eine solche Befugnis an die Grundlagen der Rechtssicherheit rührt, muß sie sich in engen Grenzen halten (vergleiche BSG 1962-03-22 8 RV 437/61 = SozR Nr 5 zu § 40 VerwVG).
Eine ständige Rechtsprechung iS dieser Vorschrift kann sich deshalb nur auf Grund der Klärung einer bestimmten streitig gewesenen Rechtsfrage bilden. Erforderlich ist, daß gerade die in dem Rechtsstreit als zweifelhaft angesehene und deshalb streitig gewordene Rechtsfrage einer Klärung durch die ständige Rechtsprechung des BSG zugeführt wird.
Normenkette
KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27, Abs. 2 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Oktober 1964 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der 1919 geborene Kläger hat vor der Einberufung zum Heeresdienst die Gesellenprüfung für das Sattlerhandwerk abgelegt. Auf Grund einer 1943 erlittenen Verwundung mußte ihm der rechte Arm im Schultergelenk abgenommen werden. Seit 1945 hat er eine Berufstätigkeit nicht mehr ausgeübt. Er bezieht Invalidenrente - seit 1. Januar 1965 wegen Berufsunfähigkeit - und daneben Unterhaltshilfe nach dem Lastenausgleichsgesetz. Mit Umanerkennungsbescheid vom 25. Juni 1951 wurden als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Verlust des rechten Armes sowie Narbe am Schädel und gelegentliche Kopfneuralgie nach Granatsplitterverletzung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. anerkannt. Ein Antrag auf höhere Rente wegen Verschlimmerung wurde unter Änderung der Leidensbezeichnung 1953 abgelehnt. Ohne Änderung der MdE wurden als Schädigungsfolgen Verlust des rechten Armes im Schultergelenk und Hautknochennarbe am Schädel anerkannt. Die Rente wurde 1955, 1956, 1957 und 1961 auf Grund des Dritten, Fünften und Sechsten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG sowie des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) neu festgestellt. Im März 1962 beantragte der Kläger, die Rente rückwirkend durch Erteilung eines Zugunstenbescheides nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren. Er berief sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), nach der ein sozialer Abstieg bei Schmälerung der Altersversorgung anerkannt worden sei. Eine von der Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte erbetene Prüfung gemäß § 26 BVG kam zu dem Ergebnis, daß berufsfördernde Maßnahmen im Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers und seine 15jährige Entfremdung von jeglicher Arbeit nicht erfolgversprechend seien. Mit Bescheid vom 6. August 1962 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) den Erlaß eines Zugunstenbescheides ab. Die MdE sei 1953 mit 80 v. H. zutreffend bewertet worden. Sie entspreche der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben und im besonderen Beruf, denn jeder Handarbeiter sei durch den Verlust des rechten Armes im Schultergelenk in seiner Berufsausbildung in gleicher Weise behindert. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) half durch Bescheid vom 9. August 1963 dem Widerspruch teilweise ab und gewährte nach § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) ab 1. März 1958 Rente nach einer MdE um 90 v. H.; der Kläger sei beruflich besonders betroffen, da er weder in seinem Beruf als Sattler noch in einem sozial und wirtschaftlich gleichwertigen Beruf tätig sein könne und Maßnahmen nach § 26 BVG sich als aussichtslos erwiesen hätten.
Der Kläger erhob Klage auf Gewährung einer Rente nach einer MdE um 100 v. H. ab 1. Oktober 1950; der Beklagte erhob die Einrede der Verjährung. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage durch Urteil vom 20. Februar 1964 ab; es ließ die Berufung zu. Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 28. Oktober 1964 die Berufung zurück. Der Kläger habe auf Grund seines Antrages einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Bescheides nach § 40 Abs. 2 VerwVG. Die noch 1962 von dem VersorgA vertretene Auffassung, die MdE von 80 v. H. entspreche der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben und im besonderen Beruf, stehe im Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des BSG. Danach sei ein berufliches Betroffensein regelmäßig dann anzunehmen, wenn der Berechtigte wegen seiner Kriegsbeschädigung gezwungen sei, seinen vor der Schädigung ausgeübten Beruf aufzugeben. Bei der hiernach erforderlichen Höherbewertung der MdE könne nicht schematisch unter Anwendung einer Formel verfahren werden. Die Erhöhung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins lasse sich auch nicht in gleicher Weise vornehmen, wie wenn es sich um die zusätzliche Bewertung einer weiteren, noch nicht anerkannt gewesenen Schädigungsfolge handele. Es sei der eingetretene echte Berufsschaden zu berücksichtigen, wozu das Ausmaß der Schäden, die Höhe des Verdienstausfalls und der unterbliebene Aufstieg im Beruf gehörten. Hierbei seien Leistungen der Sozialversicherung nicht zu berücksichtigen. Die Erhöhung der MdE um 10 v. H. sei ausreichend, da der Kläger noch in der Lage sei, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld auszuüben, soweit diese von einem Einarmigen verrichtet werden könnten. Die MdE habe nach § 40 Abs. 2 VerwVG rückwirkend erhöht werden müssen; die bis zum 28. Februar 1958 fällig gewesenen Rentenleistungen seien allerdings verjährt. Ein Anhalt für eine unzulässige Rechtsausübung, die der Einrede der Verjährung entgegengesetzt werden könne, sei nicht gegeben. Bei Erlaß des Umanerkennungsbescheides habe das BVG noch keine Vorschriften über die Bewertung einer beruflichen Betroffenheit bei der Feststellung der MdE enthalten, hierzu seien lediglich Verwaltungsvorschriften vorhanden gewesen. Bis zum Erlaß der Vorschriften und den Entscheidungen des BSG hätten die Verwaltungsbehörden eine berufliche Betroffenheit nur dann angenommen, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolge in seinem Beruf stärker betroffen war als auf dem allgemeinen Arbeitsfeld. Diese Praxis habe zur Folge gehabt, daß eine berufliche Betroffenheit bei Handwerkern im allgemeinen nicht zu einer Erhöhung des Grades der MdE führte. Daher habe der Umanerkennungsbescheid der seinerzeit herrschenden Auffassung, somit der Rechtswirklichkeit, entsprochen. In dem Urteil des BSG vom 26. November 1963 - 10 RV 191/61 (BVBl 1964 S. 115) - sei ausgesprochen worden, daß in entsprechender Anwendung des § 201 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Verjährung der in § 198 Abs. 1 BGB geregelten Ansprüche mit dem Schluß des Jahres beginne, in dem der Anspruch entstehe. Die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift sei jedoch ausgeschlossen, wenn die bereits laufende Verjährung von wiederkehrenden Leistungen unterbrochen werde. Deshalb könne der Kläger die erhöhte Rente für die Monate Januar und Februar 1958 nicht verlangen.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 40 Abs. 2 VerwVG. Die in BSG 19, 88 und in dem zitierten Urteil vom 26. November 1963 ausgesprochene Auffassung des BSG, daß Versorgungsansprüche in vier Jahren verjähren, sei abzulehnen, da keine vergleichbaren Interessenanlagen bestünden. Ob ein Versorgungsanspruch verjähren könne, bedürfe der Regelung durch den Gesetzgeber. Dieser Anspruch sei nicht vermögensrechtlicher Art. Nur bei den schwerbeschädigten Kriegsopfern habe die Grundrente allenfalls eine gewisse Unterhaltsfunktion. Auch diene die Verjährung dem Rechtsfrieden und dem Schuldnerschutz; eines solchen Schutzes bedürfe der Fiskus als Träger der Versorgungsleistungen nicht. Die Sozialgesetze enthielten nur vereinzelt Vorschriften über die Verjährung, zB § 21 Abs. 2 BVG und § 29 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Wenn schon eine Rechtsanalogie in Erwägung gezogen werden könne, so nur die, daß im Rahmen der Sozialgesetze für Kriegsschäden eine Verjährung nicht zulässig sei. Es erscheine auch nicht bedenkenfrei, die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) und des Reichsversorgungsgerichts (RVG) fortzusetzen, da deren Entscheidungen zu einer Zeit ergangen seien, in der eine klare Trennung zwischen bürgerlichem und öffentlichem Recht noch nicht erfolgt sei. Nicht zu billigen sei auch die Auffassung des BSG, daß der in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ausgesprochene Grundsatz der Sozialstaatlichkeit der Einrede der Verjährung nicht entgegenstehe. Bei dieser Vorschrift stehe die materielle Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit im Vordergrund. Die Zulässigkeit der Verjährung führe besonders bei Zugunstenbescheiden mit Rückwirkung zu bedenklichen Ergebnissen. Da der Anspruch konstitutiv mit dem Zugang des Bescheides entstehe, schränke die Versorgungsverwaltung als Schuldnerin durch Begrenzung ihrer Leistungen auf vier Jahre ihre eigene Leistung schon vor der Fälligkeit ein. Inwieweit die Leistung durch die Geltendmachung der Verjährungseinrede zu begrenzen sei, müsse im Wege der Ermessensprüfung nach § 40 Abs. 1 VerwVG entschieden werden. Auch wenn man sich der Rechtsprechung des BSG anschließe, seien nur die bis zum 31. Dezember 1957 entstandenen Ansprüche verjährt gewesen. Deshalb sei der Anspruch zumindest ab 1. Januar 1958 gerechtfertigt.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 28. Oktober 1964 nach dem Berufungsantrag zu erkennen,
hilfsweise,
unter Aufhebung der Urteile des SG und des LSG und des Widerspruchsbescheides vom 9. August 1963 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Rente nach einer MdE von 90 v. H. bereits ab 1. Januar 1958 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die von dem Kläger gegen die Berücksichtigung der Verjährungseinrede im Versorgungsrecht erhobenen Bedenken seien in BSG 19, 88 widerlegt worden. Die Auffassung, daß der Anspruch auf rückwirkende Gewährung von Versorgungsbezügen erst mit dem Zugunstenbescheid entstehe, sei irrig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sachlich ist sie nicht begründet.
Streitig ist die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 9. August 1963, durch den die Rente des Klägers nach § 40 Abs. 1 VerwVG rückwirkend ab 1. März 1958 wegen besonderen beruflichen Betroffenseins nach einer MdE um 90 v. H. gewährt und damit der MdE-Grad um 10 v. H. erhöht wurde. Zu entscheiden ist, ob der Anspruch auf Rente nach einer MdE um 100 v. H. und rückwirkend ab 1. Oktober 1950 begründet ist. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht den Anspruch für die Zeit vor dem 1. März 1958 verneint. Es ist davon ausgegangen, daß der Beklagte nach § 40 Abs. 2 VerwVG in der hier anwendbaren Fassung des 1. NOG vom 27. Juni 1960 (BGBl I, 453) - nF - verpflichtet gewesen sei, den Zugunstenbescheid rückwirkend zu erlassen, und daß die Ansprüche für die Zeit vor dem 1. März 1958 verjährt sind.
Soweit das Urteil des LSG auf der Anwendung des § 40 Abs. 2 VerwVG nF beruht, kann ihm nicht zugestimmt werden. Nach § 40 Abs. 2 VerwVG nF ist auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen, wenn das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Es kommt somit nicht mehr, wie noch nach § 40 Abs. 2 VerwVG idF vom 2. Mai 1955 (BGBl I, 202) darauf an, daß das BSG in einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Diese ursprüngliche Regelung war in Anlehnung an die Vorschrift des § 66 Nr. 12 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 (VfG) idF der Bekanntmachung vom 2. November 1934 (RGBl I, 1113) getroffen worden, nach der ein durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenes Verfahren auf Antrag oder von Amts wegen wieder aufgenommen werden konnte, wenn das Reichsversorgungsgericht in einer veröffentlichten grundsätzlichen Entscheidung nachträglich eine andere Rechtsauffassung ausgesprochen hatte, als der Entscheidung zugrunde lag (Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode Drucks. Nr. 4430, zu §§ 40 bis 44, S. 14). Nach § 141 VfG bestimmte der entscheidende Senat, ob eine Entscheidung grundsätzlich war; über die Veröffentlichung hatte das Präsidium zu beschließen. Das SGG enthält keine entsprechenden Bestimmungen; deshalb wurde auf Grund des Schriftlichen Berichtes des Ausschusses für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen vom 6. Mai 1960 § 40 Abs. 2 VerwVG aF geändert (Deutscher Bundestag 3. Wahlperiode Drucks. Nr. 1825, S. 12, 13, 37). Dort ist im Anschluß an Darlegungen über die frühere in § 40 Abs. 2 VerwVG aF und § 66 VfG getroffene Regelung ausgeführt: "Wenn der Zweck der Bestimmung vielleicht auch über Absatz 1 zu erreichen war, so legte der Ausschuß doch Wert auf Beibehaltung des in Absatz 2 zum Ausdruck gekommenen Gedankens. Ziel des Gesetzgebers war, die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu einer bisher anders entschiedenen Rechtsfrage dem Versorgungsberechtigten zugute kommen zu lassen, sobald sie als feststehend zu betrachten ist. Der Ausschuß glaubt, seine Auffassung dadurch deutlich gemacht zu haben, daß nunmehr gesagt wird, die andere Rechtsauffassung müsse Ergebnis einer ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sein". Eine ständige Rechtsprechung im Sinne des § 40 Abs. 2 VerwVG nF ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn mehrere Senate des BSG dieselbe Rechtsfrage einheitlich entschieden haben und gegenteilige Entscheidungen anderer Senate nicht vorliegen (vgl. BSG 15, 19, 139). Das Erfordernis einer ständigen Rechtsprechung mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung der Versorgungsverwaltung, sich die vom BSG bekundete Rechtsauffassung zu eigen zu machen und ihre frühere Entscheidung rückwirkend durch einen neuen Bescheid zu ersetzen (BSG 15, 137), bedarf unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift einer ihrem Zweck entsprechenden engen Auslegung. § 40 Abs. 2 VerwVG nF gibt dem Berechtigten als Antragsteller - im Gegensatz zu § 40 Abs. 1 VerwVG nF - das Recht, die Durchbrechung der bindenden Wirkung eines Verwaltungsaktes sowie der Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen rückwirkend zu erzwingen. Da eine solche Befugnis an die Grundlagen der Rechtssicherheit rührt, muß sie sich in engen Grenzen halten (BSG in SozR Nr. 5 zu § 40 VerwVG). Eine ständige Rechtsprechung im Sinne dieser Vorschrift kann sich deshalb nur auf Grund der Klärung einer bestimmten streitig gewesenen Rechtsfrage bilden. Erforderlich ist, daß gerade die in dem Rechtsstreit als zweifelhaft angesehene und deshalb streitig gewordene Rechtsfrage einer Klärung durch die ständige Rechtsprechung des BSG zugeführt wird.
Eine nach dem Inhalt des Gesetzes offensichtlich verfehlte Auslegung einer Norm durch die Verwaltungsbehörde, die deshalb auch nicht Anlaß zu der "Klärung" einer Rechtsfrage durch eine ständige Rechtsprechung des BSG geben konnte, jedenfalls nicht gegeben hat, fällt nicht unter § 40 Abs. 2 VerwVG nF. Ein solcher unabhängig von einer Rechtsprechung des BSG jederzeit als offensichtlich rechtswidrig erkennbarer Bescheid kann nur durch einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG nF aufgehoben werden. Dieser Sachverhalt ist auch im vorliegenden Fall gegeben. Nach § 30 Abs. 1 Halbs. 2 BVG idF vom 20. Dezember 1950 (BGBl 791) war bei der Bemessung der MdE der vor der Schädigung ausgeübte Beruf oder eine bereits begonnene oder nachweisbar angestrebte Berufsausbildung zu berücksichtigen. Demgemäß war die MdE mindestens in den Fällen angemessen zu erhöhen, in denen der vor der Schädigung ausgeübte Beruf aufgegeben werden mußte und eine etwa nach der Schädigung aufgenommene Tätigkeit nicht ausreichte, um die über die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben hinaus entstandenen Nachteile auszugleichen, die dem Beschädigten gerade in seinem Beruf aus der Versehrtheit erwachsen waren (vgl. BSG 10, 69/70). Zweifelhaft konnten somit nur die Maßstäbe sein, nach denen das besondere berufliche Betroffensein im Einzelfall zu bestimmen war, nämlich ob zB eine wirtschaftliche Schlechterstellung im neuen Beruf erforderlich war und ob ein Abgleiten in der sozialen Stellung oder ein verhinderter Aufstieg im Beruf allein genügte. Ein besonderes berufliches Betroffensein konnte aber dann nicht verneint werden, wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt waren, der Beschädigte somit nicht mehr in der Lage war, einen Beruf auszuüben oder nur noch auf eine vergleichsweise erheblich geringere Tätigkeit mit entsprechendem Verdienstausfall verwiesen werden konnte.
Demgemäß bestimmte auch Nr. 1 (2) der Verwaltungsvorschriften (VerwV) zu den §§ 29, 30 BVG vom 1. März 1951 (BVBl 1951 Heft 2 a S. 11 in Ergänzungsheft zum Bundesarbeitsblatt Nr. 2), die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei dann höher als nach Abs. 1 zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Beschädigung in der Ausübung seines vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder angestrebten Berufes besonders betroffen werde. Habe der Beschädigte durch Maßnahmen im Sinne des § 26 einen diesem Beruf gleichwertigen Beruf erlangt, so richte sich die Beurteilung nach Abs. 1. Diese Auslegung des Gesetzes wurde inhaltlich in das Fünfte Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 6. Juni 1956 (BGBl I, 469) übernommen. In Nr. 1 (2 a) der VerwV vom 9. August 1956 (Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 157 vom 15. August 1956, vgl. auch BVBl 1956 S. 107) wurde bestimmt, der Beschädigte sei besonders betroffen, wenn er infolge der Schädigung weder seinen bisher ausgeübten ... noch einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben könne. Diese Fassung wurde wörtlich in das 1. NOG übernommen (§ 30 Abs. 2 Buchst. a BVG idF des 1. NOG). Mit den neuen Fassungen ist, soweit es sich um den vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf handelt, somit nur zum Ausdruck gebracht worden, wie die Vorschrift in der ursprünglichen Form auszulegen war (BSG 13, 22; 15, 208, 209 f). Auch wenn man annimmt, daß dies vor der BSG-Entscheidung vom 24. August 1960 (BSG 13, 20) noch zweifelhaft war, so stand jedenfalls spätestens seit Erlaß des Fünften Änderungsgesetzes zum BVG und der VerwV vom 9. August 1956 fest, daß ein Beschädigter, der seinen Handwerksberuf nicht mehr ausüben konnte und allenfalls nur noch in der Lage war, eine wirtschaftlich und sozial wesentlich geringere Tätigkeit zu verrichten, beruflich besonders betroffen war und deshalb Anspruch auf Berücksichtigung seiner über die körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben hinausgehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit hatte. Diese Rechtslage gibt auch eine Erklärung dafür, weshalb das BSG erst 1959 zu Einzelfragen des beruflichen Betroffenseins Stellung genommen hat (die Entscheidungen in BSG 7, 178, BSG 8, 209, 216 und BSG 9, 291 betreffen andere Fragen zu § 30 Abs. 1 BVG aF), zB ob schon ein berufliches Betroffensein anzunehmen sei, wenn die spätere Tätigkeit zwar nicht hinsichtlich des wirtschaftlichen Ertrages, wohl aber in der sozialen Wertung hinter der früheren Tätigkeit wesentlich zurückbleibt (BSG 10, 69). Hier wurde nur diese Rechtsfrage entschieden und dabei vorausgesetzt, daß der Verlust des Berufs ohne Erlangung einer annähernd vergleichbaren Tätigkeit stets zu einer Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins führen müsse. Dasselbe trifft für andere Entscheidungen des BSG zu, in denen entschieden wurde, daß der Beschädigte, der den früheren Beruf ohne Minderverdienst ausüben könne, auch dann beruflich betroffen ist, wenn er seine Arbeit nur unter außergewöhnlicher Energie und Gefährdung seiner Gesundheit verrichten kann (BSG 13, 20), oder wenn er infolge der Schädigung in der Altersversorgung schlechter gestellt ist (BSG 14, 176 sowie Urteile vom 25. Juni 1959 - 10 RV 107/58 - und 29. Mai 1962 - 7 RV 762/61 -).
Alle diese Entscheidungen gaben zwar Anlaß zur Auslegung des § 30 BVG; sie betreffen aber nur ganz bestimmte Rechtsfragen im Rahmen des beruflichen Betroffenseins. Diese Entscheidungen haben sich mit dem Sachverhalt, der zu einer Bejahung des beruflichen Betroffenseins des Klägers hätte führen müssen, gar nicht befaßt.
Die dem Kläger in den Bescheiden vom 25. Juni 1951 und 19. Dezember 1953 zugebilligte Rente nach einer MdE um 80 v. H. entsprach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben ohne Berücksichtigung des beruflichen Betroffenseins für den Verlust des Armes im Schultergelenk (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Neuausgabe 1954 S. 144 Nr. 5, 158). Spätestens im Jahre 1956 nach Erlaß des Fünften Änderungsgesetzes zum BVG und der VerwV vom 9. August 1956 mußte diese MdE als offensichtlich unzulänglich angesehen werden. Eine Rechtsprechung des BSG zu den Voraussetzungen des beruflichen Betroffenseins gab es noch nicht; für den vorliegenden Sachverhalt bedurfte es insoweit auch nicht der Klärung durch eine ständige Rechtsprechung. Wenn das VersorgA 1951 und 1953 davon ausgegangen sein sollte, daß ein Handwerker, der den rechten Arm verloren hat, bei einer MdE um 80 v. H. nicht mehr beruflich besonders betroffen sein könne, so hat es den Begriff des beruflichen Betroffenseins zu eng ausgelegt. Eine solche Auffassung wäre damals allenfalls dann vertretbar gewesen, wenn der Kläger wegen des Armverlustes nur zu einem Berufs wechsel gezwungen gewesen wäre, nicht aber bei ersatzloser Aufgabe des erlernten Berufes. Daß der Kläger nach Kriegsende weder den erlernten Sattlerberuf noch einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben konnte, ist bereits im Bescheid vom 9. August 1963 festgestellt worden. Der Verlust des Berufes geht in aller Regel auch bei einem Handwerker über die mit einer solchen Schädigung im allgemeinen Erwerbsleben verbundene körperliche Beeinträchtigung hinaus und begründet deshalb auch ein berufliches Betroffensein. In tatsächlicher Hinsicht ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß das Ausmaß der beruflichen Schädigung in erheblichem Umfang von den Verhältnissen des Einzelfalles, insbesondere der Anpassungsfähigkeit, und sonstigen Eigenschaften des Beschädigten selbst abhängt. Es ist durchaus denkbar, daß auch ein Handwerker, der einen Arm verloren hat, für eine andersartige, aber gleichwertige Berufstätigkeit umgeschult werden kann und damit vor einer besonderen beruflichen Betroffenheit bewahrt bleibt.
Das VersorgA hatte die Möglichkeit, etwa mit einem der 1955, 1956, 1957 oder 1961 erlassenen Neufeststellungsbescheide zugleich einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG zu erlassen. Daß es hierzu nicht kam, ist auch darauf zurückzuführen, daß der Kläger die früheren Bescheide nicht angefochten und erst 1962 eine höhere Rente wegen beruflichen Betroffenseins beantragt hat. Der Beklagte hat sein Ermessen nicht dadurch verletzt, daß er die höhere Rente nur für einen Zeitraum von vier Jahren vor Stellung des Antrages bewilligt hat. Wenn die Versorgungsbehörde nach § 40 Abs. 1 VerwVG den früheren Bescheid auch für die Vergangenheit zurücknimmt, so steht es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, den Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an die neue Regelung gilt (BSG 19, 12). Umstände, aus denen sich ergibt, daß die Versagung der höheren Rente für die Zeit vor dem 1. März 1958 eine Verletzung des Ermessens darstellt, sind nicht ersichtlich. In den VerwV Nr. 8 zu § 40 VerwVG vom 8. Februar 1956 (Bundesanzeiger Nr. 33 vom 16. Februar 1956) ist bestimmt, daß eine Rückwirkung in der Regel nicht über einen Zeitraum von vier Jahren hinausgehen soll. Die Versagung einer weitergehenden Rückwirkung stellt auch keine unzulässige Rechtsausübung dar. Insbesondere ist der Kläger nicht durch den Beklagten in der Wahrnehmung seiner Rechte gehindert oder eingeschränkt worden. Da somit eine Verpflichtung des Beklagten nicht anerkannt werden kann, die Rente bereits ab 1. Januar 1958 oder gar schon ab 1. Oktober 1950 zu gewähren, bedarf es keiner Ausführungen darüber, inwieweit ein solcher Anspruch wegen Verjährung abgelehnt werden müßte. Im übrigen hat der Senat sich in dem Urteil vom 21. März 1967 - 9 RV 872/64 - der Auffassung des 10. Senats des BSG (Urteil vom 26. November 1963 - 10 RV 191/61 - in BVBl 1964 S. 115) angeschlossen, daß sogar Ansprüche nach § 40 Abs. 2 VerwVG in vier Jahren, zurückgerechnet vom Beginn des Jahres, in dem der Antrag nach § 40 Abs. 2 VerwVG gestellt wurde, verjähren (vgl. auch BSG 19, 88). Der Beklagte hat hier jedenfalls die rückwirkende Bewilligung der Rente nach § 40 Abs. 1 VerwVG nF für vier Jahre vom Zeitpunkt der Antragstellung an als angemessen ansehen dürfen.
Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß der Kläger nicht erwerbsunfähig ist. Diese Feststellung ist von der Revision nicht angegriffen worden und deshalb der Entscheidung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen (§ 163 SGG). Die Erhöhung des MdE-Grades von 80 v. H. auf 90 v. H. läßt unter diesen Umständen einen sachlich-rechtlichen Irrtum nicht erkennen.
Das LSG hat somit die Berufung des Klägers im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Revision war daher, da sie unbegründet ist, zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen