Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersatzzeit einer politischen Verfolgung. Berechnung der pauschalen Ausfallzeit. WGSVG

 

Leitsatz (redaktionell)

Das WGSVG hat an der Rechtslage nichts geändert.

 

Normenkette

WGSVG Fassung: 1970-12-22; AnVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 1969 aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, bei der Errechnung der pauschalen Ausfallzeit die Zeiten der politischen Verfolgung des Klägers wie mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten zu berücksichtigen; insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. September 1967 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind dem Kläger für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

In diesem Rechtsstreit geht es um die Frage, ob für die Berechnung der pauschalen Ausfallzeit im Sinne von Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) aF die Ersatzzeit einer politischen Verfolgung (§ 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) anders zu behandeln ist als eine sonstige Ersatzzeit und als eine "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" berücksichtigt werden kann.

Der 1899 geborene Kläger war von 1919 bis 1930 als Schlosser versicherungspflichtig beschäftigt; anschließend war er arbeitslos. Von 1932 bis 1933 war er bei der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) als Angestellter beschäftigt. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden während dieser Zeit nicht für ihn entrichtet. Vom März 1933 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde der Kläger von den Nationalsozialisten politisch verfolgt. Seit Dezember 1945 war er zunächst Angestellter und seit 1947 Beamter der Stadt W. Seit 1. September 1964 bezieht er von der Beklagten Altersruhegeld (Bescheid vom 8. Oktober 1964).

Nachdem die Beklagte während des Verfahrens noch Verfolgungs- und Krankheitszeiten als Ersatzzeiten anerkannt hatte, berücksichtigte sie mit Bescheid vom 4. März 1968 auch eine pauschale Ausfallzeit von 31. Monaten, bei deren Berechnung sah sie damals Verfolgungszeiten als mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten an. In einem späteren Bescheid vom 20. Mai 1968 behandelte sie die Verfolgungszeiten jedoch als nicht mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten. Ebenso verfuhr die Beklagte bei einer späteren Probeberechnung im Februar 1969.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) geändert und die Beklagte verurteilt, das Altersruhegeld des Klägers unter Zugrundelegung der in der Probeberechnung vom 4. Februar 1969 aufgeführten Beitrags- und Ersatzzeiten, Beitragsklassen und Arbeitsentgelte neu zu berechnen und bei der Errechnung der pauschalen Ausfallzeit die Zeiten der politischen Verfolgung wie mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten zu berücksichtigen. Das LSG meint, der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - wonach für die Berechnung der pauschalen Ausfallzeit im Sinne von Art. 2 § 14 AnVNG aF die Zeit einer politischen Verfolgung nicht als eine "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" angesehen werden kann - nicht folgen zu können, weil sie nicht in Einklang stehe mit dem zugunsten der Verfolgten anzuwendenden Prinzip der völligen Wiedergutmachung verfolgungsbedingter Schäden in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 14. Mai 1969).

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Sie rügt die Verletzung von Art. 2 § 14 AnVNG aF und verweist insoweit auf die Rechtsprechung des BSG.

Der Kläger hat in erster Linie beantragt,

die Entscheidung des Großen Senats des BSG herbeizuführen, weil es sich hier um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung handele und weil die Fortbildung des Rechts die Vorlage erfordere.

Hilfsweise hat er die Zurückweisung der Revision beantragt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist zulässig und begründet.

Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 24. Januar 1967 - 11 RA 182/65 (BSG 26, 65 = SozR Nr. 10 zu Art. 2 § 14 AnVNG aF) - die hier streitige Frage dahin entschieden, daß für die Berechnung der Pauschalen Ausfallzeit im Sinne von Art. 2 § 14 AnVNG aF die Ersatzzeit einer politischen Verfolgung (§ 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG) nicht anders zu behandeln ist als eine sonstige Ersatzzeit und deshalb nicht als eine "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" berücksichtigt werden kann. In den Gründen dieses Urteils - auf die Bezug genommen wird - hat der Senat ausgeführt, daß sich die Rechtsprechung über eindeutige und nicht auslegungsfähige Rechtsvorschriften, wie hier Art. 2 § 14 AnVNG aF, nicht hinwegsetzen darf. Für eine freie richterliche Rechtsfindung sei insoweit kein Raum, auch nicht für eine "Vermischung" von Berechnungsvorschriften des bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Rechts mit den Vorschriften für die Rentenberechnung nach neuem Recht - hier etwa durch die Gewährung der im Verfolgtengesetz besonders geregelten Steigerungsbeträge für Ersatzzeiten und die Ausdehnung dieser Regelung auf die pauschale Ausfallzeit des neuen Rechts. Eine Sonderregelung für die Berechnung der pauschalen Ausfallzeit bei Verfolgten sei offensichtlich nicht gewollt gewesen. Die Ausführungen, mit denen das LSG seine abweichende Rechtsauffassung begründet, sind nicht geeignet, den Senat zur Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zu veranlassen.

Der unmißverständliche Wortlaut des Art. 2 § 14 AnVNG aF läßt für eine Auslegung in dem vom LSG für geboten gehaltenen Sinne keinen Raum. Der Senat ist auch nach erneuter Prüfung der Auffassung, daß das Gesetz hinsichtlich der Berechnung der pauschalen Ausfallzeit für Verfolgte keine Lücke enthält, die durch Berücksichtigung des dem Verfolgtengesetz und dem Bundesentschädigungsgesetz zugrunde liegenden Prinzips einer vollständigen Wiedergutmachung zu schließen ist. Wäre nämlich die Ansicht des LSG richtig, so hätte es - wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 24. Januar 1967 ausgeführt hat - nahegelegen, daß der Gesetzgeber bei der Neufassung des Art. 2 § 14 AnVNG durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 den Zeitpunkt für das Inkrafttreten dieser Vorschriften bei Verfolgten anders - etwa mit Rückwirkung auf den 1. Januar 1957 - festgesetzt hätte als für Versicherte, die Ersatzzeiten aus anderen Gründen angerechnet erhalten. Daß dies unterblieben ist, bestätigt den Senat in seiner Auffassung, daß eine Sonderregelung für die Berechnung der pauschalen Ausfallzeit bei Verfolgten nach Art. 2 § 14 AnVNG aF nicht beabsichtigt gewesen ist.

Demgegenüber meint das LSG, der Wortlaut des Art. 2 § 14 AnVNG aF sei nur scheinbar eindeutig; in die Neuregelungsgesetze seinen keine Vorschriften aufgenommen worden, daß den Verfolgten nunmehr eine geringere Entschädigung zu gewähren sei als nach altem Recht, obwohl der Erlaß einer solchen Bestimmung nahegelegen hätte, wenn die Rentenneuregelungsgesetze diesen Zweck gehabt hätten. Dieser Ansicht vermag der Senat nicht zu folgen. Auch wenn kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, daß der Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten des Angestelltenrentenversicherungs-Neuregelunggesetzes (AnVNG) von dem Entschädigungsprinzip, wie es das Verfolgtengesetz normiert hat abweichen wollte und wenn auch der Gedanke der Wiedergutmachung Vorrang vor allen anderen Überlegungen hat, so kann das doch nur gelten, soweit hierfür Raum bleibt. Art. 2 § 14 AnVNG aF läßt aber eine Auslegung im Sinne des LSG nicht zu. Diese Vorschrift setzt eine mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit voraus, Dabei handelt es sich um die bei allen Versicherten erforderliche Voraussetzung für die Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit. Eine Sonderregelung für die Ersatzzeit der Verfolgung würde für das einheitliche Rechtsinstitut der Ersatzzeit zweierlei Recht mit unterschiedlichen Folgen schaffen (vgl. BSG 25, 90, 91); es kann nicht unterstellt werden, daß dies vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen ist. Es bleibt daher - anders als bei der Entscheidung des 1. Senats vom 16. September 1960 (BSG 13, 67, 71 = SozR Nr. 4 zu § 1248 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - kein Raum, bei Art. 2 § 14 AnVNG aF dem Prinzip der Wiedergutmachung durch eine Auslegung im Sinne des LSG Geltung zu verschaffen (vgl. auch Grein, Die Sozialversicherung 1961, 264 ff).

Das inzwischen in Kraft getretene Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) hat an der Rechtslage insoweit nichts geändert. Nach Art. 1 § 11 dieses Gesetzes sind für die Berechnung der Rente die Verfolgtenzeiten grundsätzlich nach den für Ersatzzeiten geltenden allgemeinen Vorschriften zu berücksichtigten. Zwar hat dieses Gesetz dem § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG eine neue Fassung gegeben (vgl. Art. 2 § 2 Nr. 1); Art. 2 § 14 AnVNG aF ist jedoch nicht angesprochen worden, obwohl mit dem neuen Gesetz die Vorschriften über die Wiedergutmachung in der Sozialversicherung dem neuen Rentenrecht, d. h. der vom 1. Januar 1957 an geltenden Rentenformel angepaßt werden sollten (vgl. BT-Drucksache VI/715, Begründung S. 8 - Allgemeiner Teil -). Es hätte also nahegelegen, daß der Gesetzgeber, dem die Rechtsprechung des BSG zu Art. 2 § 14 AnVNG aF bekannt war, eine Sonderregelung zugunsten der Verfolgten getroffen hätte, wenn dies tatsächlich gewollt gewesen wäre. Auch dieses Unterlassen spricht dafür, daß der Gesetzgeber eine Ersatzzeit der Verfolgung nicht als eine mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit berücksichtigt wissen will (vgl. v. Borries, BArbBl 1971, 153, 154 sowie Knöbber/Schöring, "Die Ang. Vers." 1971, 175, 176). Die Verfolgtenzeit wird auch nicht dadurch, daß ihr bestimmte Beitragsklassen und Arbeitsentgelte bei der Rentenberechnung zuzuordnen sind, zu einer Beitragszeit; sie bleibt vielmehr eine Ersatzzeit mit deren Rechtsfolgen.

Auf die Revision ist hiernach das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, bei der Errechnung der pauschalen Ausfallzeit die Zeiten der politischen Verfolgung des Klägers wie mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten zu berücksichtigen; insoweit muß die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen werden. Ein Anlaß, die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen, ist nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651231

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge