Leitsatz (amtlich)
Die Vorschrift des DV § 30 Abs 3 und 4 BVG § 9 Abs 4 S 2 vom 1968-02-28 über die Anrechnung fiktiven Arbeitseinkommens enthält nur eine Klarstellung der Rechtslage, wie sie bereits vor dem 1967-01-01 bestanden hat.
Normenkette
BVG § 30 Abs 3 u 4 DV § 9 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1968-02-28
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. März 1971 insoweit aufgehoben, als es die teilweise Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 9. Juli 1970 betrifft. In diesem Umfang wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der im Jahre 1909 geborene Kläger ist gelernter Steinhauer. Auf Grund des Umanerkennungsbescheides vom 24. April 1951 bezog er Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. wegen 1. Bewegungseinschränkung im rechten Fußgelenk und der Zehen zwei bis fünf; 2. Neigung zu Bronchitis. Ein im Oktober 1959 gestellter Antrag auf Erhöhung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins wurde durch Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) D vom 8. April 1960 abgelehnt. Klage und Berufung waren erfolglos (Urteil des Sozialgerichts (SG) Darmstadt vom 6. Februar 1961; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 6. Dezember 1961). Die Revision des Klägers wurde durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. Februar 1962 als unzulässig verworfen. Der am 5. Mai 1964 erneut gestellte Antrag auf Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins sowie auf Gewährung von Berufsschadensausgleich wurde durch Bescheid vom 3. Februar 1965 abgelehnt. Darin wurde u.a. zum Ausdruck gebracht, daß ein etwaiger Einkommensverlust "auf Ihre persönliche Einstellung zur Sache" und nicht auf die Art der Schädigung zurückzuführen sei. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes H vom 9. Juni 1965).
Das SG hat den Kläger durch den Landesgewerbearzt fachinternistisch begutachten lassen. Dieser kam in seinem Gutachten vom 21.November 1967 zu dem Ergebnis, daß der Kläger durch die als Schädigungsfolge anerkannte Bronchitis gehindert sei, seinen Beruf als Steinhauer auszuüben. Leichte körperliche Arbeiten könne er aber wenigstens halbtägig ausführen. Unter besonders günstigen Arbeitsbedingungen könne nach entsprechender Gewöhnungszeit und Überwindung der Trainingsmangelerscheinungen auch ein 8-stündige Arbeitszeit durchgehalten werden.
Hierauf erhöhte der Beklagte durch Neufeststellungsbescheid vom 19. August 1968 den Grad der MdE gemäß § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ab 1. November 1967 auf 60 v.H. Die Erhöhung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG und der Anspruch auf Berufsschadensausgleich wurden weiterhin abgelehnt, da der Kläger durch die anerkannten Schädigungsfolgen nicht gehindert sei, eine dem Steinhauer wirtschaftlich und sozial gleichwertige Tätigkeit auszuüben. Das SG Darmstadt hat die Klage durch Urteil vom 16. Dezember 1968 abgewiesen und in den Entscheidungsgründen u.a. ausgeführt, daß der eingetretene Einkommensverlust nicht auf Schädigungsfolgen, sondern auf fehlenden Arbeitswillen zurückgehe.
Während des Berufungsverfahren erteilte der Beklagte am 9. Juli 1970 einen neuen Bescheid. Darin erkannte er ein besonderes Betroffensein an, erhöhte die MdE rückwirkend ab 1. Januar 1964 auf 60 v.H. und ab 1. November 1967 auf 70 v.H. und gewährte dem Kläger einen Berufsschadensausgleich ab 1. Januar 1964, wobei er ihn als Steinhauer in die Leistungsgruppe 2 der Arbeiter im Wirtschaftsbereich Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie, Wirtschaftsgruppe Steine und Erden, eingruppierte. Als "derzeitiges Bruttoeinkommen" (§ 30 Abs. 4 BVG) rechnete der Beklagte gemäß § 9 Abs. 4 Satz 2 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG auch das Brutto-Erwerbseinkommen an, das der Kläger auf dem ihm vom Arbeitsamt zugewiesenen, von ihm aber nicht angetretenen Arbeitsplatz als Bürobote und Pförtner beim Kreiswehrersatzamt in Heppenheim oder in einem ähnlichen Arbeitsverhältnis hätte erzielen können.
Das LSG hat durch Urteil vom 24.März 1971 den Bescheid des Beklagten vom 9. Juli 1970 insoweit aufgehoben, als für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1966 ein fiktives Einkommen zugrunde gelegt worden ist. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, das LSG habe nur noch über den Bescheid vom 9. Juli 1970 zu entscheiden gehabt. Durch diesen Bescheid sei der ursprünglich angegriffene Bescheid vom 3. Februar 1965 aufgehoben und auch der im Verfahren vor dem SG ergangene Neufeststellungsbescheid vom 19. August 1968 abgeändert worden. Durch diese dem Urteil des SG zugrundeliegenden Verwaltungsakte sei der Kläger somit nicht mehr beschwert; das Urteil des SG sei in seinem sachlich-rechtlichen Gehalt gegenstandslos geworden. Über den neuen Bescheid habe wie über eine Klage entschieden werden müssen.
Der angefochtene Bescheid sei in Bezug auf die Eingruppierung des Klägers in die Leistungsgruppe 2 der Arbeiter nicht zu beanstanden. Das gleiche treffe auch für die Anrechnung von fiktivem Arbeitseinkommen bei der Berechnung des Berufsschadensausgleiches für die Zeit ab 1. Januar 1967 zu. Rechtsgrundlage sei insoweit § 9 Abs. 4 Satz 2 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 28. Februar 1968 (DVO 1968). Hiernach bleibe eine Minderung des derzeitigen Bruttoeinkommens unberücksichtigt, wenn der Beschädigte seine Arbeitskraft ohne verständigen Grund nicht in zumutbarem Umfang einsetze. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien dem Grunde nach erfüllt. Darüber hinaus sei nicht zu beanstanden, daß der Beklagte als anzurechnendes Bruttoeinkommen das eines Büroboten und Pförtners gewählt habe. Der Kläger habe eine solche, ihm vom Arbeitsamt zugewiesene Tätigkeit im Dezember 1965 mit Gründen abgelehnt, die auch bei Berücksichtigung seines Gesamtgesundheitszustandes durch die Ergebnisse der arbeitsamtsärztlichen und gerichtsgutachterlichen Beurteilungen widerlegt seien. Schwerwiegende Erkrankungen, die ihn an der Aufnahme einer Arbeitstätigkeit gehindert hätten, hätten ab 1. Januar 1967 nicht vorgelegen. Dagegen sei es fehlerhaft, daß der Beklagte das fiktive Bruttoeinkommen bereits ab 1. Januar 1964 angerechnet habe. § 9 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG i.d.F. vom 30. Juli 1964 (DVO 1964) sei für die Anrechnung eines fiktiven Arbeitseinkommens keine geeignete Grundlage. Er spreche ausdrücklich von "derzeitigem Bruttoeinkommen", worunter ohne Zweifel nur das tatsächlich erzielte Einkommen zu verstehen sei. Dieses könne nicht dahingehend interpretiert werden, daß es als erzielbar und erworben fingiert werde, wenn ein Beschädigter aus von ihm zu vertretenden Gründen seine Arbeitskraft nicht in zumutbarer Weise und entsprechendem Umfang einsetze. Die Neufassung des § 9 in der DVO 1968 könne nicht als bloße redaktionelle Klarstellung gewertet werden. Diese Ergänzung des § 9 sei rechtlich und wirtschaftlich so erheblich, daß sie auch aus diesem Grunde nicht als reine Legalinterpretation der DVO 1964 angesehen werden könne; vielmehr stelle sie eine sachlich-rechtliche Gesetzesänderung dar.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 30. April 1971 zugestellte Urteil durch einen Schriftsatz vom 18. Mai 1971, eingegangen beim BSG am 21. Mai 1971, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Er beantragt,
das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß die Klage bzw. die Berufung in vollem Umfange abgewiesen bzw. zurückgewiesen wird;
hilfsweise,
unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
In seiner Revisionsbegründung rügt er eine Verletzung des § 9 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG und führt dazu aus, es komme darauf an, ob § 9 Abs. 4 Satz 2 DVO 1968 eine Legalinterpretation der vor dem 1. Januar 1967 gültigen DVO darstelle oder ob es sich insoweit um eine sachlich-rechtliche Gesetzesänderung handele. Eine im Interesse der Rechtssicherheit gebotene Klarstellung erfordere es nicht, daß die SGe bereits vorher in diesem Sinne entschieden haben müßten. Wenn das LSG die neue Fassung des § 9 DVO 1968 als rechtlich und wirtschaftlich sehr erheblich und einschneidend angesehen habe, so spreche das gerade gegen eine sachlich-rechtliche Gesetzesänderung. Der Gesetzgeber sei bei jeder Gesetzesänderung um eine Verbesserung der Stellung der Versorgungsberechtigten bemüht. Daher wäre es ein Novum, wenn durch § 9 Abs. 4 DVO 1968 die Rechtsstellung zu Ungunsten der Versorgungsberechtigten hätte geschmälert werden sollen. Es sei ein im Versorgungsrecht anerkannter Rechtsgedanke, daß demjenigen, der sich durch eigenes Verhalten von Vermögenswerten oder Einkünften freistelle, hieraus keine versorgungsrechtlichen Vorteile erwachsen dürften. Im Berufsschadensausgleich solle auch nur der auf Schädigungsfolgen zurückzuführende Einkommensverlust ausgeglichen werden. Das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 1. März 1966 sei daher zutreffend; die Anrechnung eines fiktiven Einkommens sei somit schon vor dem 1. Januar 1967 möglich. Bedenken beständen noch dagegen, ob über den Bescheid vom 9. Juli 1970 tatsächlich wie über eine Klage entschieden werden könne und ob dieser Bescheid nicht doch als mit der Berufung angefochten angesehen werden müsse.
Der Kläger beantragt,
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1. |
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die Revision als unbegründet zurückzuweisen; |
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2. |
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den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. |
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist vom LSG zugelassen worden und daher statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der Beklagte hat sie in der richtigen Form und Frist eingelegt und begründet (§§ 164, 166 SGG); die Revision ist daher zulässig. Sachlich mußte die Revision insoweit Erfolg haben, als sie zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und insoweit zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG führt.
Da nur der Beklagte Revision eingelegt hat, ist das Urteil des LSG, soweit es die Klage "im übrigen" abgewiesen hat, rechtskräftig geworden. Diese Abweisung betraf die vom Kläger begehrte Einstufung in die Leistungsgruppe 1 der Arbeiter und die Berechnung des Berufsschadensausgleichs für die Zeit vom 1. Januar 1967 an. Im Revisionsverfahren ist somit nur noch die Anrechnung eines fiktiven Einkommens bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs für die Zeit vom 1.1.1964 bis zum 31.12.1966 im Streit.
Das LSG hat zu Recht nur über den Bescheid vom 9. Juli 1970 entschieden. Dieser Verwaltungsakt hat den zunächst mit der Klage angefochtenen Bescheid vom 3. Februar 1965 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 1965 in vollem Umfang aufgehoben und den während des erstinstanzlichen Verfahrens erlassenen Bescheid vom 19. August 1968 insoweit abgeändert, als darin die vom Kläger begehrte Erhöhung der MdE gemäß § 30 Abs. 2 BVG und die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs erneut abgelehnt worden waren. Bei dem Kläger wurden nunmehr das Vorliegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins mit einer Erhöhung der MdE um 10 v.H. gemäß § 30 Abs. 2 BVG und die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs grundsätzlich anerkannt. Der Kläger war insoweit klaglos gestellt. Streitig blieben lediglich noch die vom Kläger begehrte Einstufung in die Leistungsgruppe 1 der Arbeiter und die Anwendung des § 9 Abs. 4 Satz 2 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG (vgl. Antrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG).
Das LSG hat zutreffend über den neuen Verwaltungsakt, der insoweit eine neue Beschwer für den Kläger enthielt, als erste Instanz wie über eine Klage entschieden. Dieser Bescheid, der während des Berufungsverfahrens erging, ist nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Das rechtfertigt jedoch nicht den Schluß, daß über ihn wie über eine Berufung entschieden werden müßte. Das BSG hat bereits ausgesprochen (vgl. BSG 18, 231 = SozR SGG Nr. 17 zu § 96), daß jede Berufung nach dem System des SGG begrifflich eine erstinstanzliche Entscheidung voraussetzt und daß es keine Berufung unmittelbar gegen Verwaltungsakte gibt; sie findet nur gegen Urteile der Sozialgerichte statt (§ 143 SGG). Ein während des Berufungsverfahrens erlassener neuer Verwaltungsakt i.S. des § 96 SGG wird daher nicht kraft Berufung, sondern kraft Klage Gegenstand des Verfahrens. Der 10. Senat des BSG hat seine frühere entgegenstehende Rechtsprechung (vgl. Beschluß vom 14.12.1959 in BSG 11, 146; Leitsatz abgedruckt in SozR SGG Nr. 13 zu § 96) ausdrücklich aufgegeben (vgl. BSG aaO). Daß dann gegen ein erstinstanzliches Urteil unmittelbar Revision eingelegt werden kann, steht dieser Auffassung nicht entgegen. Das angefochtene Urteil bleibt ein Urteil des LSG, gegen das nach § 160 SGG die Revision stattfindet. Außerdem zeigt § 161 SGG, daß dem SGG die unmittelbare Revisibilität einer erstinstanzlichen Entscheidung nicht fremd ist. Diese vom BSG nunmehr in ständiger Rechtsprechung vertretene Ansicht (vgl. BSG 18, 231; 27, 146, 148; KOV 1966, 115) hat auch im Schrifttum Billigung gefunden vgl. Peters-Sautter-Wolff § 96 Anm. 2 C S. II/57; Miesbach, Die Abänderung oder Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsakts während des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1959, S. 88 ff, 91). Die vom Beklagten hiergegen vorgebrachten Bedenken vermögen nicht zu überzeugen. Daß der neue Verwaltungsakt Gegenstand des bereits anhängigen (Berufungs-)Verfahrens wird, ist nach § 96 SGG nicht von einer Erweiterung des Streitgegenstandes abhängig, sondern nur davon, daß der bisherige Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ergänzt wird.
Nach dem - insoweit rechtskräftig gewordenen - Urteil des LSG steht fest, daß für die Zeit vom 1. Januar 1967 an ein fiktives Arbeitseinkommen gemäß § 9 Abs. 4 Satz 2 DVO 1968 anzurechnen ist. Der Kläger hat die Feststellung des LSG, er habe seine Arbeitskraft ohne verständigen Grund nicht in zumutbarem Umfang eingesetzt, nicht mit Revisionsrügen angegriffen. Das LSG hat allerdings geglaubt, die in § 9 Abs. 4 Satz 2 DVO 1968 enthaltene Regelung erst vom 1. Januar 1967 an, also dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der DVO 1968 (vgl. § 15 DVO 1968), anwenden zu können, weil die DVO 1968 insoweit keine nur redaktionelle Klarstellung oder Legalinterpretation gegenüber der DVO 1964 gebracht habe. Der erkennende Senat vermag dieser Auffassung nicht zu folgen. Nicht jede Änderung eines Gesetzes oder einer Verordnung ist notwendig gleichzeitig auch eine sachlich-rechtliche Inhaltsänderung. Das zeigt schon die auch vom LSG erwähnte Rechtsprechung des BSG zu § 5 DVO 1968. Das BSG hat zwar entschieden, daß die durch § 5 Abs. 2 neu in die DVO 1968 aufgenommene Regelung, wonach dem Abschluß einer Berufsausbildung eine 10-jährige Tätigkeit oder eine 5-jährige selbständige Tätigkeit in dem Beruf gleichsteht, auf dessen Ausübung sich die Schädigung nachteilig auswirkt, im zeitlichen Geltungsbereich der DVO 1964 noch nicht angewendet werden kann (vgl. Urteile vom 18. Juni 1969 - 8 RV 853/67 - und vom 16. September 1970 - 10 RV 663/69 -), weil es sich insoweit nicht um eine Legalinterpretation der vorhergehenden DVO 1964, sondern um eine sachlich-rechtliche Gesetzesänderung handelt, die erst vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens angewandt werden darf. Andererseits hat das BSG aber entschieden, daß die in § 5 Abs. 1 Satz 4 DVO 1968 enthaltene Bestimmung der "einer Mittelschulbildung gleichwertigen Ausbildung" keine sachlich-rechtliche Änderung der DVO, sondern lediglich eine die bereits in der DVO 1964 getroffene Regelung "erläuternde Definition" darstellt (vgl. BSG in SozR DVO 1964 zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG, Nr. 3 zu § 5; Urteil vom 5. Mai 1970 - 9 RV 608/69 - mit weiteren Nachweisen). Gleichermaßen ist die in § 5 Abs. 1 Satz 3 DVO 1968 neu aufgenommene Regelung über die Berücksichtigung einer abgeschlossenen Berufsausbildung ... nicht als sachlich-rechtliche Inhaltsänderung, sondern lediglich als Klarstellung angesehen worden (vgl. BSG in BVBl 1968, 130; Urteile BSG vom 29. September 1970 - 8 RV 613/69 -; vom 16. Juli 1971 - 10 RV 768/69 -).
Die Beurteilung der Frage, ob die Neufassung einer gesetzlichen Vorschrift eine bloße Klarstellung bzw. Legalinterpretation oder aber eine sachlich-rechtliche Inhaltsänderung darstellt, hängt somit davon ab, ob in der früheren Fassung nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (Wortlaut, Sinn und Zweck, Sachzusammenhang) bereits Anhaltspunkte vorhanden waren, die jetzt nur klargestellt und verdeutlich werden sollten, oder ob die geänderte Fassung über den mit den Mitteln der Interpretation zu erschließenden Inhalt der früheren Vorschrift hinausgegangen ist. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Einfügung des § 9 Abs. 4 in die DVO 1968, so zeigt sich, daß die gesetzliche Ausgestaltung des Berufsschadensausgleichs sowie der mit dieser Versorgungsleistung verfolgte Zweck auch bisher schon die Anrechnung eines fiktiven Arbeitseinkommens forderten.
Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des Berufsschadensausgleichs eine Entschädigung der Kriegsopfer, unabhängig vom Grade der MdE, entsprechend dem wirklich erlittenen Schaden erreichen (BT-Drucks. III/1239, S. 22, 25; vgl. zu den Grundsätzen des Berufsschadensausgleichs und des Schadensausgleichs der Witwen BSG 32, 1 ff). Dieser Berufsschadensausgleich wird jedoch nur dann gewährt, wenn ein schädigungsbedingter Einkommensverlust vorliegt, mit anderen Worten, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Minderung des Erwerbseinkommens und den Schädigungsfolgen besteht (vgl. § 30 Abs. 3 BVG) Gründe anderer Art, die zu einer Minderung des Erwerbseinkommens führen, begründen keinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich.
Entsprechend bestimmt bereits § 30 Abs. 6 BVG (idF des 1., 2. und 3. NOG, jetzt § 30 Abs. 7 BVG, daß dann, wenn arbeits- und berufsfördernde Maßnahmen nach § 26 BVG möglich und zumutbar sind, ein Berufsschadensausgleich nur zu gewähren ist, wenn diese Maßnahmen aus "vom Beschädigten nicht zu vertretenden Gründen" erfolglos geblieben sind oder nicht zum Ausgleich des beruflichen Schadens geführt haben. Durch § 30 Abs. 6 (Abs. 7) BVG wird also nicht nur eine Mitwirkungspflicht des Beschädigten gefordert, sondern es wird weiter bestimmt, daß ein Berufsschadensausgleich dann nicht - oder nicht in der alten Höhe - zu gewähren ist, wenn der Beschädigte die Erfolglosigkeit der berufsfördernden Maßnahmen und damit das - an sich abwendbare - Fortbestehen des Schadens selbst zu vertreten hat. Die Berücksichtigung und Anrechnung eines nicht erzielten, also fiktiven Arbeitseinkommens ist mithin dem System des Berufsschadensausgleichs nicht wesensfremd. Deshalb war es nur folgerichtig, wenn der BMA (BVBl 1966, 30) und der Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen (MinBl. NRW 1966, 684) ihre Rundschreiben, in denen sie die Anrechnung eines fiktiven Arbeitseinkommens bereits in den Jahren 1964 - 1966 für zulässig erachteten, mit dem Hinweis auf § 30 Abs. 6 BVG begründet haben. Die Auffassung des LSG daß die Frage der Anrechnung eines fiktiven Bruttoeinkommens vor dem Inkrafttreten der DVO 1968 keine Rolle gespielt habe, trifft also nicht zu. Vielmehr ist durch diese DVO der bisher nur in Anweisung an die Verwaltung enthaltene Ausdruck den o.a. gesetzlichen Grundgedankens in den Verordnungstext aufgenommen worden.
Hinzu kommt, daß auch an anderen Stellen im Versorgungsrecht ein dem Berechtigten tatsächlich nicht zur Verfügung stehender Anspruch oder Vermögenswert unter bestimmten Umständen angerechnet wird. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 DVO zu § 33 BVG wird, wenn der Schwerbeschädigte ohne verständigen Grund über Vermögenswerte in einer Weise verfügt, daß dadurch sein bei der Feststellung der Ausgleichsrente zu berücksichtigendes Einkommen gemindert wird, seine Ausgleichsrente so festgestellt, als hätte er die Verfügung nicht getroffen. Nach § 16 Abs. 2 DVO zu § 33 BVG sind - bei der Elternrente - als Einkommen der Eltern auch die Leistungen aufgrund bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsansprüche anzurechnen. § 16 Abs. 2 Satz 2 DVO zu § 33 BVG idF vom 11. Januar 1961 (BGBl I S. 19) besagte hierzu verdeutlichend, daß "der Betrag anzusetzen (ist), den der Verpflichtete zu leisten imstande ist, auch wenn die tatsächliche Leistung diesen Betrag nicht erreicht". Dieser Satz ist zwar seit dem Inkrafttreten der DVO zu § 33 BVG idF vom 22. Juli 1964 weggefallen; dadurch hat sich aber an der Rechtslage nichts geändert (vgl. van Nuis-Vorberg, Teil V S. 116). In ähnlicher Weise bestimmt § 17 Abs. 5 Satz 3 BVG für den Einkommensausgleich, daß dann, wenn der Beschädigte Ansprüche auf Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit, auf Übergansgeld und sonstige gesetzliche Geldleistungen nicht geltend macht, der ihm "dadurch entgehende Betrag" anzurechnen ist.
§ 44 Abs. 5 Satz 2 BVG enthält zwar erst seit seiner Fassung durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (vom 21. Februar 1964, BGBl I 85 - 2. NOG -) ausdrücklich die Möglichkeit, dann, wenn die Witwe ohne verständigen Grund auf einen Anspruch im Sinne des Satzes 1 - Versorgungs-, Renten- oder Unterhaltsansprüche, die sich aus der neuen Ehe herleiten - verzichtet, den Betrag anzurechnen, den der frühere Ehemann ohne den Verzicht zu leisten hätte. Das BSG hat jedoch bereits für die davorliegende Zeit ausgesprochen, daß ein von der Witwe ausgesprochener Unterhaltsverzicht für die Berechnung der wiederaufgelebten Witwenrente nicht zu beachten ist (vgl. BSG in SozR BVG Nr. 11; zu § 44; BVBl 1966, 119; Urteil vom 19. März 1969 - 10 RV 450/66 -). Nach Auffassung des BSG ist es nicht angängig, daß die Witwe ihre grundsätzlich mit den Ansprüchen aus der zweiten Ehe zu deckende Mindestversorgung selbst vereitelt; ein Verzicht könne daher die Anrechnung der - fiktiven - Ansprüche nicht hindern. Damit in Einklang steht die Rechtsprechung des BSG zu § 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 68 Abs. 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Diese Vorschriften über die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen aus der zweiten Ehe enthalten zwar keine besondere Regelung darüber, was bei einem Unterhaltsverzicht geschehen soll. Gleichwohl haben die für die Rentenversicherung zuständigen Senate des BSG ausgesprochen, daß auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Unterhaltsanspruch anzurechnen ist, der der Witwe ohne den Verzicht nach dem Ehe-Gesetz zustehen würde (vgl. BSG 19, 153; 21, 279).
Ergänzend kann auf die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) hingewiesen werden. Nach § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB hängt der Umfang des von dem Schädiger zu leistenden Schadensersatzes u.a. davon ab, inwieweit der Geschädigte es schuldhaft unterlassen hat, den erlittenen Schaden zu mindern. Aus dieser Vorschrift wird gefolgert, daß ein Unfallverletzter verpflichtet ist, die ihm verbliebene Arbeitskraft bei einer ihm zumutbaren Erwerbsmöglichkeit nutzbringend zu verwerten und sich notfalls einer Umschulung zu unterziehen (BGHZ 10, 18, 20; BGH VersR 1959, 374; Palandt § 254 Anm. 2 b), und daß sich sein Ersatzanspruch mindert, wenn er dieser Pflicht nicht in zumutbarem Umfang nachkommt (vgl. auch § 846 BGB).
Die genannten Vorschriften und die zitierte Rechtsprechung machen deutlich, daß zu den allgemeinen Grundsätzen unserer Rechtsordnung, insbesondere aber des Sozialrechts und des Kriegsopferrechts die Pflicht des Anspruchsberechtigten gehört, den eingetretenen Schaden durch zumutbare Maßnahmen möglichst gering zu halten, und daß er insbesondere nicht berechtigt ist, eine mögliche und ihm zumutbare Schadensminderung zu vereiteln. Die öffentliche Hand soll zur Leistungsgewährung insoweit nicht verpflichtet sein, als die erhöhten Leistungen auf vom Berechtigten zu vertretende Gründe zurückzuführen sind (vgl. § 30 Abs. 6 BVG). Besteht aber ein solcher Grundsatz im Versorgungsrecht, dann war die Neuregelung, die § 9 Abs. 4 durch die DVO 1968 erfahren hat, entgegen der Auffassung des LSG "sowohl rechtlich als auch wirtschaftlich gesehen" nicht so erheblich, daß sie als sachlich-rechtliche Gesetzesänderung anzusehen ist. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es sich insoweit nur um eine Klarstellung durch Gesetzesinterpretation gehandelt hat und daß bereits unter der Geltungsdauer der DVO 1964, also für die hier streitige Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1966, der gleiche Rechtszustand bestanden hat, daß also ein fiktives Arbeitseinkommen dann angerechnet werden kann, wenn der Beschädigte seine Arbeitskraft nicht in zumutbarem Umfang einsetzt.
Gleichwohl konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Das LSG, das eine Anrechnung für diese Zeit nicht für zulässig erachtet hat, hat lediglich festgestellt, daß der Kläger im Dezember 1965 eine Arbeitsstelle aus subjektiven Gründen nicht angetreten hat. Es hat weiter festgestellt, daß der Kläger ab 1. Januar 1967 dem Arbeitsmarkt objektiv zur Verfügung gestanden hat, daß die Tatsache seiner Nichtvermittlung auf subjektiven Gründen beruht, daß die anerkannten Schädigungsfolgen ihn nicht daran gehindert haben, eine Arbeit als Pförtner und Bote zu versehen, und daß auch keine anderen schwerwiegenden Erkrankungen vorgelegen haben, die ihn an einer Arbeitsaufnahme gehindert hätten. Diese Feststellungen sind jedoch nicht ausreichend um zu entscheiden, ob der Kläger auch in der hier noch streitigen Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1966 ohne verständigen Grund seine Arbeitskraft nicht in zumutbarem Umfang eingesetzt hat. Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, selbst die hierzu erforderlichen Feststellungen zu treffen. Nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ist daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen