Leitsatz (amtlich)

War schon zu Lebzeiten des Berechtigten die Neufeststellung der zu niedrig festgestellten Rente nach RVO § 1300 von Amts wegen möglich und geboten, so kann der Rechtsnachfolger die dem Berechtigten vorenthaltenen Rentenbeträge nach RVO § 1288 Abs 1 beanspruchen.

 

Normenkette

RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23, § 1288 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 14. April 1971 und der Bescheid der Beklagten vom 18. März 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 1969 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Versichertenrente ihres verstorbenen Ehemannes unter zusätzlicher Berücksichtigung von 80 Wochenbeiträgen der Klasse IX vom 7. Dezember 1952 an zu erteilen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob die Klägerin als Witwe und Rechtsnachfolgerin des Versicherten i.S. von § 1288 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die ihm infolge eines fehlerhaften Rentenbescheids vorenthaltenen Rentenbeträge nachgezahlt erhalten kann.

Der Versicherte hatte von der Beklagten aufgrund des am 24. Februar 1953 erteilten Bescheids Rente vom 7. Dezember 1952 an bezogen. Nach seinem Tode (31. August 1968) bewilligte die Beklagte der Klägerin die Bezüge für das sog. Sterbevierteljahr und die Witwenrente (Bescheid vom 16. Oktober 1968). Dabei stellte sich heraus, daß die Beklagte bei der Berechnung der Versichertenrente zu Unrecht 80 Wochenbeiträge der Klasse IX unberücksichtigt gelassen hatte. Die Beklagte lehnte jedoch eine Neuberechnung der Versichertenrente ab, weil der Versicherte selbst zu Lebzelten keine Neufeststellung der Rente nach § 1300 RVO beantragt habe (Bescheid vom 18. März 1969).

Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) ging davon aus, daß die Beklagte - nach ihrer eigenen Einlassung - die Versichertenrente infolge der Nichtanrechnung von 80 Wochenbeiträgen der Klasse IX von Anfang an zu Unrecht zu niedrig festgestellt habe. Der Fehler sei zwar ausschließlich durch eine nicht korrekte Bearbeitung des Rentenantrags des Versicherten durch einen Bediensteten der Beklagten entstanden. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. Oktober 1968 (SozR Nr. 6 zu § 1288 RVO) seien aber die Rechte der Rechtsnachfolger gemäß § 1288 Abs. 2 RVO auf die Fortsetzung anhängiger Verfahren beschränkt. Habe der Versicherte nicht selbst ein Verfahren nach § 1300 RVO anhängig gemacht, so könne ein solches auch von seinen Rechtsnachfolgern nicht aufgenommen werden. Das SG ließ die Berufung zu (Urteil vom 14. April 1971).

Die Klägerin hat mit Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 1288, 1300 RVO.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie die Bescheide der Beklagten vom 18. März und 10. Dezember 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin einen neuen Bescheid unter zusätzlicher Berücksichtigung von 80 Wochenbeiträgen der Klasse IX für ihren verstorbenen Ehemann vom 7. Dezember 1952 an zu erteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II

Die nach § 161 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Sprungrevision ist begründet.

Nach den von der Beklagten nicht mit Gegenrügen angefochtenen und daher für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des angefochtenen Urteils hat sich die Beklagte bei einer nach dem Tod des Berechtigten vorgenommenen Prüfung davon überzeugt, daß die Versichertenrente von Anfang an zu niedrig festgestellt worden war. Das SG hat sich nur deshalb gehindert gesehen, die Beklagte zu einer Neufeststellung der Leistung nach § 1300 RVO zu verpflichten, weil es der Entscheidung des erkennenden Senats vom 31. Oktober 1968 (SozR Nr. 6 zu § 1288 RVO) die auch von der Beklagten vertretene Auffassung entnommen hat, der Rechtsnachfolger könne - gestützt auf § 1300 RVO - keine Ansprüche erheben, die der Berechtigte selbst zu Lebzeiten nicht geltend gemacht hat. Jener vom Senat entschiedene Rechtsstreit wies indes die Besonderheit auf, daß bis zum Tode des Berechtigten für den Versicherungsträger kein Anlaß zu einer Nachprüfung nach § 1300 RVO bestanden hatte, weil sich die Unrichtigkeit des Rentenbescheids erst nach dem Tode der Berechtigten aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Juli 1963 zu § 1262 -Abs. 5 RVO idF vom 23. Februar 1957 (BVerfG 17, 1) herausgestellt hatte.

Im vorliegenden Streitfall dagegen hätte sich die Beklagte bei einer von Amts wegen vorzunehmenden Nachprüfung auf Grund der ihr vollständig vorliegenden Versicherungsunterlagen schon zu Lebzeiten des Versicherten von der Unrichtigkeit der Rentenfeststellung überzeugen und die Rente in richtiger Höhe festsetzen müssen. Es bedurfte hierzu keines Antrags und keiner sonstigen Mitwirkung des Versicherten.

Der Senat ist der Auffassung, daß jedenfalls dann, wenn schon zu Lebzeiten des Berechtigten die Neufeststellung einer Rente nach § 1300 RVO von Amts wegen möglich und geboten war, auch der Rechtsnachfolger die dem Berechtigten vorenthaltenen Rentenbeträge beanspruchen kann (ebenso im Ergebnis BSG in SozR Nr. 3 zu § 619 RVO aF). In diesem Fall ist nämlich die zustehende Rente beim Tode des Versicherten noch nicht - voll - ausgezahlt worden. Der dem Berechtigten vorenthaltene Rentenbetrag steht daher nach § 1288 Abs. 1 RVO dem Rechtsnachfolger zu. Ein Anwendungsfall des § 1288 Abs. 2 RVO, der ein beim Tode des Berechtigten anhängiges Verfahren voraussetzt, liegt nicht vor. Im Hinblick auf das von Amts wegen gebotene Tätigwerden des Versicherungsträgers nach § 1300 RVO ist es in einem Fall der vorliegenden Art, in dem lediglich die Rentenberechnung richtig zu stellen ist, weder erforderlich, ein förmliches Verfahren durch einen Antrag nach § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO einzuleiten, noch bedarf es der "Fortsetzung" eines solchen Verfahrens durch den in Betracht kommenden Rechtsnachfolger. Danach bleibt aber allein § 1288 Abs. 1 RVO anwendbar.

Die Anwendung dieser Vorschrift bedeutet auch keine unzulässige Ausweitung der in ihr geregelten Sonderrechtsnachfolge gegenüber den allgemeinen erbrechtlichen Vorschriften. Das Gesetz brauchte den Ausnahmefall, daß der Versicherungsträger beim Tode des Berechtigten die Rente nicht in der richtigen Höhe ausgezahlt hat, in § 1288 Abs. 1 RVO nicht ausdrücklich zu erwähnen. Es kann vielmehr ohne Bedenken angenommen werden, daß der Gesetzgeber einen Fall wie den vorliegenden in die Regelung des § 1288 Abs. 1 RVO mit einbeziehen wollte. Es handelt sich insoweit um einen besonderen Anwendungsfall der in der Vorschrift bestimmten Sonderrechtsnachfolge. Über eine nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes gerechtfertigte ergänzende Rechtsfindung (vgl. hierzu auch BSG 20, 282) kann somit die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versicherten gemäß § 1288 Abs. 1 RVO die Auszahlung der richtigen Rente beanspruchen, die bisher dem Berechtigten versagt geblieben ist. Soweit das zu § 1288 Abs. 2 RVO ergangene Urteil des Senats vom 31. Oktober 1968, insbesondere die Fassung des dazu veröffentlichten Leitsatzes, auf eine andere Rechtsauffassung hinweisen könnte, wird daran nicht festgehalten.

Der hier getroffenen Entscheidung steht auch nicht die zu § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) ergangene Rechtsprechung entgegen (vgl. BSG 22, 210 = BSG in SozR Nr. 9 zu. § 40 VerwVG und zuletzt Urteil vom 4.5.1972 - 10 RV 795/70). Diese Vorschrift unterscheidet sich schon im Wortlaut von § 1300 RVO. Auch enthält das Recht der Kriegsopferversorgung keine dem § 1288 RVO entsprechende Regelung einer Sonderrechtsnachfolge gegenüber den allgemeinen erbrechtlichen Vorschriften. Anders als dort kann es daher im Rentenversicherungsrecht nicht darauf ankommen, ob für den Berechtigten bereits eine der Vererbung unterliegende Anwartschaft auf Erteilung eines neuen Bescheids bestanden hatte.

Danach ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Versichertenrente ihres verstorbenen Ehemannes unter zusätzlicher Berücksichtigung von 80 Wochenbeiträgen der Klasse IX vom 7. Dezember 1952 an zu erteilen (§ 170 Abs. 2 Satz I SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 196

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