Leitsatz (amtlich)
Der Ehegatte einer Versicherten kann nach deren Tode als ihr Rechtsnachfolger iS des RVO § 1288 Abs 2 (Bezugsberechtigter) nicht gemäß RVO § 1300 die Neufeststellung der zu niedrig festgestellten Rente der Versicherten beanspruchen, wenn zu Lebzeiten der Versicherten ein Verwaltungsverfahren über eine Neufeststellung nicht eingeleitet war.
Orientierungssatz
1. Dem Fall, daß ein Anspruch vom Versicherten nicht erhoben ist (RVO § 1288 Abs 2), steht der Fall gleich, daß der erhobene Anspruch zu Lebzeiten des Versicherten bindend abgelehnt worden ist; damit ist der Antrag mit dem der Anspruch erhoben worden ist, verbraucht.
2. Der Ehemann kann nicht nach erbrechtlichen Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Neufeststellung der Rente für seine verstorbene Ehefrau beanspruchen. RVO § 1288 Abs 2 ist eine Sondervorschrift, die bei den in dieser Vorschrift genannten Berechtigten den allgemein erbrechtlichen Vorschriften vorgeht (vergleiche BSG 1968-05-29 4 RJ 465/67 = BSGE 15, 157 = SozR Nr 8 zu § 1302 RVO).
Normenkette
RVO § 1288 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1300 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 3. Mai 1965 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1964 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 1964 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Beklagte dem Kläger einen Bescheid über die Gewährung von Kinderzuschuß zur Versichertenrente seiner verstorbenen Ehefrau zu erteilen hat (§§ 1288 Abs. 2, 1300 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger ist der Ehemann der Versicherten, G L. Sie ist am 4. Mai 1963 gestorben. Das Ehepaar hat einen 1950 geborenen Sohn. Die Versicherte bezog vom 1. Juni 1960 bis zum Tod Versichertenrente. Die Rente enthielt keinen Kinderzuschuß.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 24. Juli 1963 § 1262 Abs. 5 RVO für nichtig erklärt hatte (BGBl I 1963, 693), beantragte der Kläger im Juni 1964, nachträglich, die Rente der Versicherten um den Kinderzuschuß zu erhöhen. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 7. Juli 1964 mit der Begründung ab, § 1288 RVO könne nicht angewandt werden, da das Rentenverfahren beim Tode der Versicherten bereits abgeschlossen gewesen sei; ein Antrag auf Überprüfung nach § 1300 RVO könne, wie der erstmalige Rentenantrag, von Hinterbliebenen nicht gestellt werden. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 4. November 1964).
Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat mit Urteil vom 3. Mai 1965 die Bescheide vom 7. Juli und 4. November 1964 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid mit der Maßgabe zu erteilen, daß die seiner verstorbenen Ehefrau zu Lebzeiten gewährte Versichertenrente um den Kinderzuschuß erhöht wird. Die Berufung wurde zugelassen.
Das SG hat sinngemäß im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe sich nach der Entscheidung des BVerfG davon überzeugt, daß die Rente um den Kinderzuschuß zu niedrig festgestellt worden sei. Sie könne einen Bescheid nach § 1300 RVO nicht verweigern, wenn ein Nachfolgeberechtigter im Sinne von § 1288 RVO vorhanden sei. Dabei müsse sie von dem ursprünglichen Antrag der verstorbenen Versicherten ausgehen. Insoweit handle es sich im weiteren Sinne um die Fortsetzung des alten Rentenverfahrens. Auf einen späteren Antrag komme es nicht an, weil die Neufeststellung nach § 1300 RVO keinen Antrag voraussetze.
Die Beklagte hat mit schriftlicher Einverständniserklärung des Klägers Sprungrevision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie ist der Auffassung, aus § 1288 Abs. 2 RVO folge, daß der Gesetzgeber nur dann eine Rechtsnachfolge gewollt habe, wenn der Versicherte bereits ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt habe und dieses noch nicht bindend abgeschlossen worden sei. Eine Fortsetzung des abgeschlossenen Verfahrens nach dem Tode des Versicherten sei nicht möglich. § 1300 RVO solle nur da angewandt werden, wo es dem Berechtigten selbst zugute komme. Da § 1262 Abs. 5 RVO erst nach dem Tode der Versicherten für nichtig erklärt worden sei, habe zu Lebzeiten der Versicherten eine Entscheidung nach § 1300 RVO nicht ergehen können.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er meint, der Kinderzuschuß sei ein Bestandteil des Rentenanspruches und ein besonderer Antrag sei dafür nicht erforderlich. Der Differenzbetrag sei als Nachlaß auf ihn übergegangen.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger einen Bescheid mit der Neufeststellung der um den Kinderzuschuß erhöhten Rente der Versicherten zu erteilen (§ 1300 RVO, § 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Nach § 1300 RVO hat der Träger der Rentenversicherung eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich überzeugt, daß sie zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist.
Daß die Rente der Versicherten zu niedrig festgestellt worden ist, steht fest, ist auch unstreitig. Denn die Nichtgewährung des Kinderzuschusses zu der Rente konnte nur die Vorschrift des § 1262 Abs. 5 RVO rechtfertigen, die aber das BVerfG für nichtig erklärt hat. Die im Urteil des BVerfG vom 24. Juli 1963 (BVerfG 17, 1 = SozR A b 23 Nr. 52 zu Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) erklärte Nichtigkeit des § 1262 Abs. 5 RVO besteht auch von Anfang an (BVerfG 7, 377, 387). Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - BVerfGG - bleiben aber die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung unberührt. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Vorrang vor dem Gedanken des Rechtsschutzes des Einzelnen gegeben (BVerfG 7, 194, 195 f; 11, 263, 265). Die Nichtigerklärung des § 1262 Abs. 5 RVO gibt demnach bei Vorhandensein eines binden Bescheides ein Recht, vom Versicherungsträger die Erteilung eines neuen Bescheides unter Berücksichtigung der Nichtigerklärung zu verlangen, nur dann, wenn eine besondere gesetzliche Regelung dieses Recht begründet. Die Nichtigerklärung bildet auch nicht einen Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 RVO. Ob § 1300 RVO unter die in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vorbehaltenen besonderen gesetzlichen Regelungen fällt, kann offen bleiben. Denn auch dann, wenn diese Frage zu bejahen wäre, wäre der Anspruch des Klägers nicht begründet.
Der Kläger verfolgt nämlich nicht Ansprüche, die in seiner Person entstanden sind. Deshalb gilt für ihn § 1288 Abs. 2 RVO.
Dieser lautet, soweit er hier in Betracht kommt: "Stirbt ein Versicherter ..., nachdem er seinen Anspruch erhoben hatte, so sind zur Fortsetzung des Verfahrens und zum Bezuge der bis zum Todestage fälligen Beträge nacheinander berechtigt der Ehegatte ..., wenn sie mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind". Danach kann ein Rechtsnachfolger, der zu den in § 1288 Abs. 2 RVO berechtigten Personen gehört, einen Leistungsanspruch eines Versicherten nur verfolgen, wenn dieser seinen Anspruch erhoben hatte und bei seinem Tod ein Verfahren hierüber, das fortgesetzt werden konnte, noch im Gange war.
Zur Zeit des Todes der Versicherten war bei der Beklagten aber kein Verfahren über einen erhobenen Anspruch mehr anhängig. Das Verfahren über den Rentenantrag war vielmehr mit der Rücknahme der Klage durch die Versicherte beendet worden.
Die Versicherte hatte im Jahre 1961 Versichertenrente beantragt. Der Antragsvordruck enthält die Frage Nr. 39:
Sind Kinder unter 25 Jahre vorhanden? Falls "ja" und falls für diese Kinder Kinderzuschuß beantragt wird, ist die "Anlage B zum Rentenantrag über zuschußberechtigte Kinder" auszufüllen und dem Rentenantrag beizufügen.
Die Versicherte hat die Frage nicht beantwortet und keine Anlage B vorgelegt. In dem Rentenbescheid der Beklagten vom 9. März 1962 sind auf Blatt 1 die Spalte "zuschußberechtigte Kinder" und auf Blatt 3 die Felder über die Berechnung eines Kinderzuschusses unausgefüllt. Die Versicherte hatte mit der Klage gegen diesen Bescheid - die sie später zurückgenommen hat -, lediglich die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt; der Kinderzuschuß kam nicht zur Sprache. Der Kinderzuschuß braucht freilich nicht eigens beantragt zu werden, weil er als Bestandteil der Rente vom Rentenantrag mitumfaßt wird (vgl. BSG 10, 131; SozR Nr. 4 zu § 1262 RVO). Bei den einschränkenden Voraussetzungen des für nichtig erklärten § 1262 Abs. 5 RVO - überwiegendes Bestreiten des Unterhalts des Kindes durch die versicherte Ehefrau vor Eintritt des Versicherungsfalles - ist daraus, daß die Versicherte das Kind im Antrag nicht angegeben und die Anlage B nicht beigefügt hat, zu entnehmen, daß sie einen Anspruch auf Kinderzuschuß nicht als gegeben ansah, weil sie die damaligen Voraussetzungen nicht erfüllte. Bei dieser Sach- und Rechtslage bedeutet der Umstand, daß in dem Rentenbescheid die Spalte "zuschußberechtigte Kinder" und die Felder über die Berechnung des Kinderzuschusses unausgefüllt sind, nicht, daß das Rentenverfahren hinsichtlich des Kinderzuschusses noch beim Versicherungsträger anhängig geblieben wäre und erst noch durch einen weiteren ergänzenden Bescheid abgeschlossen werden müßte. Vielmehr bedeutet der Rentenbescheid insoweit, daß die Rente nicht um einen Kinderzuschuß erhöht wird. Antrag und Bescheid stimmen überein. Auch die Versicherte hat den Bescheid so verstanden, wie ihr Verhalten im Klageverfahren zeigt, in dem sie sich nicht gegen die Nichtgewährung eines Kinderzuschusses gewandt hat. Zur Zeit des Todes der Versicherten war somit kein Verwaltungsverfahren bei der Beklagten anhängig, das nach dem Tod vom Rechtsnachfolger "fortgesetzt" werden könnte.
Dem Fall, daß ein Anspruch vom Versicherten nicht erhoben ist, steht der Fall gleich, daß der erhobene Anspruch zu Lebzeiten des Versicherten bindend abgelehnt worden ist. Damit ist der Antrag, mit dem der Anspruch erhoben worden ist, verbraucht und zur Zeit des Todes war eine Entscheidung darüber nicht mehr offen.
Dem steht nicht entgegen, daß der nach § 1288 Abs. 2 RVO zur Fortsetzung des Verfahrens berechtigte Sondernachfolger die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 RVO betreiben kann (BSG 6, 283). Die Anregung zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens nach § 1300 RVO ist nicht mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 RVO gleichzusetzen; denn diese Anträge sind rechtlich verschieden. Die Wiederaufnahmegründe nach § 1744 RVO betreffen schwere Fehler beim Zustandekommen der früheren Entscheidung und die Unrichtigkeit von Entscheidungsunterlagen. Sie beziehen sich nicht auf den materiell-rechtlichen Inhalt der früheren Entscheidung. Die Wiederaufnahme ermöglicht es, über den Antrag, über den in einem früheren fehlerhaften Verfahren bindend entschieden worden ist, nunmehr in einem gesetzmäßigen Verfahren von neuem zu entscheiden. Der materiell-rechtliche Inhalt der mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zu beseitigenden Entscheidung ist ohne Belang. Es ist unerheblich, ob bei dem fehlerfrei von neuem durchgeführten Verfahren materiell-rechtlich eine andere oder die gleiche Entscheidung wie früher getroffen wird. Aus diesem Grunde braucht bei der Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 RVO nicht auf die Natur des materiell-rechtlichen Anspruchs abgestellt zu werden, so daß auch bei höchstpersönlichen Ansprüchen der Rechtsnachfolger die Wiederaufnahme des Verfahrens betreiben kann.
Anders ist es bei § 1300 RVO. Diese Vorschrift betrifft gerade die Entscheidung über den materiell-rechtlichen Anspruch in dem früheren Bescheid. Dabei tritt die höchstpersönliche Natur der Rentenansprüche - anders als bei der Wiederaufnahme des Verfahrens - in den Vordergrund, Hinsichtlich dieser Ansprüche sind die Rechte der Rechtsnachfolger in den Fällen des § 1288 Abs. 2 RVO auf die Fortsetzung anhängiger Verfahren beschränkt.
Daß ein Neufeststellungsbescheid nach § 1300 RVO nicht eines Antrages bedarf, steht nicht entgegen; denn die Beklagte hatte jedenfalls bis zum Tode der Versicherten nicht von Amts wegen ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet. Sie hatte hierzu auch keinen Anlaß, da § 1262 Abs. 5 RVO erst nach dem Tode der Versicherten für nichtig erklärt worden ist.
Der Kläger kann nicht nach erbrechtlichen Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Neufeststellung der Rente der Versicherten beanspruchen. § 1288 Abs. 2 RVO ist eine Sondervorschrift, die bei den in dieser Vorschrift genannten Berechtigten den allgemeinen erbrechtlichen Vorschriften vorgeht (BSG 15, 157; Urteil vom 29. Mai 1968 - 4 RJ 465/67 -).
Zu § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) - zu Gunsten des Berechtigten kann die zuständige Verwaltungsbehörde jederzeit einen neuen Bescheid erteilen - hat das Bundessozialgericht entschieden, daß Berechtigter nur derjenige ist, dessen Versorgungsanspruch in dem früheren Bescheid zu Unrecht abgelehnt worden ist; seine Erben sind nicht Berechtigte im Sinne dieser Vorschrift (SozR Nr. 9 zu § 40 VerwVG und Urteil vom 8. März 1966 - 10 RV 516/64 - BVBl 1966, 117). Es hat dies außer aus dem Wortlaut auch aus dem Sinn und Zweck des § 40 VerwVG entnommen. Nur derjenige, dessen Versorgungsanspruch durch den früheren Bescheid zu Unrecht abgelehnt worden sei, weil das materielle Recht nicht richtig angewandt worden sei, sei der Berechtigte; es sei nicht Aufgabe der Kriegsopferversorgung, mit einem Bescheid nach § 40 VerwVG noch nach dem Tod des Beschädigten eine Versorgung zu Gunsten Dritter zu gewähren.
Diese Grundgedanken über den Sinn und Zweck der Versorgung finden in § 1288 Abs. 2 RVO Ausdruck für die gesetzliche Rentenversicherung und bestätigen die Auslegung des § 1288 Abs. 2 RVO im Zusammenhang mit § 1300 RVO. Sowohl die Kriegsopferversorgung als auch die gesetzliche Rentenversicherung gewähren Rentenansprüche höchstpersönlicher Natur.
Da die Voraussetzungen des § 1288 Abs. 2 RVO hier nicht erfüllt sind, ist der Kläger nicht berechtigt, von der Beklagten die Nachprüfung des Rentenbescheides der Versicherten zu verlangen. Seine gegen die Beklagte gerichtete Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist daher nicht begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen