Leitsatz (amtlich)

Einem Kind, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet, steht die Waisenrente nach RVO § 1267 S 3 über die Vollendung des 25. Lebensjahres hinaus auch dann zu, wenn der Versicherungsfall des Todes erst während oder nach der Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht, aber vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Kindes eingetreten ist.

 

Normenkette

RVO § 1267 S. 3 Fassung: 1964-04-14

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Waisenrente nach § 1267 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) über das 25. Lebensjahr hinaus zu gewähren ist.

Der im März 1944 geborene Kläger leistete von April 1965 bis März 1967 Wehrdienst. Im Sommer 1967 begann er mit einem Hochschulstudium. Am 5. Juni 1968 starb seine Mutter (Versicherte). Im September 1969 heiratete der Kläger.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger Waisenrente von Juni 1968 bis März 1969 (Vollendung des 25. Lebensjahres). Der Kläger begehrte die Weitergewährung der Rente mit dem Hinweis, durch den abgeleisteten Wehrdienst sei seine Hochschulausbildung verzögert worden. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Wehrdienst bereits vor Beginn der Waisenrente beendet gewesen sei (Bescheid vom 26. März 1969).

Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte, die Waisenrente für die Zeit von April bis September 1969 weiterzugewähren; es ließ die Berufung zu (Urteil vom 8. Juli 1970). Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück. Auf die Berufung des Klägers verpflichtete es die Beklagte, Halbwaisenrente bis zum 30. September 1970 zu zahlen:

Die Voraussetzung für die Gewährung der Rente über das 25. Lebensjahr hinaus nach § 1267 Satz 3 RVO sei auch dann gegeben, wenn der Versicherungsfall des Todes erst nach der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht des Kindes eingetreten sei. Die gegenteilige Rechtsansicht der Beklagten stehe weder mit dem Wortlaut der Vorschrift noch mit dem Grundgedanken der Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente in Einklang. Das Gesetz verlange lediglich, daß durch die Wehr- oder Ersatzdienstleistung der Abschluß der Schul- oder Berufsausbildung hinausgeschoben worden sei. Dagegen sei dem Gesetz nicht zu entnehmen, daß die Zahlung der Waisenrente durch den Unterbrechungs- und Verzögerungstatbestand hinausgeschoben sein müsse.

Entgegen der Auffassung des SG stehe dem Kläger die Halbwaisenrente nicht nur bis zum 30. September 1969, sondern bis zum 30. September 1970 zu, weil das Bundesverfassungsgericht festgestellt habe, daß die Beschränkung der Waisenrentenzahlung auf eine unverheiratete Waise entsprechend der Regelung in § 1267 Satz 2 RVO aF grundgesetzwidrig sei. Nach Art. 2 und 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 sei dies auch im Falle des Klägers zu berücksichtigen. Die Anschlußberufung des Klägers sei daher begründet.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.

Sie rügt eine Verletzung des § 1267 Satz 3 RVO. Diese Vorschrift sehe die Weitergewährung der Waisenrente über das 25. Lebensjahr hinaus lediglich für den Fall des Verlustes einer Rentenbezugsberechtigung infolge Ableistung des Pflichtwehrdienstes vor. Der Kläger habe aber zur Zeit der Wehrdienstleistung noch gar keinen Waisenrentenanspruch gehabt, weil der Versicherungsfall des Todes seiner Mutter erst Später eingetreten sei. Demzufolge könne auch keine (bereits bestehende) Rentenbezugsberechtigung durch die Erfüllung der Wehrdienstpflicht nachteilig beeinflußt worden sein.

Im übrigen beruhe die Zuerkennung der Waisenrente für die Zeit von Oktober 1969 bis September 1970 auch auf einem Verstoß gegen § 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil der Kläger keine formgerechte Anschlußberufung eingelegt habe. Zwar dürfe die Anschlußberufung noch in der mündlichen Verhandlung zur Niederschrift des Gerichts erklärt werden. An einer solchen Erklärung fehle es hier aber. Sie könne auch bei Beachtung der im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.10.1968 (SozR Nr. 11 zu § 521 der Zivilprozeßordnung -ZPO-) dargelegten Gesichtspunkte nicht einfach darin erblickt werden, daß der Kläger seinen am 18. Mai 1971 protokollierten Antrag z.T. "im Wege der Anschlußberufung" gestellt habe. Damit habe er wohl lediglich auf eine vermeintlich vorher eingelegte Anschlußberufung Bezug nehmen wollen. Insoweit sei aber das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß frühere Schriftsätze des Klägers nicht als Anschlußberufung anzusehen seien.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Hessischen LSG vom 18. Mai 1971 und das Urteil des SG Fulda vom 8. Juli 1970 aufzuheben sowie die Klage abzuweisen und die Anschlußberufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er stimmt der Entscheidung des Berufungsgerichts zu.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht einen Waisenrentenanspruch des Klägers nach § 1267 Satz 3 RVO im streitigen Zeitraum bejaht.

Wie das BSG bereits mehrfach ausgeführt hat, wird Waisenrente bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein Kind in Schul- oder Berufsausbildung gewährt (§ 1267 Satz 2 RVO), weil das Kind - entgegen dem angenommenen Regelfall in Satz 1 der Vorschrift - auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres infolge der Ausbildung seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann und deshalb noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen ist (vgl. BSG 21, 185, 187; BSG in Mitt. Bundeskn. 1970, 112 und Urteil des erkennenden Senats vom 22. Juni 1972 - Az.: 12 RJ 174/71). Die Ableistung des gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes ist keine Berufsausbildung i.S. von § 1267 Satz 2 RVO. Satz 3 der Vorschrift will einen Ausgleich für den Zeitverlust gehen, den das Kind in seiner Schul- oder Berufsausbildung durch die zwischenzeitliche oder vorausgegangene Erfüllung der gesetzlichen Dienstpflicht erfahren und der dazu geführt hat, daß sich das Kind auch noch nach der Vollendung des 25. Lebensjahres in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Sowohl im Falle der Unterbrechung, als auch im Falle der Verzögerung der Ausbildung steht ihm daher nach der Vollendung des 25. Lebensjahres noch für diejenige Zeit Waisenrente zu, in der es vorher ursächlich durch den Wehr- oder Ersatzdienst am Beginn oder an der Fortsetzung seiner Berufsausbildung gehindert gewesen ist.

Diese Regelung entspricht aber auch dann der aufgezeigten Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente, wenn der Versicherungsfall des Todes erst nach der Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht des Kindes eingetreten ist. Dies zeigt gerade der vorliegende Sachverhalt: Der Kläger hätte ohne die Wehrdienstleistung sein Hochschulstudium zu einen dem Antritt des Wehrdienstes entsprechenden früheren Zeitpunkt beginnen können. Damals hätte der Unterhalt des Klägers noch von der Versicherten getragen werden können. Die Erfüllung der gesetzlichen Dienstpflicht hat dem Kläger diese Unterhaltssicherung für eine der Wehrdienstdauer entsprechende Ausbildungszeit indes unabhängig vom Eintritt des Versicherungsfalls genommen. Der Versicherungsfall des Todes vermag daher für die Ausdehnung der Leistung nach § 1267 Satz 3 RVO nur insofern eine Grenze zu ziehen, als das Kind - wie bereits der Wortlaut der Vorschrift ergibt - vor Vollendung des 25. Lebensjahres Waise geworden sein muß.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es somit nach dem Sinn und Zweck der Waisenrente als Unterhaltsersatz nicht darauf an, ob dem Kind durch den Wehr- oder Ersatzdienst auch eine sonst gegebene Berechtigung zum Bezug der Waisenrente genommen worden ist, was den vorherigen Eintritt des Versicherungsfalles erfordern würde. Für eine solche Einschränkung gibt auch der Wortlaut des § 1267 Satz 3 RVO keinen genügenden Anhalt. Die gegenteilige Meinung (vgl. Verbandskommentar, Anm. 21 zu § 1262 RVO und Koch/Hartmann/v.Altrock/Fürst, Angestelltenversicherungsgesetz, Anm. C II, 2 e zu § 39 AVG) läßt unberücksichtigt, daß die Vorschrift erst durch § 36 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vom 14. April 1964 (BGBl I 265) dem Satz 2 des § 1267 RVO angefügt worden ist. Die Ergänzung in § 1267 Satz 3 RVO entspricht der Regelung in § 2 Abs. 2 Satz 3 BKGG, bei welcher der Eintritt eines Versicherungsfalles ohnehin nicht in Betracht kommt. Aus der Begründung zum Gesetzesvorschlag (BT-Drucks. IV/818 S. 13) läßt sich daher die von der Beklagten gewollte Einschränkung der Vorschrift im Sinne eines Ausgleichs für eine ohne die gesetzliche Dienstleistung bestehende Rentenbezugsberechtigung nicht entnehmen. Es heißt dort lediglich: "Kinder, die Wehrdienst ... geleistet haben, sollen noch nach Vollendung ihres 25. Lebensjahres als Kinder berücksichtigt werden und zwar für den Zeitraum, um den ihre Ausbildung durch den Wehrdienst ... verzögert worden ist. Die Vorschrift ist § 559 b Abs. 3 Satz 2 RVO nachgebildet". Bei der dem Gesetzgeber damals somit bekannten Anwendung des § 559 b Abs. 3 Satz 2 RVO idF des Gesetzes vom 29.12.1960 (BGBl I 1085) blieb indes - soweit ersichtlich - der Zeitraum der Ableistung der Wehrpflicht unbeachtlich, sofern nur die Dienstleistung für die Unterbrechung oder Verzögerung der Schul- oder Berufsausbildung über das 25. Lebensjahr hinaus ursächlich gewesen ist (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 13 a zu § 559 b RVO aF). Diese Auslegung entspricht schließlich auch den Fassungen ähnlicher Vorschriften in anderen Gesetzen (vgl. insbesondere § 164 Abs. 2 Satz 2 Bundesbeamtengesetz).

Auch wenn somit ein Kind erst während der Erfüllung der genannten Dienste oder - wie der Kläger - in der Zeit danach, aber vor Vollendung des 25. Lebensjahres Waise wird, sind die Voraussetzungen für die über das 25. Lebensjahr hinaus verlängerte Waisenrente wegen Schul- oder Berufsausbildung gegeben. Soweit Ausführungen in dem Urteil des Senats vom 7. Juli 1970 (SozR Nr. 40 zu § 1267 RVO), dem im übrigen ein abweichender Sachverhalt zugrunde gelegen hat, eine andere Rechtsauffassung erkennen lassen, hält der Senat an ihnen nicht mehr fest.

Da nach den Feststellungen des LSG die Versicherte verstorben ist, nachdem der Kläger seiner gesetzlichen Wehrpflicht genügt, jedoch das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, steht ihm für den Zeitraum des gesetzlich vorgeschriebenen Wehrdienstes (18 Monate) die Halbwaisenrente (§ 1269 Abs. 1 RVO) auch nach der Vollendung des 25. Lebensjahres während der Fortdauer seines Studiums zu. Insoweit hat das LSG auf die Anschlußberufung des Klägers die Halbwaisenrente unter Berücksichtigung des Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung sozial- und beamtenrechtlicher Vorschriften über Leistungen für verheiratete Kinder vom 25. Januar 1971 (BGBl I 65) auch für die Zeit von Oktober 1969 bis September 1970 ohne Rechtsfehler zuerkannt.

Die Anschlußberufung ist entgegen der Auffassung der Revision formgerecht eingelegt worden. Hierfür reicht jede Erklärung des Berufungsbeklagten aus, die sich ihrem Sinn nach als ein Begehren auf Änderung des Urteils der ersten Instanz darstellt. Diese Erklärung kann insbesondere in einer Erweiterung des Klageanspruchs gefunden werden (vgl. BSG in SozR Nr. 11 zu § 521 ZPO). Eine solche ist aber in dem an das LSG gerichteten Schriftsatz des Klägers vom 13. Oktober 1970 enthalten.

Der Revision der Beklagten muß nach alledem der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669394

BSGE, 200

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