Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachentrichtungsfrist gemäß Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG. Wiedereinsetzung. Nachsichtgewährung. Nichteinhaltung der Teilzahlungsfrist

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Nachsichtgewährung bei Versäumen der Teilzahlungsfrist setzt voraus, daß dem Versicherten selbst keine Schuld an der Fristversäumung vorgeworfen werden kann.

 

Orientierungssatz

Nachentrichtungsfrist gemäß Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG - Wiedereinsetzung - Nachsichtgewährung:

1. Bei der Frist des Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG (= Art 2 § 51a Abs 3 ArVNG) handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, innerhalb deren der Versicherte das ihm zugebilligte Nachentrichtungsrecht durch Zahlung der Beiträge realisieren kann und muß.

2. Nach den vom Bundessozialgericht zum Begriff der Nachsichtgewährung entwickelten Rechtsgrundsätzen ist eine Ausschlußfrist nur in dem Umfang zu beachten, als ihre Einhaltung durch den Sinn der betreffenden Regelung gedeckt ist (vergleiche BSG vom 1961-06-09 GS 2/60 = BSGE 14, 246, 250). Die Berufung auf die Ausschlußfrist ist ausgeschlossen, wenn das Interesse der Allgemeinheit oder der Verwaltung an der Einhaltung dieser Frist gering ist, auf der anderen Seite jedoch ganz erhebliche, langfristige Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (vergleiche ua BSG vom 1979-03-08 12 RK 27/77 = SozR 2200 § 1227 Nr 25).

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 49a Abs 3 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.06.1982; Aktenzeichen L 1 An 30/82)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 10.02.1982; Aktenzeichen S 3 An 56/81)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger berechtigt ist, Beiträge nach Art 2 § 49a Abs 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) auch noch nach Ablauf der ihm eingeräumten Frist von fünf Jahren nachzuentrichten.

Der Kläger ist selbständiger Rechtsanwalt. Seit Dezember 1974 ist er nach § 2 Abs 1 Nr 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) versicherungspflichtig. Auf seinen Antrag vom Dezember 1974 bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 17. September 1975 die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 49a Abs 1 AnVNG für die Zeit vom Oktober 1966 bis Dezember 1973 im Gesamtbetrag 150 27.432,-- DM. Der am selben Tage per Einschreiben abgesandte 8escheid enthält auf der Rückseite den Hinweis, daß die Nachentrichtung auch in Teilbeträgen möglich sei und spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Empfang dieses Schreibens abgeschlossen sein müsse. Im Rahmen eines Schriftwechsels über Berechnung und Entrichtung der laufenden Pflichtbeiträge wies die Beklagte in einem Schreiben vom 11. Dezember 1979 ausdrücklich darauf hin, daß die Nachentrichtungssumme bezüglich der Nachentrichtung gemäß Art 2 § 49a Abs 1 AnVNG spätestens bis zum 20. September 1980 eingezahlt sein müsse. Am 6. Oktober 1980 überwies der Kläger von seinem Konto bei der Kreissparkasse O. den Betrag von 27.400,-- DM an die Beklagte.

Mit der Begründung, die Nachentrichtungsfrist sei am 19. September 1980 abgelaufen gewesen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder "Nachsicht" könne nicht gewährt werden, lehnte die Beklagte die Entgegennahme des überwiesenen Betrages ab (Bescheid vom 13. Februar 1981). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 1981; Urteil des Sozialgerichts -SG-  vom 10. Februar 1982; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- 24. Juni 1982). Das LSG hat die Voraussetzung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verneint, weil es sich bei der versäumten Fünfjahresfrist nicht um eine Verfahrensfrist, sondern um eine Ausschlußfrist des materiellen Rechts handele. Die Vorschriften des § 27 des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- (SGB 10) und des § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) seien nicht anwendbar, wobei dahinstehen könne, ob von ihnen auch materiell-rechtliche Ausschlußfristen erfaßt werden. Sie könnten auf keinen Fall zu einer Durchbrechung der Ausschlußfrist führen, weil der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Die Berufung der Beklagten auf die Wirkung der Ausschlußfrist sei nicht rechtsmißbräuchlich. Eine Verletzung der Betreuungspflicht liege nicht vor, da sie den Kläger 1979 ausdrücklich an die Beitragsnachentrichtung spätestens bis zum 20. September 1980 erinnert habe. Ein das Bedürfnis nach Rechtssicherheit überwiegendes Individualinteresse des Klägers könne nicht bejaht werden, weil die Wartezeit für Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente und Hinterbliebenenrente auch ohne die begehrte Nachentrichtung freiwilliger Beiträge bereits erfüllt sei und auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für das Altersruhegeld noch erfüllt werden könnten. Auch die Anrechnung etwaiger Ersatz- und Ausfallzeiten werde nicht gefährdet.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt der Kläger die Auffassung, daß zumindest über die analoge Anwendung des § 32 VwVfG die Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Die Feststellung, daß ein Verschulden seinerseits vorliege, sei falsch. Mehr als er zur Fristüberwachung getan habe, sei nicht erforderlich. Wenn man aber irgendwo ein leichtes Verschulden annehmen müsse, dann sei die Berufung auf die Versäumung der Frist rechtsmißbräuchlich. Die Rechtssicherheit habe keinen Schaden erlitten, wenn der Betrag zwei Wochen später eingehe. Ihm entstehe aber durch den Ausschluß der Nachentrichtung ein erheblicher Schaden. Seine Rente würde jetzt bei etwa 500,-- DM, für den Fall der Nachentrichtung aber bei etwa 1.500,-- DM liegen.

Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Februar 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 1981 zu verurteilen, die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Jahre 1966 bis 1973 im Gesamtbetrag von 27.432,-- DM entgegenzunehmen. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger wegen Nichteinhaltung der ihm von der Beklagten eingeräumten Nachentrichtungsfrist nicht mehr befugt ist, den Betrag von 27.432,-- DM als rechtswirksame Beiträge nach Art 2 § 49a AnVNG nachzuentrichten.

Bei der Frist des Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist, innerhalb deren der Versicherte das ihm zugebilligte Nachentrichtungsrecht durch Zahlung der Beiträge realisieren kann und muß. Letzteres ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ("bis zu fünf Jahren"). Die von der Beklagten im Bescheid vom 17. September 1975 vorgenommene zeitliche Bestimmung der Frist ist mit der Formulierung, die Nachentrichtung müsse "spätestens innerhalb von fünf Jahren nach Empfang dieses Schreibens abgeschlossen sein", hinreichend deutlich und entspricht den Erfordernissen einer Fristbestimmung in den Fällen, bei denen der Beginn an ein zukünftiges Ereignis (hier den Empfang des Bescheides) geknüpft ist und deshalb nicht von vornherein datumsmäßig bezeichnet werden kann. Gemäß § 4 Abs 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes gilt der Bescheid vom 17. September 1975 am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, also am 20. September 1975, als zugestellt. Die somit am 21. September 1975 in Lauf gesetzte Frist endete, da der 20. September 1980 ein Sonnabend war, mit dem Ablauf des 22. September 1980 (§ 127 der Reichsversicherungsordnung -RVO- iVm § 205 des Angestelltenversicherungsgesetzes, beide in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung). Bis zu diesem Zeitpunkt war der Bescheid dem Kläger auch tatsächlich zugegangen. Die Überweisung des Nachentrichtungsbetrages durch den Kläger am 6. Oktober 1980 war demnach nicht mehr fristgerecht.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger gegen die Versäumung der Ausschlußfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, wonach bei der Versäumung einer Ausschlußfrist des materiellen Rechts jedenfalls vor dem Inkrafttreten des § 27 SGB 10 am 1. Januar 1981 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht - auch nicht in entsprechender Anwendung des § 32 VwVfG - in Frage kommt (vgl BSGE 48, 12, 16; BSG SozR 5070 § 10 Nr 19).

Dem LSG ist auch darin zu folgen, daß die Voraussetzungen nicht gegeben sind, unter denen die Berufung der Beklagten auf die Wirkung der Fristversäumung als rechtsmißbräuchlich anzusehen wäre und dem Kläger deswegen Nachsicht wegen seines Rechtsverstoßes gewährt werden könnte. Nach den vom Bundessozialgericht (BSG) zum Begriff der Nachsichtgewährung entwickelten Rechtsgrundsätzen ist eine Ausschlußfrist nur in dem Umfang zu beachten, als ihre Einhaltung durch den Sinn der betreffenden Regelung gedeckt ist (vgl BSGE 14, 246, 250). Die Berufung auf die Ausschlußfrist ist ausgeschlossen, wenn das Interesse der Allgemeinheit oder der Verwaltung an der Einhaltung dieser Frist gering ist, auf der anderen Seite jedoch ganz erhebliche, langfristige Interessen des Bürgers auf dem Spiel stehen (vgl BSG SozR 4100 § 72 Nr 2; SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2; BSGE 48, 12; BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25). Hat die Behörde in irgendeiner Form durch ihr Verhalten die Verspätung begünstigt, dann liegt schon hierwegen in der Berufung auf die Ausschlußfrist regelmäßig ein Verstoß gegen Treu und Glauben (vgl BSG SozR 2200 § 1227 Nr 25; SozR 5070 § 10 Nr 19). Andererseits setzt bei ordnungsgemäßem Verhalten der Behörde die Nachsichtgewährung voraus, daß dem Versicherten selbst keine Schuld an der Fristversäumung vorgeworfen werden kann (Urteil des Senats vom 28. April 1983 - 12 RK 14/82 -).

Unter Abwägung dieser rechtlichen Gesichtspunkte kann die Berufung der Beklagten auf die Fristversäumung des Klägers nicht als eine gegen Treu und Glauben verstoßende unzulässige Rechtsausübung angesehen werden. Setzt schon die allgemeine Zweckbestimmung einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist (Begründung eines materiellen Rechts durch Ausübung einer Willenserklärung innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens) im Interesse der Rechtssicherheit der ausnahmsweisen Durchbrechung der Frist enge Grenzen, so gilt das für die Frist des Art 2 § 49a Abs 3 AnVNG darüber hinaus noch aus weiteren, mit ihrer besonderen Zweckbestimmung zusammenhängenden Gründen. Das Hinausschieben der Nachentrichtung von Beiträgen für einen ohnehin - zum Teil weit - zurückliegenden Zeitraum um volle fünf Jahre sollte es dem Nachentrichtungsberechtigten ermöglichen, sich die oft erhebliche Nachentrichtungssumme zu verschaffen, ohne in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Dieses soziale Entgegenkommen war aber mit einem mehrjährigen Verzicht der Versichertengemeinschaft auf den wirtschaftlichen Nutzen der ausstehenden Beträge verbunden. Daß dieses Entgegenkommen zu Lasten der Versichertengemeinschaft nicht auch noch über die reichlich bemessene Frist hinaus ausgedehnt wird, liegt im wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit, das jedenfalls nicht als gering bewertet werden kann. Allerdings stehen dem hier auch ganz erhebliche, langfristige Interessen des Klägers entgegen, denn die streitige Nachentrichtung würde sich auf die Höhe der späteren Rente beachtlich auswirken. Aber auch wenn dem Interesse des Klägers ein höherer Rang gegenüber den Interessen der Versichertengemeinschaft einzuräumen wäre, ließe sich die Berufung der Beklagten auf die Versäumung der Ausschlußfrist hier nicht als rechtsmißbräuchlich qualifizieren. Die Beklagte hat nämlich zur Fristversäumung nicht nur nicht beigetragen, sondern im Gegenteil sogar im letzten Jahr der Frist den Kläger noch auf deren Ablauf hingewiesen. Daß der Kläger trotz dieses Hinweises die Frist nicht eingehalten hat, kann ihm nicht nachgesehen werden. Er kann sich auch durch das von ihm geltend gemachte Versehen einer seiner Bediensteten nicht exkulpieren. Die zu den Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung von Verfahrensfristen von der Rechtsprechung entwickelten und einer geordneten Rechtspflege dienenden Grundsätze zum Ausschluß des Verschuldens des prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalts bei einem Versehen der mit der Führung der Fristenlisten betrauten Kanzleikräfte können auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden, in dem es nicht um die Fristeinhaltung in einem vom Kläger für einen Dritten geführten Prozeß, sondern um einen dem Kläger persönlich zuzuordnenden Vorgang geht. Hier muß sich der Versicherte, auch wenn er zufällig Rechtsanwalt ist, das Verschulden von Hilfspersonen bei der Wahrnehmung seiner Obliegenheiten zurechnen lassen wie jedermann im Rahmen eines Rechtsverhältnisses (vgl auch Palandt, BGB 41. Aufl, Anm 1a und 6 f zu § 278).

Die Revision des Klägers kann sonach keinen Erfolg haben und muß zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658704

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