Leitsatz (amtlich)
1. Im Verhältnis von Ehegatten, die beide Einkommen haben, ist derjenige unterhaltsberechtigt im Sinne des RVO § 205, der unter angemessener Berücksichtigung der Haushaltsführung durch die Ehefrau wertmäßig weniger an Leistungen zum Familienunterhalt beizusteuern als daraus zu erhalten hat (Weiterentwicklung von BSG 1959-12-17 5 RKn 22/58 = BSGE 11, 198 unter Berücksichtigung von BVerfG 1963-07-24 1 BvL 11/61, 1 BvL 30/57 = BVerfGE 17, 1).
2. Der Anspruch eines Versicherten auf Gewährung der Familienkrankenpflege für eine unterhaltsberechtigte Ehefrau nach RVO § 205 wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß diese von der ihr als Rentnerin zustehenden Möglichkeit keinen Gebrauch macht, freiwillig der gesetzlichen Krankenversicherung beizutreten.
Normenkette
RVO § 205 Fassung: 1933-03-01, § 176 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. März 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der zuletzt als Maschinensteiger beschäftigt war, gab seine berufliche Tätigkeit am 2. Januar 1961 wegen Krankheit auf. Er erhielt in den folgenden sechs Wochen sein volles Gehalt weiter. Anschließend bezog er von der Beklagten Krankengeld und nach seiner Aussteuerung bis zum 3. Dezember 1961 Übergangsgeld, das wie das Krankengeld in Höhe von rd. 23,- DM täglich gezahlt wurde. Seitdem erhält der Kläger monatlich eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit von 642,20 DM. Seine Ehefrau bezieht seit 1959 von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) eine Erwerbsunfähigkeitsrente, die im Jahr 1961 monatlich 107,70 DM betrug.
Ende Mai 1961 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß für seine in ständiger ärztlicher Behandlung befindliche Ehefrau ein Anspruch auf Familienkrankenhilfe, die die Beklagte bisher gewährt hatte, nicht mehr bestehe, da die Ehefrau als Rentnerin der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) ihres Wohnortes freiwillig beitreten könne; damit bestehe für sie ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege.
Der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 28. August 1961 erhob der Kläger am 14. September 1961 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund. Dieses hob, nachdem die Ehefrau des Klägers am 12. Januar 1962 freiwillig Mitglied der zuständigen AOK geworden war, durch Urteil vom 16. Februar 1962 die angefochtenen Bescheide auf und stellte fest, daß die Beklagte verpflichtet gewesen sei, der Ehefrau des Klägers aus der für sie bestehenden Familienversicherung bis zum 11. Januar 1962 Familienkrankenpflege zu gewähren.
Die von der Beklagten gegen das ihr am 30. März 1962 zugestellte Urteil am 7. April 1962 eingelegte und vom SG zugelassene Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen. Es stellte sich in seinem Urteil vom 5. März 1963 ebenfalls auf den Standpunkt, daß die Beklagte verpflichtet gewesen sei, der Ehefrau des Klägers bis zum 11. Januar 1962 gem. § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes i. V. m. § 205 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Familienkrankenpflege zu gewähren. Die Ehefrau des Klägers sei diesem gegenüber unterhaltsberechtigt gewesen, da ihr von den insgesamt zum Familienunterhalt geleisteten Geldbeträgen mehr zugeflossen sei als sie selbst beigesteuert habe. Sie habe auch, solange sie nicht Mitglied der AOK geworden sei, nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege gehabt. Es genüge insoweit nicht, daß dieser Anspruch durch eine freiwillige Versicherung hätte sichergestellt werden können.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 30. April 1963 zugestellte Urteil am 22. Mai 1963 unter Antragstellung Revision eingelegt und diese am 20. Juni 1963 begründet. Sie meint, daß die Versicherungsberechtigung der Ehefrau sowohl deren Unterhaltsberechtigung ausschließe als auch einen anderweitigen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege darstelle.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Dortmund vom 16. Februar 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, daß die vom Gesetzgeber dem Versicherten im Rahmen des § 176 RVO eingeräumte Freiwilligkeit des Beitritts aufgehoben würde, wenn man der Ansicht der Beklagten folge.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt, sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft.
Sachlich ist die Revision nicht begründet.
Mit den beiden Tatsachengerichten ist anzunehmen, daß dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Familienkrankenhilfe für seine Ehefrau zustand, solange diese der zuständigen AOK nicht freiwillig beigetreten war.
Nach § 205 Abs. 1 RVO hat die Beklagte dem Kläger Familienkrankenpflege für seine Ehefrau zu gewähren, wenn diese ihm gegenüber als unterhaltsberechtigt anzusehen ist und nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hat.
Wie der erkennende Senat im Anschluß an den 3. Senat in seinem Urteil vom 17. Dezember 1959 (BSG 11, 199) geklärt hat, ist "unterhaltsberechtigt" im Sinne des § 205 RVO derjenige Ehepartner, der weniger zum gemeinsamen Familienunterhalt an Leistungen beizusteuern als daraus zu erhalten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat zwischenzeitlich in seinem Urteil vom 24. Juli 1963 (1 BvL 11/61, 1 BvL 30/57) zu der Frage der Unterhaltsleistung als Voraussetzung bei Witwer- und Waisenrenten klargestellt, daß dabei nicht nur die Barleistungen, sondern insbesondere auf Seiten der Frau auch deren Haushaltsführung und ihre sonstigen Verrichtungen angemessen zu berücksichtigen sind. Diese Grundsätze müssen nach Ansicht des erkennenden Senats aus den vom Bundesverfassungsgericht dargelegten Gründen jetzt auch bei der Auslegung des § 205 RVO berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall ist jedoch auch unter Beachtung dieser gewandelten Sicht selbst für den Zeitraum, in dem der Kläger das niedrigste Einkommen, nämlich nur seine Rente von monatlich rd. 642,- DM hatte, kein Zweifel möglich, daß der neben ihrer Haushaltsführung nur eine Rente von 107,- DM monatlich beisteuernden Ehefrau eindeutig mehr zufloß, als sie selbst einbrachte. Mit diesem Vergleich steht grundsätzlich gleichzeitig die Unterhaltsberechtigung der Ehefrau fest.
Die Beklagte verneint nun allerdings diese Unterhaltsberechtigung jedenfalls insoweit, als der Ehemann danach auch für etwaige Krankheitsfälle seiner Ehefrau einzustehen hätte, deshalb, weil die Ehefrau als ihren Beitrag zur Haushaltsführung zu einer freiwilligen, den Ehemann entlastenden eigenen Versicherung verpflichtet gewesen sei. Für die Annahme einer derartigen Verpflichtung fehlt jedoch jede Rechtsgrundlage. Es kann bereits äußerst zweifelhaft erscheinen, bedarf jedoch hier keiner Entscheidung, ob ein Ehemann sich seiner Ehefrau gegenüber wirksam auf eine dieser im Verhältnis zu ihm obliegende derartige Pflicht berufen könnte. Dritten gegenüber (dem in Anspruch genommenen Arzt, dem Krankenhaus usw.) wäre ein solcher Einwand jedenfalls rechtlich unbeachtlich. Hinzu kommt weiter, daß sich gerade der von der Beklagten insoweit hervorgehobene Gesichtspunkt, die Ehefrau des Klägers müsse in sinnvoller Weise zu einer Entlastung der Gesamtaufwendungen für den Familienunterhalt beitragen, im vorliegenden Fall gegen das von der Beklagten erstrebte Ergebnis auswirkt. Da die Ehefrau des Klägers über die Familienkrankenpflege in einigen von den Beteiligten für besonders wesentlich angesehenen Punkten (zB Gewährung der zweiten Krankenhauspflegeklasse) günstigere Leistungen erhält, als sie bei einem freiwilligen Beitritt zur AOK erhalten würde, liegt eine Ausübung des Wahlrechts in der Richtung, von dem freiwilligen Beitrag keinen Gebrauch zu machen, durchaus im Interesse der Familie. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann die Unterhaltsberechtigung der Ehefrau des Klägers daher nicht etwa teilweise verneint werden.
Als weiteres Erfordernis verlangt § 205 RVO, daß die Ehefrau keinen anderweitigen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hat. Nach Ansicht der Beklagten ist dieses Tatbestandsmerkmal weit auszulegen und liegt schon dann vor, wenn das Recht zur freiwilligen Versicherung besteht. Dem ist jedoch nicht zuzustimmen. Nach dem klaren Wortlaut des § 176 Abs. 1 RVO handelt es sich bei dem Recht der Rentner, der Krankenversicherung freiwillig beizutreten, nur um eine in das Belieben der Rentner gestellte Möglichkeit, die erst dann zu einem anderweitigen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege wird, wenn der Beitritt vollzogen ist. Vorher läßt sich das Beitrittsrecht auch bei weitester Auslegung nicht als anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege auffassen, denn ein Anspruch des Rentners gegen die Krankenkasse, d. h. das Recht von ihr ein Tun, nämlich die Gewährung von Krankenpflege zu fordern, kann erst durch den Beitritt entstehen. Der mit § 205 RVO angestrebte Erfolg, zu vermeiden, daß ein Versicherter selbst mit Ausgaben für Krankheitsfälle für seine Angehörigen belastet wird, würde, falls von jenem Wahlrecht kein Gebrauch gemacht wird, sonst illusorisch werden.
Wenn der Gesetzgeber die versicherungsberechtigten Rentner von der Familienkrankenpflege hätte ausschließen wollen, hätte er in § 205 Abs. 1 RVO zusätzlich anordnen müssen, daß der Anspruch auch dann nicht besteht, wenn die unterhaltsberechtigte Person anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege erlangen kann .
Der Gesetzgeber hat dieses Problem auch nicht übersehen. Bei der Neuregelung der Krankenversicherung der Rentner im Jahre 1956 wurde im Rahmen der grundsätzlichen Änderungen auch die auf einer besonders gestalteten Regelung beruhende Krankenversicherungspflicht aller Rentner beseitigt. Die Rentner wurden in die allgemeine gesetzliche Krankenversicherung eingegliedert. Dabei war die Frage umstritten, wieweit der Rahmen der Versicherungspflicht nunmehr gezogen werden sollte. Im Gegensatz zu der später Gesetz gewordenen Fassung sah der Entwurf der Bundesregierung im Rahmen einer Regelung, die Doppelversicherungen ausschließen sollte, vor, daß die Versicherungspflicht eines Rentners, auch wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, dann entfalle, wenn für ihn ein gesetzlicher Anspruch auf Familienkrankenpflege bestehe. Die Bundesregierung begründete diesen Vorschlag damit, daß der Grundsatz der Subsidiarität der Rentner-Krankenversicherung deren Zurückweichen hinter den gesetzlichen Anspruch auf Familienkrankenhilfe erfordere; sie vertrat diese Ansicht auch noch, als der Bundesrat eine Streichung jener Ausnahmevorschrift empfahl (BT-Drucks. 2. Wahlperiode Nr. 1234). Der Bundestag schloß sich in dieser Frage dem im Ergebnis mit dem Bundesrat übereinstimmenden Bericht seines 28. Ausschusses an; er billigte in der Gesetz gewordenen Fassung des § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO auch denjenigen Rentnern die Pflichtmitgliedschaft zu, die bereits einen Anspruch auf Familienkrankenhilfe hatten. Hierbei waren insbesondere die auf gewissen Gebieten günstigeren Leistungen der eigenen Versicherung entscheidend (BT-Drucks. 2. Wahlperiode Nr. 2256 und schriftlicher Ausschußbericht dazu). Es ist somit selbst im Verhältnis zur Rentner pflicht versicherung die Familienversicherung nur im Interesse der Rentner an die zweite Stelle gestellt worden. Aus dieser Entwicklung muß entnommen werden, daß dann in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine Versicherungspflicht bereits wegen Fehlens der nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO vorgeschriebenen Vorversicherungszeiten entfiel und nur eine Versicherungsberechtigung nach § 176 Abs. 1 Nr. 4 bestand, jedenfalls die Annahme dem Willen des Gesetzgebers nicht entspräche, daß schon die Versicherungsberechtigung den Anspruch auf Familienkrankenpflege ausschließt. Es sollte dem bloß Versicherungsberechtigten vielmehr überlassen bleiben, ob er sich mit den häufig geringeren Leistungen der Familienkrankenpflege zufrieden geben will, oder ob er zur Erlangung höherer Leistungen unter Beanspruchung des Beitragszuschusses, der ja als Durchschnittsbetrag nicht in allen Fällen die tatsächlichen Beiträge decken muß, der Krankenversicherung freiwillige beitreten soll. Nur so ist es auch verständlich, daß zwar die §§ 204 und 205 a und b RVO den veränderten Gegebenheiten angepaßt, § 205 selbst aber unverändert gelassen wurde. In der bloßen Versicherungsberechtigung des Rentners ist daher kein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege zu sehen (vgl. Busch in DOK 1960 S. 496). Das Verlangen der Beklagten würde die Freiwilligkeit des Beitritts der Rentner, d. h. das ihnen vom Gesetzgeber bewußt eingeräumte Wahlrecht in eine offenbar nicht gewollte Pflicht umwandeln.
Schließlich scheitert der Hinweis darauf, daß dem Kläger das Unterlassen jener Versicherung entgegen gehalten werden müsse, wie der erkennende Senat schon in seinem Urteil vom 9. Februar 1961 (BSG 14, 22) dargelegt hat, bereits daran, daß die fragliche Berechtigung gar nicht dem Kläger, sondern allein seiner Ehefrau zusteht.
Es fehlt somit an jeder Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgetragenen Erwägungen. Die Revision konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen