Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Statthaftigkeit. Berufung. Inkrafttreten des SGG. anhängiges Rechtsmittel beim Landesversorgungsamt Bayern und Landesversorgungsamt Baden-Württemberg. Übergang an das zuständige LSG

 

Orientierungssatz

Alle bis zum Inkrafttreten des SGG bei den LVÄmtern Bayern und Baden-Württemberg rechtshängigen Sachen sind als Berufungen auf die zuständigen Landessozialgerichte übergegangen, so dass in den Fällen des Übergangs die bisher als Revision und Rekurs bezeichneten Rechtsbehelfe künftig einheitlich nur als Berufungen angesprochen werden können. Das bedeutet, dass sich auch die Zulässigkeit der Berufung nur nach den Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG richten kann.

 

Normenkette

SGG § 215 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § § 143ff Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 30.11.1954)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart vom 30. November 1954 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die Witwe des am 1. Oktober 1916 an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gestorbenen .... Als solche hat sie bis zum Zusammenbruch im Jahre 1945 Hinterbliebenenversorgung nach den Vorschriften des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) bezogen, und zwar im Wege der Auslandsversorgung, da sie, im Jahre 1889 in ... geboren, zunächst bis 1931 in ... und von diesem Zeitpunkt ab in ... ihren Wohnsitz hatte. Sie wohnt auch jetzt noch in.

Am 25. September 1951 hat die Klägerin bei dem für die Versorgung der in ... wohnhaften Versorgungsberechtigten zuständigen Versorgungsamt (VersA.) Stuttgart I die Wiedergewährung ihrer Hinterbliebenenversorgung beantragt. Mit Genehmigung des Landesversorgungsamts (LVersA.) Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern hat das VersA. Stuttgart I diesem Antrag mit Bescheid vom 30. September 1952 stattgegeben und der Klägerin gemäß Erlaß des Bundesministers für Arbeit (BMA) über die Versorgung von Kriegsopfern mit ständigem Wohnsitz im Ausland vom 25. Juni 1952 - IV b 5/2641/52 - Witwenrente als Kannleistung mit Wirkung vom 1. September 1952 (Bewilligungsmonat) ab bewilligt.

Die gegen den Bescheid des VersA. Stuttgart I vom 30. September 1952 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der diese beantragt hatte, das VersA. zur Nachzahlung der Witwenrente rückwirkend vom 1. Juni 1945 ab zu verurteilen, hat das Oberversicherungsamt (OVA.) Stuttgart durch Vorentscheidung des Vorsitzenden vom 23. Mai 1953 als unbegründet zurückgewiesen, weil es sich bei der Versorgung der Kriegsopfer mit ständigem Wohnsitz im Ausland um eine Versorgung im Wege des Kannbezuges handele, auf die kein Rechtsanspruch bestehe, deren Gewährung in das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden gestellt sei und die ohnehin nur in besonders gelagerten Fällen gewährt werden könne. Nach dem Erlaß des BMA vom 25. Juni 1952 habe das VersA. Witwenrente nur vom 1. September 1952 ab bewilligen können, eine Vorverlegung des Beginns der Rentenzahlung sei nicht möglich gewesen.

Gegen diese Entscheidung vom 23. Mai 1953, zugestellt durch einen am 26. Mai 1953 zur Post gegebenen eingeschriebenen Brief, hat die Klägerin nach der in der Entscheidung des OVA. enthaltenen Rechtsmittelbelehrung form- und fristgerecht Rekurs beim Landesversicherungsamt (LVAmt) Württemberg-Baden in Stuttgart eingelegt und beantragt, das Urteil des OVA. Stuttgart vom 23. Mai 1953 aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen. Sie hat dabei geltend gemacht, daß sie sich in einer großen Notlage befinde, zumal sie im Vertrauen auf die beanspruchte Rentennachzahlung seit dem Jahre 1945 Schulden gemacht habe, die inzwischen auf über 300000.- Lire angewachsen seien. Auch ihre Gläubigerin habe ihr das Geld im Vertrauen darauf gegeben, daß sie eines Tages die Rentennachzahlung erhalten werde, um damit ihre Schulden zurückzahlen zu können.

Die beim Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom 3. September 1953 beim LVAmt Württemberg-Baden rechtshängige Sache ist am 1. Januar 1954, dem Tage des Inkrafttretens des SGG, nach § 215 Abs. 3 SGG auf das Landessozialgericht (LSGer.) Stuttgart übergegangen. Dieses hat ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Urteil vom 30. November 1954 die Berufung der Klägerin gegen die Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 23. Mai 1953 als unzulässig verworfen; es hat dabei die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen, weil es sich bei der zur Entscheidung stehenden Frage über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Rechtsmittels um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele.

Das LSGer. hat in den Urteilsgründen festgestellt, daß das OVA. Stuttgart in der Entscheidung vom 23. Mai 1953 den Rekurs mit Recht für zulässig erklärt hat; der Rekurs sei auch zur Zeit seiner Einlegung nach den damals geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) zulässig gewesen. Dieser Rekurs sei jedoch nach § 215 Abs. 3 SGG als Berufung auf das LSGer. übergegangen, wobei die Zulässigkeit der Berufung sich nunmehr allein nach den Vorschriften des SGG, insbesondere nach den §§ 143 bis 150 SGG, richte. Ein solcher Wille des Gesetzgebers lasse sich ohne weiteres aus den letzten Halbsätzen der Abs. 7 bis 9 des § 215 SGG, aus der Regelung in § 214 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 SGG sowie aus der Entstehungsgeschichte des § 215 SGG entnehmen. Das Klagebegehren der Klägerin betreffe, da das VersA. Witwenrente vom 1. September 1952 ab bewilligt habe und nur die Rente für die Zeit vom 1. Juni 1945 bis 31. August 1952 streitig sei, lediglich den Beginn einer Versorgung bzw. eine Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume. Nach § 148 Nr. 2 SGG aber seien in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung (KOV.) Urteile mit der Berufung nicht anfechtbar, wenn sie Beginn oder Ende der Versorgung oder nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen.

Im übrigen wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils Bezug genommen.

Gegen das Urteil des LSGer. - zugestellt am 18. Februar 1955 - hat die Klägerin, vertreten durch die Herren ... und ..., mit Schriftsatz vom 24. Februar 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht ( BSGer .) am 24. Februar 1955, Revision eingelegt.

Sie hat beantragt,

1. das Urteil des LSGer. Stuttgart vom 30. November 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen,

2. dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin aufzuerlegen.

Sie rügt, daß nach dem Urteil des LSGer. ein bei seiner Einlegung auch nach der Rechtsmittelbelehrung des OVA. Stuttgart in der Entscheidung vom 23. Mai 1953 zulässig gewesener Rekurs nach dem Inkrafttreten des SGG eine unzulässige Berufung geworden sein solle; ein rechtswirksam und zulässig eingelegtes Rechtsmittel wie der Rekurs könne bei einer späteren Gesetzesänderung und beim Fehlen entsprechender Bestimmungen nicht ohne weiteres unzulässig werden. Auf den Schriftsatz der Klägerin vom 24. Februar 1955 und das Vorbringen des Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.

Der Beklagte, vertreten durch das LVersA. Baden-Württemberg in Stuttgart, hat mit Schriftsatz vom 22. Juni 1955 beantragt,

die Revision gegen das Urteil des LSGer. Stuttgart vom 30. November 1954 als unbegründet zurückzuweisen.

Er sei zwar wie die Klägerin der Rechtsauffassung, daß ein nach früherem Recht zugelassenes Rechtsmittel nach dem SGG nicht deshalb unzulässig werde, weil durch die §§ 143 ff. SGG zum Teil eine andere Regelung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels der Berufung getroffen worden sei als durch die früheren Verfahrensvorschriften. Die Revision sei aber deshalb unbegründet, weil es sich bei der Versorgung der Klägerin um eine Kannleistung im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 1 BVG handele. Bescheide über die Gewährung einer Auslandsversorgung seien im Sozialgerichtsverfahren nur nachprüfbar, wenn ein Ermessensmißbrauch der Verwaltung gerügt werde. Das aber sei nicht der Fall.

Die Zulassung der Revision durch das LSGer. in Anwendung des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist zu Recht erfolgt, weil es sich in dem zur Entscheidung stehenden Rechtsstreit um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung handelt, die nicht nur für den vorliegenden Einzelfall, sondern für eine Mehrzahl von Fällen von Bedeutung ist, zu der im übrigen im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils eine Entscheidung des BSGer . noch nicht ergangen war. Dabei kann über die Statthaftigkeit der Revision in den Übergangsfällen des § 215 Abs. 3 SGG kein Zweifel bestehen, da das SGG eine Ausnahmeregelung wie die des § 214 Abs. 5 beim § 215 Abs. 3 nicht getroffen hat.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist jedoch nicht begründet.

Nach § 215 Abs. 3 SGG gehen die beim Inkrafttreten des SGG bei den LVÄmtern Bayern und Württemberg-Baden rechtshängigen Sachen auf die zuständigen LSGer. e über. Die Frage, als was diese rechtshängigen Sachen auf die LSGer. e übergehen und wie die übergegangenen Rechtsmittel zu behandeln sind, hat der erkennende Senat beim Schweigen des Gesetzes darüber, ob die übergegangenen Rechtsmittel Rekurse und Revisionen bleiben sollen oder ob sie sich in Berufungen verwandeln, in seinem Urteil vom 16. Juni 1955 - 8 RV 461/54 - dahin entschieden, daß alle bis zum Inkrafttreten des SGG bei den LVÄmtern Bayern und Württemberg-Baden rechtshängigen Sachen als Berufungen auf die zuständigen LSGer. e übergehen, daß also in den Fällen des Übergangs die bisher als Revision und Rekurs bezeichneten Rechtsbehelfe künftig einheitlich nur als Berufungen angesprochen werden können. Das hat auch das angefochtene Urteil zutreffend ausgeführt.

Wenn aber der auf das LSGer. übergegangene Rekurs nunmehr als Berufung angesprochen werden muß, dann gelten für diese auch die Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG über die Berufung. Das bedeutet, daß sich auch die Zulässigkeit der Berufung nur nach den Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG richten kann.

Wie der erkennende Senat in seinem vorerwähnten Urteil vom 16. Juni 1955 - 8 RV 461/54 - ausgeführt hat, ergibt sich das einmal schon aus den vergleichbaren Vorschriften der §§ 214 Abs. 4 Satz 1 und 215 Abs. 7 bis 9 SGG. Nach § 214 Abs. 4 Satz 1 SGG gelten bei den sogenannten Altfällen die bis zum Inkrafttreten des SGG fristgemäß eingelegten Rekurse als Berufungen im Sinne der §§ 143 bis 159 SGG; und nach den Absätzen 7 bis 9 des § 215 SGG richtet sich hinsichtlich der bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten anhängig gewesenen und auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit übergegangenen Sachen die Zulässigkeit der Rechtsmittel ausschließlich nach den Vorschriften des SGG. Dafür aber, daß die beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bei den LVÄmtern Bayern und Württemberg-Baden rechtshängig gewesenen und ebenfalls als Berufungen übergegangenen Sachen anders behandelt werden sollen, findet sich im Gesetz keine Stütze. Das Schweigen des Gesetzes und sein erkennbarer Zweck gerade auch bei der Regelung der Übergangsfälle läßt im Gegenteil nur den einen Schluß zu, daß gleiche und gleichartig gelagerte Fälle nach Möglichkeit auch gleichmäßig behandelt werden sollen. Das bedeutet, daß alle auf die LSGer. e übergegangenen Rechtsmittel, gleichgültig aus welchem Grunde und nach welcher Vorschrift sie übergegangen sind, auch gleichmäßig als Berufungen einheitlich nach den Vorschriften des SGG behandelt werden müssen. Die Tatsache, daß durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG mit dem 1. Januar 1954 die Vorschriften der §§ 1699 ff. RVO über den Rekurs ausdrücklich aufgehoben worden sind, steht im übrigen mit dieser Rechtsauffassung im Einklang. Dabei befindet sich der erkennende Senat auch in Übereinstimmung mit dem Reichsversorgungsgericht (RVGer.) und dem von diesem entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsatz, daß bei einem Wechsel der Gesetzgebung im Laufe schwebender Verfahren anders als beim materiellen Recht ein neues Verfahrensrecht in der Regel sofort nach seinem Inkrafttreten und auf alle noch schwebenden Fälle angewandt werden muß. Endlich war für den erkennenden Senat entscheidend, daß in den beim Inkrafttreten des SGG rechtshängigen Sachen über die Rechtsmittel nicht nur nach einem neuen Verfahrensgesetz, dem SGG, sondern auch durch ein neues Gericht zu entscheiden ist, für das grundsätzlich nur die Vorschriften desjenigen Gesetzes maßgebend sein können, auf Grund dessen es errichtet worden ist.

Danach hat das LSGer. im angefochtenen Urteil entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin und auch entgegen der des Beklagten zutreffend entschieden, daß sich die Zulässigkeit des Rekurses gegen die Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 23. Mai 1953 nach seinem Übergang als Berufung auf das LSGer. ausschließlich nach den Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG richtet.

Zu diesem System der §§ 143 bis 150 SGG gehört auch die Vorschrift des § 148 Nr. 2 SGG, nach der in Angelegenheiten der KOV. Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden können, wenn sie Beginn oder Ende der Versorgung oder nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Das VersA. Stuttgart I hat mit seinem Bescheid vom 30. September 1952 der Klägerin Versorgung vom 1. September 1952 ab bewilligt; das Begehren der Klägerin, die Rente auch für die Zeit vom 1. Juni 1945 bis 31. August 1952 zu erhalten, erstreckt sich auf eine Versorgung für einen bereits abgelaufenen Zeitraum. Die gegen die Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 23. Mai 1953 eingelegte Berufung war deshalb unzulässig. Das LSGer. hat sie mit Recht als unzulässig verworfen. Dabei bedurfte es keiner Prüfung durch das LSGer., ob nicht trotz Ausschluß der Berufung nach § 148 Nr. 2 SGG gegebenenfalls deren Zulässigkeit wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 150 Nr. 1 SGG) zu bejahen sei (vgl. Urteil vom 16.6.1955 - 8 RV 461/54 -). Denn die Frage, ob der Klägerin für den bereits abgelaufenen Zeitraum vom 1. Juni 1945 bis 31. August 1952 Versorgung zusteht oder nicht, ist in ihrer Bedeutung auf den vorliegenden Einzelfall beschränkt; sie hat keine besondere Wirkung auf das Rechtsleben und deshalb keine grundsätzliche Bedeutung.

Danach konnte die Revision keinen Erfolg haben; sie war nach § 170 Abs. 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen. Dabei bedurfte es keines Eingehens des Revisionsgerichts mehr auf das Vorbringen des Beklagten, die Revision sei deshalb unbegründet, weil es sich bei den von der Klägerin begehrten Leistungen um Kannleistungen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 BVG) handele, deren Nachprüfung der Sozialgerichtsbarkeit vorliegend schon deshalb entzogen sei, weil die Klägerin selbst einen Ermessensmißbrauch der Verwaltung nicht gerügt habe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2342487

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