Leitsatz (amtlich)

Die Berufung ist nur dann nach SGG § 148 Nr 2 Halbs 2 ausgeschlossen, wenn das Urteil des SG "nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume" betrifft.

Sie ist nicht ausgeschlossen, wenn dieses Urteil Versorgung für abgelaufene Zeiträume und die laufende Versorgung betrifft, auch wenn im Berufungsverfahren nur noch Streit über Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume besteht.

 

Normenkette

SGG § 148 Nr. 2 Hs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 22. Juli 1954 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Antrag des Klägers vom 20. September 1950, ihm nach seinem seit 6. November 1945 in Rußland vermißten Sohn Elternrente nach den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 vom 2. Mai 1947 (ArbBl. für die Britische Zone S. 155) zu gewähren, wurde mit Bescheid der Landesversicherungsanstalt (LVA.) Rheinprovinz - Außenstelle Düsseldorf - vom 2. Oktober 1950 mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger nicht bedürftig sei. Der Beschwerdeausschuß III der LVA. Rheinprovinz hat dem Kläger durch Entscheidung vom 27. Januar 1951 ab 1. Oktober 1950 Elternrente nach der SVD Nr. 27 dem Grunde nach zuerkannt. Der Beklagte legte gegen diese Entscheidung kein Rechtsmittel ein; Rente wurde nicht gezahlt.

Am 13. April 1951 stellte der Kläger Antrag auf Gewährung von Elternrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Dieser wurde mit Bescheid des Versorgungsamts (VersA.) Düsseldorf vom 13. Dezember 1951 mit der Begründung abgelehnt, daß das Einkommen aus Invalidenrente die Einkommensgrenze des § 51 Abs. 2 BVG überschreite; Bedürftigkeit liege deshalb nicht vor. Der Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 27. Januar 1951 habe die Rechtsgrundlage gefehlt, da nach der Verkündung des BVG am 20. Dezember 1950 eine Rente nach der SVD Nr. 27 nicht mehr habe zuerkannt werden können. Der Beschwerdeausschuß des VersA. Düsseldorf hat am 20. Mai 1952 den Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA.) Düsseldorf eingelegt. Das Sozialgericht ( SGer .) Düsseldorf, auf das die beim OVA. rechtshängige Sache nach § 215 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) übergegangen war, hat am 9. März 1954 den Beklagten verurteilt, an den Kläger vom 1. Oktober 1950 bis 31. Januar 1952 Elternrente in Höhe von monatlich 30.- DM zu zahlen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, daß die vom Beschwerdeausschuß nach der SVD Nr. 27 zugesprochene Elternrente bis zur Feststellung der Rente nach dem BVG zu zahlen sei. Da diese Feststellung erst durch den Bescheid vom 13. Dezember 1951 erfolgt sei, müsse die Rente nach §§ 84, 86 BVG bis 31. Januar 1952 gezahlt werden. Über diesen Zeitpunkt hinaus habe der Kläger keinen Anspruch auf Elternrente nach dem BVG, da sein Einkommen die in § 51 BVG festgesetzten Einkommensgrenzen überschreite.

Gegen dieses Urteil hat das Landesversorgungsamt (LVersA.) Nordrhein mit Schriftsatz vom 22. April 1954 Berufung beim Landessozialgericht (LSGer.) Nordrhein-Westfalen eingelegt. Auf der Berufungsschrift befindet sich kein Eingangsstempel des LSGer., es ist lediglich mit Blaustift vermerkt "zum VII. Senat: 17.5.1954. Ho.". In der mündlichen Verhandlung vor dem VII. Senat des LSGer. am 22. Juli 1954 hat der Vorsitzende nach der Niederschrift festgestellt, daß der bezeichnete Aktenvermerk von dem Protokollführer angebracht worden sei. Dieser habe nach seinen Angaben die Berufungsschrift von der Geschäftsstelle des VIII. Senats erhalten. Dort habe sie etwa zwei Wochen gelegen. Das LSGer. Nordrhein-Westfalen hat die Berufung durch Urteil vom 22. Juli 1954 als unzulässig verworfen und die Revision zum Bundessozialgericht ( BSGer .) zugelassen. Es hat sein Urteil damit begründet, daß bei Streit über Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume die Berufung nach § 148 Nr. 2 SGG auch dann nicht zulässig sei, wenn der Versorgungsanspruch selbst streitig sei.

Gegen dieses dem Beklagten am 12. August 1954 zugestellte Urteil hat das LVersA. Nordrhein durch einen beim BSGer . am 27. August 1954 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSGer. Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Hilfsweise hat er beantragt,

die Urteile des LSGer. Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1954 und des Sozialgerichts ( SGer .) Düsseldorf vom 9. März 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Das LVersA. Nordrhein hat die Revision durch einen beim BSGer . am 23. September 1954 eingegangenen Schriftsatz wie folgt begründet:

Das LSGer. habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen, da in der ersten Instanz nicht nur der Versorgungsanspruch des Klägers für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Januar 1952, sondern auch über diesen Zeitpunkt hinaus streitig gewesen sei. Nach § 148 Nr. 2 SGG komme es nur darauf an, in welchem Umfange sich das Urteil der ersten Instanz mit dem Rentenanspruch befaßt habe, jedoch nicht darauf, inwieweit das Urteil in der Berufungsinstanz angefochten worden sei. Es sei für die Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung, daß nur er - der Revisionskläger - das Urteil des SGer . angefochten habe. Im übrigen wird auf die Revisionsbegründungsschrift vom 20. September 1954 und die Ausführungen des Prozeßbevollmächtigten des Revisionsklägers in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat Bezug genommen.

Der Revisionsbeklagte hat beantragt,

die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSGer. Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1954 als unbegründet zurückzuweisen.

Er hat zur Begründung auf die Entscheidung des LSGer. verwiesen.

Die Revision ist statthaft, weil das LSGer. sie zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§ 164 SGG). Die Revision ist daher zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Das LSGer. hat die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SGer . Düsseldorf vom 9. März 1954 zu Unrecht als unzulässig verworfen. Nach § 148 Nr. 2, 2. Halbsatz SGG können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung mit der Berufung nicht angefochten werden Urteile, die nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich einerseits, daß es für die Zulässigkeit der Berufung lediglich auf den Umfang des Rechtsstreits im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem SGer . ankommt (Urteile, die . . . betreffen), andererseits, daß die Berufung nur dann unzulässig ist, wenn das Urteil des SGer . tatsächlich nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft und nicht auch den Anspruch für die Zukunft (ebenso Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand August 1955, Anm. 2 zu § 148 und Anm. zu § 146 SGG). Das Urteil des SGer . Düsseldorf betrifft nun aber nicht nur Elternversorgung des Klägers für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Januar 1952, sondern es entscheidet auch über den Versorgungsanspruch nach dieser Zeit. Der Antrag des Klägers, ihm Elternrente zu gewähren, war auch nicht zeitlich begrenzt gestellt, und das SGer . hat daher die Klage insoweit abgewiesen, als die Gewährung von Elternrente über den 31. Januar 1952 hinaus beantragt war. Wie der Revisionskläger mit Recht ausgeführt hat, ist es für die Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung, daß der Kläger das Urteil des SGer . nicht angefochten hat und daß infolgedessen das LSGer. im Berufungsverfahren nur noch über Versorgung für einen im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts bereits abgelaufenen Zeitraum zu entscheiden hatte. Denn aus § 148 Nr. 2 SGG ergibt sich unzweideutig, daß sich die Berufungsfähigkeit des Urteils erster Instanz danach bestimmt, worüber in diesem Urteil entschieden worden ist, nicht danach, worüber der Streit im Berufungsverfahren geht. Insoweit weicht § 148 Nr. 2 SGG klar von der früher bei den Verfahren nach § 1700 Nr. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) getroffenen Regelung ab. In § 1700 Nr. 2 RVO war Voraussetzung für den Ausschluß des Rekurses, daß z. Zt. der Entscheidung des Rekursgerichts die Erwerbsunfähigkeit nicht mehr bestand und nur noch Rente für einen abgelaufenen Zeitraum streitig war, während § 1700 Nr. 3 für die Unzulässigkeit des Rekurses voraussetzte, daß z. Zt. der Entscheidung des Rekursgerichts dauernde Erwerbsunfähigkeit vorlag und allein Streit über Teile der Rente bestand, der einen begrenzten und bereits abgelaufenen Zeitraum betraf. Da das angefochtene Urteil des LSGer. somit auf der unrichtigen Anwendung des § 148 Nr. 2 SGG beruht, ist die Revision begründet (§ 162 Abs. 2 SGG), und das Urteil war aufzuheben. Da das LSGer. die Berufung aus formellen Gründen verworfen hat und daher bisher nicht in eine sachliche Prüfung des Anspruchs eingetreten ist, hielt der Senat es für untunlich, in der Sache selbst zu entscheiden.

Das LSGer. wird zunächst festzustellen haben, ob die Berufung des Beklagten rechtzeitig eingelegt ist. Die vom Senatsvorsitzenden in der mündlichen Verhandlung am 22. Juli 1954 in. die Niederschrift aufgenommene Feststellung, daß der Protokollführer nach seinen Angaben die Berufungsschrift am 17. Mai 1954 von der Geschäftsstelle des VIII. Senats erhalten und daß sie dort etwa zwei Wochen gelegen habe, genügt nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht, um die Rechtzeitigkeit der Berufung des Beklagten eindeutig zu beweisen. Bei der Prüfung der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels kann sich das Gericht jedes Beweismittels bedienen, das geeignet ist, es von der Einhaltung der Frist zu überzeugen. Die Vorschriften über das Beweisverfahren (§ 118 Abs. 1 SGG) und irgend eine Beschränkung auf bestimmte Beweismittel greifen hier nicht Platz (vergl. Stein-Jonas-Schönke, Zivilprozeßordnung, Anm. III 1 vor § 355 ZPO). Das Gericht kann sich deshalb die Gewißheit durch Zeugenaussagen, Urkunden, amtliche Auskunft, zu der auch die dienstliche Äußerung gehört, verschaffen. Im vorliegenden Fall hat der Vorsitzende jedoch nur die nicht einmal auf eigener Wahrnehmung beruhenden Angaben des Protokollführers des VII. Senats in die Niederschrift aufgenommen. Diese können nicht als genügender Beweis für den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift beim LSGer. dienen. Das LSGer. hätte vielmehr den Beamten, nach dessen Kenntnis die Rechtsmittelschrift bereits etwa zwei Wochen im Besitz des LSGer. war, bevor sie zum VII. Senat gelangte, als Zeugen vernehmen oder eine dienstliche Äußerung von ihm einholen müssen. Ergäbe die Prüfung, daß die Berufungsschrift nicht innerhalb der Monatsfrist (§ 151 Abs. 1 SGG) beim LSGer. eingegangen ist, wäre ferner zu prüfen, ob etwa die Rechtsmittelfrist wegen des Inhalts der Rechtsmittelbelehrung des SGer . ein Jahr betrug (§ 66 Abs. 2 SGG).

Aus diesen Gründen war das Urteil des LSGer. Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich des Revisionsverfahrens bleibt dem LSGer. vorbehalten, weil der Senat eine Sachentscheidung nicht getroffen hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2221043

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