Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsanwalt und Steuerberater
Leitsatz (amtlich)
1. Eine abgeschlossene Fach- oder Hochschulausbildung ist Ausfallzeit nach AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b) nur dann, wenn und soweit sie notwendige Ausbildung für einen künftigen Beruf ist.
2. Eine Fachschulausbildung, die - nach bereits abgeschlossener Berufsausbildung - allein der Fort- oder Weiterbildung oder der sonstigen Vertiefung von Wissen und Können im Beruf dient, ist keine Ausfallzeit.
3. Ein als Rechtsanwalt zugelassener oder diese Zulassung anstrebender Volljurist unterzieht sich mit dem Besuch einer Steuerfachschule keiner Berufsausbildung, sondern vertieft allein sein Wissen auf dem juristischen Teilbereich des Steuerrechts. Dies gilt auch dann, wenn er zusätzlich die Zulassung als Steuerberater anstrebt.
Orientierungssatz
Die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts umfaßt jegliche Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten. Deshalb ist der Rechtsanwalt nicht weniger als ein Steuerberater befähigt und berechtigt, geschäftsmäßig in Steuersachen Hilfe zu leisten.
Normenkette
AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1972-10-16; BRAO § 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.03.1980; Aktenzeichen L 18 An 138/77) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 22.03.1977; Aktenzeichen S 27(3) An 120/76) |
Tatbestand
Im Streit ist, ob der Besuch einer Steuerfachschule als Ausfallzeit (AZ) anzurechnen ist.
Der 1941 geborene Kläger, Volljurist, war nach Abschluß seiner Ausbildung von 1969 bis 1973 Angestellter von Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsfirmen.
In der vorliegend streitigen Zeit vom 18. Juni bis 1. September 1973 besuchte der Kläger eine private Steuerfachschule in S. Dies förderte die Bundesanstalt für Arbeit (BA); das Arbeitsamt S bewilligte ihm für diese Zeit Unterhaltsgeld von täglich 46,30 DM. In der Folge legte der Kläger die Prüfung zum Steuerberater ab und wurde im Februar 1974 vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen zum Steuerberater bestellt. Der Kläger ist zur Zeit Rechtsanwalt, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer.
Im Mai 1976 beantragte der Kläger bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ua, die Zeit des Besuchs der Steuerfachschule als AZ vorzumerken. Dies lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 26. Juli 1976 und dem Widerspruchsbescheid vom 22. Oktober 1976 (ausgefertigt: 4. November 1976) ab: Der Besuch der Steuerfachschule stelle keinen Fachschulbesuch iS des § 36 Abs 1 Nr 4b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) dar, weil er nicht mindestens ein halbes Jahr umfaßt habe.
Das Sozialgericht (SG) hat diese Auffassung geteilt und die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. März 1977). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit der angefochtenen Entscheidung vom 11. März 1980 dieses Urteil sowie die Bescheide der Beklagten abgeändert und diese verurteilt, die streitige Zeit als AZ vorzumerken. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, die vom Kläger besuchte Steuerfachschule entspreche der Definition im Fachschulverzeichnis. Lediglich die dort genannte Mindestzahl an Unterrichtsstunden - 600 - habe der Kläger mit 583,63 Unterrichtsstunden geringfügig und damit unschädlich unterschritten.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie führt aus, eine Fachschulausbildung iS des Gesetzes liege nach dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen Fachschulverzeichnis nur vor, wenn der Besuch der berufsbildenden Schule entweder mindestens einen Halbjahreskurs mit Ganztagsunterricht oder bei kürzeren Kursen einen Lehrgang von mindestens 600 Unterrichtsstunden umfasse. Beides sei nicht der Fall. Für die Eignung einer Aus- oder Fortbildung als Fachschulausbildung sei nicht die Qualifikation oder die berufliche Stellung entscheidend, die der einzelne dadurch erlange, sondern vielmehr die Intensität und die Dauer des Schulbesuchs.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die
Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 22. März 1977 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten kostenpflichtig
zurückzuweisen.
Er ist der Meinung, daß die Begriffsbestimmung des Fachschulverzeichnisses überholt sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Nach § 36 Abs 1 Nr 4b AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 4b der Reichsversicherungsordnung -RVO-) sind auf die Versicherungsjahre anrechnungsfähige AZen (§ 35 Abs 1 AVG = § 1258 Abs 1 RVO) ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen Fachschulbildung, jedoch nur bis zur Höchstdauer von 4 Jahren. Es kann dahinstehen, ob - worüber sich die Beteiligten bislang allein auseinandergesetzt haben - der 11-Wochen-Kurs des Klägers in einer privaten Steuerfachschule der Definition des Fachschulverzeichnisses genügt. Die Beteiligten und das Berufungsgericht haben verkannt, daß der Anspruch des Klägers auf Vormerkung einer AZ schon daran scheitert, daß der Besuch einer solchen Schule für einen als Rechtsanwalt zugelassenen oder eine solche Zulassung anstrebenden Volljuristen schlechthin keine Berufsausbildung sein kann.
Zwar trifft zu, daß § 36 Abs 1 Nr 4b AVG nicht allgemein auf Berufsausbildung, sondern auf eine Fachschulausbildung und daneben auf andere Schul- und Hochschulausbildungen abhebt. Gleichwohl wäre es rechtsirrig anzunehmen, daß die Tatsache allein schon des Besuchs einer solchen Schule genügt, um sie als AZ anrechnen zu können. Eine solche Auffassung würde den vom Gesetzgeber durch § 36 Abs 1 Nr 4b aaO verfolgten Zweck übersehen: Die Anrechnung von Zeiten nach dieser Vorschrift schützt den Versicherten vor Nachteilen, die dadurch eintreten, daß er durch die im Gesetz genannten Umstände unverschuldet daran gehindert war, eine pflichtversicherte Tätigkeit auszuüben und dadurch rentenstützend Pflichtbeiträge zu leisten (vgl dazu BT-Drucks 2/2437, 74; Großer Senat des Bundessozialgerichts -BSG- in BSGE 41, 41, 49 = SozR 2200 § 1259 Nr 13 und BSG in ständiger Rechtsprechung). Als unverschuldet die Entrichtung von Pflichtbeiträgen hindernden, zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten auszugleichenden Umstand anerkennt der Gesetzgeber in § 36 Abs 1 Nr 4b AVG bis zu einer bestimmten Höchstdauer nur diejenige Ausbildung, die über das 16. Lebensjahr hinaus "für den späteren Beruf notwendig" ist (so zB der erkennende Senat in SozR 2200 § 1259 Nr 25 und BSG in SozR § 1259 Nr 38). Der Besuch von Schulen, Fachschulen und Hochschulen, der nicht für den späteren Beruf erforderlich ist, sondern eine Vertiefung, Erweiterung oder Spezialisierung der Fähigkeiten und Kenntnisse in einem - nach abgeschlossener Ausbildung hierzu - bereits aufgenommenen Beruf bezweckt, kann mithin keine Berufsausbildung, sondern allenfalls berufliche Weiterbildung oder berufliche Fortbildung sein. Die berufliche Fortbildung aber ist, wie auch die im Gesetz selbst für die notwendige eigentliche Berufsausbildung genannten zeitlichen Grenzen erkennen lassen, keine Ausbildung iS von § 36 Abs 1 Nr 4b aaO. Die für sie aufgewendete Zeit honoriert der Gesetzgeber nicht durch die Anerkennung als Ausfallzeit, sondern weist sie - wie die notwendigen eigentlichen Ausbildungszeiten, die die gesetzlichen Zeitgrenzen überschreiten - dem persönlich zu verantwortenden Lebensbereich des Versicherten zu.
Auch der Kläger hat sich in der streitigen Zeit keiner Berufsausbildung unterzogen, sondern sich in seinem Beruf als Volljurist zusätzliche und spezielle Kenntnisse auf dem juristischen Teilbereich des Steuerrechts verschafft; er hat sich also allenfalls beruflich weitergebildet. Der gleichen Ansicht war er seinerzeit selbst; auf seinen Antrag hat ihm das Arbeitsamt S 1973 Unterhaltsgeld gewährt. Hierauf hatten nach § 44 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) idF des im Jahre 1973 geltenden Gesetzes vom 22. Dezember 1969 (BGBl I, 2360) nur "Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung" Anspruch. Nach § 41 aaO sind unter beruflicher Fortbildung zu verstehen "Maßnahmen, die zum Ziele haben, berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten festzustellen, zu erhalten, zu erweitern oder der technischen Entwicklung anzupassen oder einen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, und die eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine angemessene Berufserfahrung voraussetzen". Berufliche Fortbildung baut also auf dem vorhandenen Berufswissen des Versicherten auf und nutzt seine Berufskenntnisse (vgl zur Abgrenzung von Berufsausbildung und beruflicher Fortbildung auch BSGE 36, 48, 50 = SozR Nr 1 zu § 41 AFG; BSGE 37, 1ö3, 168 = SozR 4100 § 41 Nr 1, 27, 29 mwN und Geffers/Schwarz, AFG, § 41 Anm 1.1 und 1.2). In diesem Sinne hat der Kläger seine Kenntnisse als Volljurist, die das allgemeine Verwaltungsrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozeßrecht sowie zumindest Grundzüge des Steuerrechts umfassen (vgl zB § 1 der Verordnung zur Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen - JAPO - vom 23. Dezember 1968 - BayGVBl 1969, 20 und §§ 5 Abs 3 Nr 6, 36 Abs 2 Gruppe 3 Buchst d und e, 44 Abs 2 Nr 4 d der Bayer JAPO idF vom 1. August 1974 - BayGVBl 443), sowie seine Berufserfahrung als Angestellter von Wirtschafts- und Steuerprüfungsfirmen allenfalls vertieft und erweitert.
An der Tatsache, daß sich der Kläger hiernach in der streitigen Zeit keiner Berufsausbildung unterzogen hat, ändert auch der Umstand nichts, daß der Besuch der Steuerfachschule für Personen ohne juristische Ausbildung und ohne die beruflichen Erfahrungen des Klägers Berufsausbildung iS des Gesetzes sein kann. Nach dem soeben Dargelegten kommt es darauf an, über welche beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten der einzelne Versicherte verfügt.
Den Anspruch des Klägers stützt auch nicht die Tatsache, daß es ihm der Besuch der Steuerfachschule erleichtert haben mag, die Steuerberaterprüfung abzulegen. Ein Volljurist, der in Steuersachen rechtsberatend tätig werden will, bedarf keiner Prüfung und keiner Zulassung als Steuerberater; nach § 3 Abs 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAGO) ist der Rechtsanwalt der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. Seine Berufstätigkeit umfaßt jegliche Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten. Deshalb ist der Rechtsanwalt nicht weniger als ein Steuerberater befähigt und berechtigt, geschäftsmäßig in Steuersachen Hilfe zu leisten (§ 107a Abs 1 und 2 Nr 2 der Abgabenordnung idF vor dem Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 24. Juni 1975 - BGBl I 1509 - und seither § 3 Nr 1 und 2 des Steuerberatungsgesetzes idF vom 4. November 1975 - BGBl I, 2735; vgl auch Altenhoff/Busch/Kampmann, RBerG, 4. Aufl, RdNr 71). Für den Volljuristen, der die Rechtsberatung in Steuersachen selbständig betreiben will, hat mithin die zusätzliche Bezeichnung "Steuerberater" - nicht anders wie die des, soweit erlaubt, "Fachanwalts für Steuerrecht" - informierenden und werbenden Charakter (vgl auch Kalsbach, BRAO, 243). Der Volljurist gibt durch diese Bezeichnung allenfalls spezielle Kenntnisse kund, zeigt aber keine vom Beruf des Anwalts sachlich zu unterscheidende Tätigkeit an. Der Kläger selbst führt demgemäß in seiner Revisionserwiderung die Berufsbezeichnung "Rechtsanwalt - Steuerberater - Wirtschaftsprüfer". Es kann deshalb auch dahinstehen, ob der Fall anders zu beurteilen wäre, wenn der Kläger nur als Steuerberater zugelassen und nur als Steuerberater tätig wäre.
Hat sich aber der Kläger mit dem Besuch der Steuerfachschule keiner für einen künftigen Beruf notwendigen Ausbildung unterzogen, sondern auf einem Teilbereich seines Berufs Wissen allein vertieft, so liegt kein Umstand vor, den § 36 Abs 1 Nr 4b AVG auf Kosten der Gesamtheit der Rentenversicherten durch Anerkennung als AZ entschädigt. Die Beklagte und das SG haben die Vormerkung dieser Zeit als AZ daher zu Recht abgelehnt. Auf die hiernach begründete Revision der Beklagten war das entgegenstehende Urteil des LSG aufzuheben und das Urteil der ersten Instanz wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen