Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Beschwer für Anschlußberufung
Leitsatz (amtlich)
War ein Bescheid schon in 1. Instanz zum Teil nicht (mehr) angefochten und deshalb bindend geworden, so kann er in diesem Umfang in 2. Instanz auch auf die Anschlußberufung des Betroffenen nicht mehr überprüft werden.
Orientierungssatz
Da die Anschlußberufung nicht eigentlich ein Rechtsmittel, sondern nur ein angriffsweise wirkender Antrag des Anschließenden innerhalb des Rechtsmittels des Berufungsklägers mit der Möglichkeit ist, die von diesem angefochtene Entscheidung auch zu seinen, des Anschließenden, Gunsten abändern zu lassen, ist für sie keine Beschwer erforderlich (vgl BGH 1951-12-17 GSZ 2/51 = BGHZ 4, 229 und BSG 1966-02-23 2 RU 103/65 = BSGE 24, 247).
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 521 Fassung: 1950-09-12
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 10.12.1979; Aktenzeichen L 2 J 22/79) |
SG Mainz (Entscheidung vom 15.11.1978; Aktenzeichen S 7 J 180/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Wirkung einer Anschlußberufung.
Der 1922 geborenen, ungelernten Klägerin hatte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) wegen einer Vielzahl gesundheitlicher Störungen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) auf Zeit vom 1. November 1975 bis 31. Oktober 1976 bewilligt (Bescheid 1 vom 30. Januar 1976). Einen Antrag der Klägerin von Januar 1977 auf Weitergewährung dieser Rente über den zuletzt genannten Zeitpunkt hinaus lehnte die Beklagte nach ärztlicher Untersuchung und Begutachtung mit dem streitigen Bescheid 2 vom 18. März 1977 und dem Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 1978 ab: Die Klägerin sei fähig, leichte Frauenarbeiten vorwiegend im Sitzen auszuführen und sei daher weder berufsunfähig (bu) noch erwerbsunfähig (eu).
Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) erhoben.
Einen außerdem am 3. Oktober 1978 gestellten neuen Rentenantrag lehnte die Beklagte unter Bezug auf die zuletzt erteilten Bescheide wiederum ab (Bescheid 3 vom 7. November 1978).
Vor dem SG hat die Klägerin zuletzt in der mündlichen Verhandlung Rente wegen EU "über den 31. Oktober 1977 hinaus" begehrt. Dem hat das SG im Urteil vom 15. November 1978 entsprochen. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung und die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) laut Sitzungsniederschrift vom 10. Dezember 1979 Anschlußberufung mit dem Antrag eingelegt, ihr Rente wegen EU bereits ab 1. Februar 1977 zu gewähren. Dem hat das LSG in der angefochtenen Entscheidung vom 10. Dezember 1979 unter zusätzlicher Aufhebung des Bescheides 3 der Beklagten stattgegeben. In der Begründung heißt es: Die Klägerin sei nach den medizinischen Unterlagen körperlich und geistig in ihrer Leistungsfähigkeit so erheblich eingeschränkt, daß die Annahme von EU gerechtfertigt sei. Diese Leistungseinschränkung bestehe mindestens seit Februar 1977; insofern habe die Klägerin ihren Klageantrag in erster Instanz grundlos eingeschränkt. Die Anschlußberufung der Klägerin sei daher begründet, die Berufung der Beklagten dagegen unbegründet.
Gegen dieses Urteil hat der Senat auf die Beschwerde der Beklagten die Revision zugelassen (Beschluß vom 25. Juni 1980).
Die Beklagte macht mit der Revision geltend: Infolge Beschränkung ihres Klageantrages in erster Instanz für die Zeit ab 1. November 1977 habe die Klägerin damals den Rentenanspruch für die Spanne vom 1. November 1976 bis 31. Oktober 1977 fallengelassen, dh die Klage zum Teil zurückgenommen. Damit sei der Anspruch insoweit in der Hauptsache endgültig erledigt. Das LSG hätte ihn in diesem Umfang in zweiter Instanz nicht prüfen dürfen, sondern hätte die Anschlußberufung der Klägerin als unzulässig verwerfen müssen. Außerdem habe das LSG für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Oktober 1977 gegen das Verbot aus § 1290 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verstoßen, Rente für einen länger als drei Monate vor dem Rentenantrag zurückliegenden Zeitraum zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz
vom 10. Dezember 1979 insoweit aufzuheben, als sie,
Beklagte, verurteilt worden ist, der Klägerin Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Februar bis 31. Oktober 1977
zu zahlen, und die Anschlußberufung der Klägerin gegen
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 15. November 1978
zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet.
Die Klägerin konnte sich im Verfahren vor dem LSG gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 521 der Zivilprozeßordnung (ZPO) der von der Beklagten eingelegten Berufung gegen das Urteil erster Instanz vom 15. November 1978 anschließen (allgemeine Meinung, vgl zB BSGE 2, 229, 231 und 24, 247, 248 = SozR Nr 9 zu § 521 ZPO; BSGE 28, 31, 33 = SozR Nr 4 zu § 522a ZPO; BSG in SozR Nr 5 zu § 3 FremdRG; Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, § 151 SGG Anm 8 S III/73-28; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 143 Anm 5). Die Anschließung konnte die Klägerin, anders als nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anwendbaren § 522a Abs 1 ZPO, auch noch im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zur Niederschrift des Gerichts erklären (BSGE 28, 31, 32 = SozR aaO).
Zu Recht hat das LSG daher auf die von der Klägerin in der Berufungsinstanz erklärten Anschließung an die Berufung der Beklagten den Bescheid 3 der Beklagten aufgehoben, mit dem sie der Klägerin den - inzwischen zugesprochenen - Anspruch auf Rente für eine Zeit nach dem 31. Oktober 1977 erneut versagt und den diese schon vor dem SG ohne Erfolg angegriffen hatte.
Soweit die Klägerin in der Vorinstanz Rente für einen Zeitraum verlangt hatte, für den sie vor dem SG Ansprüche überhaupt nicht erhoben hatte, war die Anschließung indessen aus folgenden Gründen unbegründet:
Nach der einhelligen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist für die Anschlußberufung keine Beschwer erforderlich, weil sie nicht eigentlich ein Rechtsmittel, sondern nur ein angriffsweise wirkender Antrag des Anschließenden innerhalb des Rechtsmittels des Berufungsklägers mit der Möglichkeit ist, die von diesem angefochtene Entscheidung auch zu seinen, des Anschließenden, Gunsten abändern zu lassen (so grundlegend unter Fortführung der Rechtsprechung des Reichsgerichts der BGH in BGHZ 4, 229, 233 und im Anschluß hieran ua BSGE 24, 247 = SozR aaO; BSG SozR Nr 5 zu § 3 FremdRG; BSG in KOV 1966, 99; BAG in AP Nr 4 zu § 17 BAT; zur gegenteiligen Meinung im Schrifttum vgl zB Fenn, ZZP (1976) 89, 121 und FamRZ 1976, 259). Daß die Klägerin vor dem SG keine Rente für eine Zeit vor dem 1. November 1977 begehrt hatte, steht mithin der Zulässigkeit der Anschließung in zweiter Instanz für sich betrachtet nicht entgegen.
Von der Frage der unschädlich fehlenden Rechtsmittelbeschwer ist - anders als im Zivilprozeß - im Verwaltungsprozeß, sofern er - ua - die Anfechtung eines Verwaltungsaktes (vgl § 31 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches - SGB 10) zum Gegenstand hat (§ 54 Abs 1 und 4 SGG; § 42 Abs 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO), die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes scharf zu unterscheiden. Sie hindert nämlich jede Sachentscheidung durch das den Verwaltungsakt nachprüfende - besondere - Verwaltungsgericht. Auch im vorliegenden Fall fehlte dem LSG hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf Versichertenrente für die Zeit vor dem 1. November 1977 in diesem Sinne die Voraussetzung für eine Sachentscheidung:
Die Klägerin hatte gegen den eine Neugewährung von Rente versagenden Bescheid 2 der Beklagten in der Gestalt des bestätigenden Widerspruchsbescheides mit Schriftsatz an das SG vom 18. Februar 1978 Klage erhoben, ohne einen Antrag zu stellen. Dies hat die Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 15. November 1978 getan; laut Sitzungsniederschrift hat sie beantragt, den Bescheid 2 samt Widerspruchsbescheid abzuändern sowie den Bescheid 3 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit "über den 31. Oktober 1977 hinaus" zu gewähren.
Eine solche zeitliche Einschränkung der Anfechtung des Rente versagenden Bescheides durfte die Klägerin treffen. Jeder Versicherte darf nach § 1290 Abs 2 RVO sein Begehren auf Rente wegen BU oder EU zeitlich auch hinsichtlich derjenigen Zeitspanne begrenzen, in der ihre gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt waren. Die Zulässigkeit einer - etwaigen - entsprechenden Einschränkung der Klage im sozialgerichtlichen Verfahren folgt aus § 99 Abs 3 Nr 2 SGG. Der Umstand, daß die Klägerin nach allem zulässigerweise gegen die streitigen Bescheide eine Klage nicht erhoben oder - nach Beschränkung zuletzt in der mündlichen Verhandlung - nicht aufrechterhalten hat, soweit es die Zeit vor dem 1. November 1977 betraf, bewirkte nach § 77 SGG, daß die angefochtenen Bescheide in diesem Umfang sowohl formell unanfechtbar, als auch für die Beteiligten, dh auch für die Klägerin in der Sache bindend wurden.
Diese die Unanfechtbarkeit einschließende Bindungswirkung des Bescheides 2 einschließlich des bestätigenden Widerspruchsbescheides stand jeder Entscheidung in der Sache durch ein SG entgegen. Das LSG hätte mithin die Anschlußberufung der Klägerin wegen bereits eingetretener Bindung der angefochtenen Bescheide bezüglich des mit der Anschließung geltend gemachten Begehrens auf Rente für eine Zeit vor dem 1. November 1977 zurückweisen müssen (ebenso für den vergleichbaren Fall einer Klageerweiterung bei teilweise unanfechtbar gewordenem Verwaltungsakt BVerwGE 40, 25, 32; vgl auch Eyermann-Fröhler, VwGO, 8. Aufl, § 121 Rd Nr 29a mit weiteren Nachweisen).
Nach allem war das angefochtene Urteil auf die begründete Revision der Beklagten abzuändern wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen