Leitsatz (redaktionell)
Traumatische Krebse sind stets Narbenkrebse. Sie setzen eine Narbenbildung und allmähliche Entwicklung viele Monate oder Jahre aus dieser Narbe voraus.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine in der Nähe des Narbengebietes erlittene Hautabschürfung eine wesentliche mitwirkende Teilursache für die Entstehung eines solchen Krebses bildete.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger war als selbständiger Fuhrunternehmer hei der Beklagten unfallversichert. Mit Unfallanzeige vom 5. August 1952 meldete er der Beklagten einen Arbeitsunfall, welchen er im November 1951 erlitten habe; durch scharfes Anhalten seines Pferdefuhrwerks sei ein Pferd gestürzt, hierbei habe sich der Kläger eine blutende Hautabschürfung auf dem rechten Handrücken zugezogen. Die Ermittlungen der Beklagten ergaben folgenden Ablauf der weiteren Geschehnisse: Der Kläger beachtete die Verletzung zunächst nicht und ließ sich nicht sogleich ärztlich behandeln. Nach dem Abgang des Schorfes blieb an der betroffenen Stelle ein roter Punkt mit heftigem Juckreiz. Nach Angaben des prakt. Arztes Dr. K... suchte der Kläger diesen Arzt am 15./16. Januar 1952 wegen einer Geschwürsbildung auf dem rechten Handrücken auf, die mit Ausschneidung behandelt wurde. Eine erneut auftretende Geschwulst wurde von dem Hautarzt Dr. V... am 28. März 1952 ausgebrannt. Nach abermaliger Ausheilung bildete sich am Wundrand eine schnell zunehmende Geschwulst, deretwegen der Kläger am 19. Mai 1952 in die Behandlung der Universitäts-Hautklinik Münster trat. Nachdem die Hautklinik durch Gewebsuntersuchung einen infiltrierend wachsenden verhornenden Stachelzellkrebs festgestellt hatte, wurde am 8. Juni 1952 in der Chirurgischen Universitäts-Klinik der rechte Unterarm abgesetzt. - In dem von der Beklagten angeforderten Zusammenhangsgutachten der Universitäts-Hautklinik Münster berichteten die Dozenten Dr. B... und Dr. H... zur Vorgeschichte, der Kläger habe 1915 eine Verwundung mit Verlust des rechten Daumens erlitten. Zur Zusammenhangsfrage meinten die Gutachter, nach ärztlicher Erfahrung müsse zwischen einer einmaligen mechanischen Reizeinwirkung und einem hierdurch hervorgerufenen Krebs in der Regel eine Latenzzeit von 5 - 7 Monaten bestehen. Da sich die Geschwulst an der Hand des Klägers schon nach einem kürzeren Zeitraum gezeigt habe, sei es als überwiegend unwahrscheinlich, aber nicht als völlig unmöglich zu bezeichnen, daß die Unfallverletzung an der rechten Hand als entscheidende Teilursache bei der Krebsentstehung anzusehen sei. Auf dieses Gutachten stützte die Beklagte ihren Ablehnungsbescheid vom 15. April 1953.
Das Sozialgericht (SG.) ließ ein Aktengutachten durch den Pathologen Prof. Dr. S... Aachen, erstatten. Dieser bezeichnete den Fall des Klägers als ein Schulbeispiel dafür, unter welchen Bedingungen ein Zusammenhang zwischen Trauma und Krebs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abzulehnen sei: Es habe sich um ein fragwürdiges, jedenfalls nur leichtes Unfallereignis gehandelt; umfassende Beobachtungen - besonders aus dem zweiten Weltkrieg - sprächen ganz überwiegend gegen Krebsverursachung durch kleine Verletzungen; traumatische Krebse seien stets Narbenkrebse, die eine Narbenbildung - etwa nach Schußverletzung - und allmähliche Entwicklung - viele Monate oder Jahre - aus dieser Narbe voraussetzten. Bei dem Kläger sei die oberflächliche Hautverletzung rasch abgeheilt, dann aber praktisch ohne Latenzzeit schon gleich das erste Krebssymptom aufgetreten; deshalb sei anzunehmen, daß der Krebs im Anfangsstadium schon im Zeitpunkt des Unfalls entwickelt gewesen sei. Die Krankengeschichte spreche also mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Zusammenhang zwischen dem angeblichen Unfall und der späteren Krebsentwicklung nicht bestehe.
Das SG. hat hierauf die Klage durch Urteil vom 25. Januar 1955 abgewiesen.
Mit seiner Berufung wies der Kläger darauf hin, daß er schon vor dem Arbeitsunfall den rechten Daumen 1915 durch Kriegsbeschädigung verloren hatte. Die Universitäts-Hautklinik habe diese Verwundung fotografisch festgehalten. Es sei unverständlich, daß diese wichtige Tatsache in den ärztlichen Gutachten nicht berücksichtigt worden sei, zumal da doch nach der ärztlichen Wissenschaft gerade derartige Kriegsverletzungen als Herd der Krebsentstehung angesehen würden. Die Hautabschürfung infolge des Arbeitsunfalls sei beim Kläger gerade auf dem Daumenrücken der rechten Hand entstanden, an dieser Stelle habe sich dann auch der Krebs entwickelt. Unter Auswertung des von Prof. Dr. S... erstatteten Gutachtens vertrat der Kläger nunmehr den Standpunkt, daß in Verbindung mit der alten Schußverletzung des rechten Daumens die beim Unfall im November 1951 erlittene Hautabschürfung zumindest eine wesentliche Teilursache der Krebsentstehung und der nachfolgenden Amputation des rechten Unterarms sei. Das Landessozialgericht (LSG.) möge deshalb ein neues Gutachten anfordern, bezw. eines der bisherigen Gutachten in dem aufgeworfenen Punkt ergänzen lassen.
Das LSG. hörte in der mündlicher. Verhandlung den Chirurgen Dr. B... Dieser führte aus, nach den Angaben des Klägers habe es sich lediglich um eine ganz oberflächliche Hautabschürfung gehandelt, wobei der Kläger nicht angeben könne, ob diese die von der früheren Daumenamputation bestehende Narbe betroffen habe. Der nach den Erklärungen des Klägers anzunehmende Zeitraum von drei Wochen vom Unfallereignis bis zu den ersten Krebserscheinungen sei so kurz, daß schon aus diesem Grunde der Kausalzusammenhang als höchst unwahrscheinlich angesehen werden müsse. Außerdem sei nach ärztlicher Erfahrung eine solche leichteste Verletzung nicht geeignet, das Gewebe so zu irritieren, daß es zu Krebsdegenerationen geführte hätte.
Das LSG. hat durch Urteil vom 5. Oktober 1955 die Berufung zurückgewiesen: Die in den Gutachten nicht ausgeschlossene bloße Möglichkeit der traumatischen Krebsentstehung genüge nicht zur Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs. Der Ausnahmefall einer Frühentwicklung des Krebses nach dem Unfall sei nach den Gutachten nicht wahrscheinlich. Da die Entwicklung des bereits vor dem Unfall bestehenden Hautkrebses nach inneren Gesetzen fortschreite, scheide der Arbeitsunfall auch als mitwirkende wesentliche Teilursache, und zwar auch im Sinne der Verschlimmerung aus, zumal kein zuverlässiger Gesichtspunkt dafür spreche, daß seit dem behaupteten Unfall ein Knick in der Krankheitsentwicklung eingetreten sei. Der Kläger messe auch offenbar selbst dem Arbeitsunfall jetzt keine wesentliche Bedeutung für die Geschwulstbildung mehr bei, weil er nunmehr die Kriegsverletzung an der rechten Hand während des ersten Weltkrieges als eindrucksvolles Schadensereignis und damit als Ursache der Krebsbildung in den Vordergrund stelle. Die Beklagte komme aber für die Entschädigung von Kriegseinwirkungen nicht in Betracht. - Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das am 5. Dezember 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Januar 1956 Revision eingelegt und sie am 30. Januar 1956 begründet: Das LSG. habe zu Unrecht den Antrag des Klägers auf Einholung eines neuen Gutachtens abgelehnt. Der Kläger habe - anknüpfend an das Gutachten des Prof. Dr. S... dem LSG. seine Auffassung vorgetragen, daß der Krebs vielleicht durch die Kriegsverletzung am rechten Daumen verursacht, jedoch viele Jahre lang schlummernd geblieben und erst durch den Arbeitsunfall an der rechten Hand in Höhe des amputierten Daumens zur Auslösung seiner bösen Eigenschaften und damit zum Durchbruch gekommen sei; daß also die Kriegsverletzung und der Arbeitsunfall zusammen die Entstehung und Auslösung des Krebses verursacht hätten und deshalb das angeschuldigte Unfallereignis eine wesentliche Teilursache der Amputation des rechten Unterarms sein müsse. Hiernach sei das LSG. verpflichtet gewesen, von Amts wegen ein neues Gutachten einzuholen oder die bisherigen Gutachten ergänzen zu lassen. Ohne stichhaltigen Grund habe das LSG. stattdessen nur den Dr. P... gehört, der über die spezielle Frage, ob Kriegsverletzung und Unfall zusammenwirkend als wesentliche Teilursache die Entstehung und den Durchbruch des Krebses herbeigeführt hätten, keine sicheren Erklärungen abgeben konnte; diesem Sachverständigen hätte das Anschauungsmaterial, insbesondere die Fotos des amputierten Unterarms nicht vorgelegen, auch sei er als Chirurg nicht genügend sachkundig in den Fragen der Hautkrebspathologie. Ungerechtfertigt sei die Annahme des LSG., der Kläger habe im Berufungsverfahren dem Unfallereignis keine wesentliche Bedeutung für die Geschwulstbildung und die Amputation des Unterarms mehr beigemessen. Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Bescheid der Beklagten aufzuheben und den Armverlust des Klägers als Folge des Arbeitsunfalls vom November 1951 anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Nach ihrer Auffassung liegen die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel nicht vor.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Sie ist statthaft auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil der Kläger zutreffend wesentliche Mängel des Verfahrens gerügt hat.
Soweit die Revision die Nichtbeachtung eines vom Kläger gestellten Beweisantrages rügt, steht ihr allerdings die Vorschrift des § 103 Satz 2 SGG entgegen; danach war das LSG. bei der Erforschung des Sachverhalts an Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Das LSG. hat indessen - wie die Revision außerdem mit Recht geltend macht - seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 Satz 1 SGG) nicht hinreichend genügt. Unabhängig vom Berufungsvorbringen des Klägers mußte sich nämlich das LSG. die Frage aufdrängen, ob etwa der Umstand, daß sich an der rechten Hand des Klägers eine Amputationsnarbe nach einer alten Verwundung befunden hatte, eine wesentliche Mitwirkung des Unfalls vom November 1951 bei der Krebsentstehung dann wahrscheinlich machte, wenn dieser Unfall gerade die Narbengegend mitbetroffen hätte. Anlaß hierzu war vor allem das Gutachten von Prof. Dr. S... der die besondere Anfälligkeit von Narbengewebe für die Krebsentwicklung hervorgehoben hatte. Diesem Sachverständigen war andererseits bei dem Aktenstudium die Tatsache des vor 40 Jahren erfolgten Daumenverlustes vermutlich entgangen, denn er hat sie mit keinem Wort berücksichtigt, was sonst bei seinen theoretischen Ausführungen über Krebsentwicklung aus Schußverletzungen sehr nahe gelegen hätte. Die Gutachter der Universitäts-Hautklinik Münster haben über die Kriegsbeschädigung zwar in der Anamnese berichtet, jedoch wird in ihrem Gutachten dieser Umstand aus unerkennbaren Gründen dann nicht gewürdigt. Falls das LSG. beabsichtigt haben sollte, eine Klärung dieser Frage durch den in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen Dr. P... zu erreichen, so ist dieser Versuch offensichtlich mißglückt. Der Niederschrift über seine gutachtliche Äußerung ist nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob er nur die bei den Akten befindlichen schriftlichen Angaben des Klägers berücksichtigt oder den Kläger noch zusätzlich über die Art und die Stelle der Unfallverletzung befragt hat; im letzteren Fall wäre u.U. der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) verletzt worden (vgl. Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung 25. Aufl. Anm. 1 zu § 355). Jedenfalls aber hat auch Dr. P...- anscheinend in Ermangelung ausreichender Beweisunterlagen - zu der hier erörterten Frage nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern sich auf allgemeine Ausführungen in Anlehnung an die früheren Gutachten beschränkt. Demnach ist also von keinem der hinzugezogenen Sachverständigen die vom Kläger aufgeworfene, wegen der theoretischen Darlegungen des Prof. Dr. S... auch dem Tatrichter sich aufdrängende Frage behandelt worden, ob es als wahrscheinlich anzusehen sei, daß der infolge der Daumenamputation zur Krebsbildung neigende Zustand der rechten Hand durch die bei der Arbeit erlittene Hautabschürfung wesentlich beeinflußt wurde. Das LSG. hätte deswegen, wie die Revision zutreffend ausführt, ein weiteres Gutachten anfordern oder die bisher gehörten Sachverständigen zu ergänzenden Äußerungen im Hinblick auf diese noch nicht genügend geklärte Frage veranlassen müssen.
Stattdessen hat das LSG. geglaubt, das auf diese Frage gerichtete Berufungsvorbringen des Klägers dahin deuten zu können, daß der Kläger erklärt habe, er halte nicht mehr den Arbeitsunfall von 1951, sondern nur noch die Verwundung von 1915 für die wesentliche Ursache der Krebsbildung. Mit dieser Deutung hat das angefochtene Urteil, wie die Revision mit Recht geltend macht, den unmißverständlichen Inhalt des klägerischen Vorbringens verkannt. Das LSG. hätte beachten müssen, daß der vom Kläger vertretene Standpunkt sich durchaus im Rahmen der für die Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätsnorm hielt; danach braucht das Unfallereignis nicht die alleinige Ursache für eine nachfolgende Gesundheitsstörung zu sein, sondern es muß eine wesentliche mitwirkende Teilursache bilden (so die ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, vgl. AN 1912 S. 930; Lauterbach Unfallversicherung Stand Sept. 1958 Anm. 3 II b zu § 542 RVO mit weiteren Nachweisen; siehe auch Beschluß des erkennenden Senats vom 31.1.1958 in MDR 1958 S. 281).
Die Revision ist auch begründet. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG. bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre (vgl. BSG. 2 S. 197).
Von einer Entscheidung in der Sache selbst mußte der Senat absehen, da die tatsächlichen Feststellungen hierfür nicht ausreichen. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der ihm zugrunde liegenden Feststellungen war deshalb die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses wird zu erwägen haben, ob außer der noch erforderlichen Anhörung von Sachverständigen zur weiteren Erforschung des Sachverhalts auch noch die Beiziehung der den Kläger betreffenden Versorgungsakten dienlich erscheint.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen