Leitsatz (redaktionell)

1. Trunksucht ist nicht nur dann als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne anzusehen, wenn Heilbehandlung wegen eingetretener Organschäden oder wegen besonderer Schmerzen oder Beschwerden notwendig wird; es genügt vielmehr, daß die Suchterscheinungen, die sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der zwanghaften Abhängigkeit von dem Suchtmitteln äußern, ohne ärztliche Behandlung nicht behoben oder gebessert werden können.

Die Unterbringung eines Trunksüchtigen in einem Landeskrankenhaus kann auch dann noch als Krankenhauspflege angesehen werden, wenn sie nur zur Sicherung des Kurerfolges in Gestalt einer (verlängerten) Entziehungskur erforderlich ist und dem Trunksüchtigen eine entsprechende Behandlung zuteil wird.

2. Behandlungsbedürftigkeit begründet den Versicherungsfall der Krankheit; unerheblich ist dabei, ob die Behandlungsbedürftigkeit sogleich oder erst nachträglich festgestellt wird und erst von einem späteren Zeitpunkt an Versicherungsleistungen in Anspruch genommen werden.

3. Nicht realisierte Leistungsansprüche aus früher eingetretenen Versicherungsfällen können auch noch nach dem Ausscheiden aus dem Versicherungsverhältnis gegen die Krankenkasse erhoben werden.

 

Orientierungssatz

Zur Frage, wann Trunksucht als eine behandlungsbedürftige Krankheit anzusehen ist.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der beklagten Krankenkasse gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Februar 1966 wird zurückgewiesen.

Auf die Anschlußrevision des klagenden Sozialhilfeträgers wird das angefochtene Urteil aufgehoben, soweit es die Klage abgewiesen hat. Insoweit wird der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob und inwieweit die beklagte Krankenkasse dem klagenden Sozialhilfeträger die durch die Unterbringung des Arbeiters H R (R.) im Niedersächsischen Landeskrankenhaus W vom 8. Juli 1960 bis 6. März 1961 entstandenen Kosten zu erstatten hat.

R. schied am 2. Juni 1960 aus seiner letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung auf eigenen Wunsch aus. Einen Tag später wurde er wegen Trunksucht entmündigt; der Entmündigungsantrag war im Mai 1960 ua damit begründet worden, daß R. in letzter Zeit nicht mehr arbeite, sondern sich anderweitig betätige, wenn er nicht in Gastwirtschaften trinke.

Am 8. Juli 1960 wurde R. aufgrund eines amtsärztlichen Gutachtens in das Nieders. Landeskrankenhaus W - Abt. für Suchtkranke in Bad R - eingewiesen und dort bis zum 6. März 1961 wegen seiner Trunksucht behandelt. Die Einweisung teilte der Kläger der Beklagten alsbald mit und machte zugleich vorsorglich einen Ersatzanspruch geltend. Die Beklagte lehnte eine Kostenübernahme ab, weil der Versicherungsfall erst am 8. Juli 1960, also später als drei Wochen seit dem Ausscheiden aus der Versicherung, eingetreten sei; R. habe auch bis zur Einweisung in das Krankenhaus nicht in ärztlicher Behandlung gestanden. Gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 3. November 1960 legte der Kläger mit einer Vollmacht des Vormunds des R. Widerspruch ein, der von der Beklagten mit Bescheid vom 12. April 1961 zurückgewiesen wurde.

Noch im gleichen Monat erhob der Kläger wegen Erstattung der von ihm für die Unterbringungszeit übernommenen Behandlungskosten Klage vor dem Sozialgericht (SG) und machte geltend, daß R. noch während seiner Mitgliedschaft bei der Beklagten behandlungsbedürftig geworden sei. Von den behandelnden Krankenhausärzten wurde dem SG dazu mitgeteilt, das psychische Verhalten des R. bei der Krankenhausaufnahme und seine langjährige Suchtanamnese habe die Annahme einer alkoholtoxischen Gehirnschädigung mit charakterlichen Veränderungen nahegelegt; R. sei bis zum 19. August 1960 als klinischer Fall geführt worden, von da an habe eine reine Entziehungs- und Entwöhnungsbehandlung stattgefunden, aus der er im März 1961 frei von Suchterscheinungen und voll arbeitsfähig entlassen worden sei (Befundbericht vom 18. Juli 1962).

Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 3. November 1960 und 12. April 1961 verurteilt, dem Kläger die für die gesamte Unterbringungszeit entstandenen Kosten voll zu ersetzen; R. sei bereits seit März 1960 behandlungsbedürftig und seit dem Ausscheiden aus der letzten Beschäftigung auch arbeitsunfähig gewesen (Urteil vom 9. April 1963).

Das Landessozialgericht (LSG) hat der Berufung der Beklagten teilweise stattgegeben. Es hat ihre Verurteilung nur insoweit aufrechterhalten, als sie zur Erstattung der Unterbringungskosten für die Zeit bis zum 19. August 1960 verpflichtet worden ist, und hat auch für diese Zeit den Erstattungsbetrag - entsprechend einer zwischen den niedersächsischen Fürsorgeverbänden und Krankenkassen getroffenen Vereinbarung - auf 7,80 DM täglich begrenzt. Es hat aufgrund eines von ihm eingeholten Gutachtens des Oberarztes Dr. N, der R. seinerzeit behandelt hatte, angenommen, bei R. habe schon vor Aufgabe der letzten Beschäftigung wegen vorgeschrittener Trunksucht ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand vorgelegen, der Heilbehandlung erfordert habe. Schon dieser objektive Zustand der Behandlungsbedürftigkeit habe den Versicherungsfall und die Leistungspflicht der Beklagten ausgelöst, obwohl der Zustand mangels Inanspruchnahme einer Heilbehandlung durch R. erst nachträglich festgestellt worden sei. Krankenhauspflege habe die Beklagte allerdings nach dem hier noch anzuwendenden alten Recht nur für längstens 26 Wochen zu leisten brauchen. Da nach dem 19. August 1960 eine reine Entziehungs- und Entwöhnungsbehandlung durchgeführt worden sei, habe seitdem keine behandlungsbedürftige Krankheit und deshalb auch keine Leistungspflicht der Beklagten mehr bestanden. Daß sie ihre Leistungspflicht durch die genannten Bescheide bindend abgelehnt habe, sei für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblich (Urteil vom 8. Februar 1966).

Gegen dieses Urteil hat die beklagte Krankenkasse die zugelassene Revision eingelegt. Sie stimmt dem LSG zwar darin zu, daß R. schon vor Aufgabe seiner letzten Beschäftigung behandlungsbedürftig gewesen sei, meint jedoch, R. habe nach seinem Ausscheiden aus der Versicherung keine Leistungsansprüche mehr gehabt, weil er sie nicht vor dem Ausscheiden geltend gemacht habe. Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Außerdem beantragt der Kläger mit der Anschlußrevision,

die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Entscheidung zu verurteilen, ihm die für die Krankenhausbehandlung des R. bis zum 6. Januar 1961 aufgewendeten Kosten, und zwar in Höhe von täglich 7,80 DM bis Ende 1960 und von täglich 8,40 DM für die Zeit vom 1. Januar bis 6. Januar 1961, zu erstatten.

Nach Ansicht des Klägers hat das LSG den Begriff der behandlungsbedürftigen Erkrankung verkannt, wenn es aus dem Befundbericht vom 18. Juli 1962 entnommen habe, daß R. nur bis zum 19. August 1960 behandlungsbedürftig gewesen sei. Inwiefern sich der Krankheitszustand des R. nach dem 19. August 1960 geändert habe, sei nicht festgestellt worden.

Die Beklagte beantragt,

die Anschlußrevision des Klägers zurückzuweisen.

II

Die Revision der beklagten Krankenkasse ist nicht begründet. Das LSG hat mit Recht angenommen, daß die Bescheide der Beklagten vom 2. November 1960 und 12. April 1961, mit denen sie R. gegenüber die Bezahlung der streitigen Behandlungskosten abgelehnt hat (der klagende Sozialhilfeträger ist in diesem Verfahren nur "namens des R.", also als dessen Bevollmächtigter, nicht nach § 1538 der Reichsversicherungsordnung - RVO - in eigenem Namen tätig geworden), den hier vom Kläger erhobenen Ersatzanspruch nach § 1531 RVO nicht präjudizieren. Die Bescheide sind, wenn überhaupt, nur im Verhältnis der Beklagten zu R., nicht gegenüber dem Kläger bindend geworden (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Das LSG hat ferner die -vorgeschrittene Trunksucht des R. zutreffend für eine behandlungsbedürftige Krankheit gehalten. Dabei kann dahinstehen, wie in Trunksuchtfällen der versicherungsrechtliche Begriff der Krankheit im einzelnen abzugrenzen ist, ob insbesondere die Trunksucht, wie das LSG anzunehmen scheint, ein vorgeschrittenes Stadium erreicht haben muß. Nicht erforderlich ist jedenfalls, daß die Heilbehandlung "wegen eingetretener Organschäden oder wegen besonderer Schmerzen oder Beschwerden" notwendig wird; es genügt vielmehr, daß die Suchterscheinungen, die sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der zwanghaften Abhängigkeit von den Suchtmitteln (im "Nichtmehraufhörenkönnen") äußern, ohne ärztliche Behandlung nicht behoben oder auch nur gebessert werden können (vgl. dazu Urteil des Senats vom 18. Juni 1968, 3 RK 63/66). Bei dem versicherten R. lag eine Trunksucht so schweren Grades vor, daß eine Heilung oder Besserung ohne die im Juli 1960 eingeleitete Entziehungsbehandlung nach medizinischer Erfahrung aussichtslos erschien. R. war deshalb behandlungsbedürftig krank. Insoweit hat auch die Beklagte keine Einwände mehr erhoben.

Dem LSG ist schließlich - entgegen der Ansicht der Beklagten - darin beizupflichten, daß bereits die Tatsache der Behandlungsbedürftigkeit den Versicherungsfall der Krankheit begründet; unerheblich ist, ob die Behandlungsbedürftigkeit sogleich oder erst nachträglich festgestellt wird und der Erkrankte erst von einem späteren Zeitpunkt an Versicherungsleistungen in Anspruch nimmt. In diesem Sinne hat der Senat schon im Urteil vom 15. Oktober 1968 (3 RK 1/66) entschieden, daß der Krankenpflegeanspruch mit dem "Beginn der Krankheit" entsteht, selbst wenn der Anspruch zunächst nicht geltend gemacht wird (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Das gilt auch dann, wenn ein behandlungsbedürftiger Versicherter vor Gewährung von Kassenleistungen aus der Versicherung ausscheidet. Auch nach dem Ausscheiden können deshalb noch aus früher eingetretenen Versicherungsfällen bisher nicht realisierte Leistungsansprüche gegen die Krankenkasse erhoben werden. Daß die nachträgliche Feststellung der Anspruchsgrundlagen gelegentlich Schwierigkeiten bereiten mag, ist der Beklagten zuzugeben. Das allein rechtfertigt jedoch nicht, den Versicherungsfall der Krankheit anders, als er bisher allgemein verstanden worden ist, zu bestimmen, seinen Eintritt insbesondere davon abhängig zu machen, daß der Versicherte Leistungen in Anspruch nimmt. Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß Zweifel über den Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles, die bei nachträglicher Erhebung von Leistungsansprüchen entstehen und nicht behoben werden können, zu Lasten des Versicherten gehen.

Im vorliegenden Fall hat das LSG aufgrund eines ärztlichen Gutachtens festgestellt, daß R. noch vor Aufgabe seiner letzten Beschäftigung wegen Trunksucht behandlungsbedürftig geworden ist. Der Versicherungsfall - die behandlungsbedürftige Krankheit - ist mithin noch während der Mitgliedschaft des R. bei der Beklagten eingetreten. Ob auch seine Arbeitsunfähigkeit und das Bedürfnis nach Krankenhauspflege noch während dieser Zeit eingetreten sind, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, hätte R. bei seinem Ausscheiden aus der Versicherung (2. Juni 1960) zunächst nur einen Anspruch auf Krankenpflege für die Dauer von 26 Wochen gehabt (§ 183 Abs. 1 Satz 2 RVO). Da er jedoch spätestens mit Beginn der Entziehungskur (8. Juli 1960) arbeitsunfähig und krankenhauspflegebedürftig wurde und zu dieser Zeit sein Anspruch auf Krankenpflege noch bestand (vgl. dazu das genannte Urteil des Senats vom 15. Oktober 1968), durfte die Beklagte, ohne die Grenzen ihres Ermessens zu überschreiten, die beantragte Krankenhauspflege nicht verweigern. Das LSG hat sie deshalb mit Recht zur Erstattung der vorläufig vom Kläger übernommenen Behandlungskosten für die Zeit bis zum 19. August 1960 im Rahmen der damals zwischen den Beteiligten bestehenden Erstattungsregelung verurteilt. Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Begründet ist dagegen die Anschlußrevision des Klägers, mit der dieser eine Kostenerstattung über den 19. August 1960 hinaus - bis zum Ablauf der seinerzeit noch maßgebenden Aussteuerungsfrist von 26 Wochen ("Verbesserungserlaß" vom 2. November 1943, AN II S. 485, Abschnitt I Nr. 2 a und b), d. h. bis zum 6. Januar 1961 - fordert. Die aufgrund eines ärztlichen Befundberichts getroffene Feststellung des LSG, R. sei nur bis zum 19. August 1960 "als klinischer Fall geführt" worden und danach in einer "reinen Entziehungs- und Entwöhnungsbehandlung" gewesen, reicht nicht aus, um den Erstattungsanspruch des Klägers für die Zeit nach dem 19. August 1960 zu verneinen. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, inwiefern sich der Zustand des R. und die Art seiner Behandlung nach dem genannten Tag gegenüber früher geändert haben. Ohne daß darüber nähere Feststellungen getroffen werden, ist jedoch nicht sicher zu beurteilen, ob R. nicht auch nach dem fraglichen Tag noch, wenn auch nur zur Sicherung des Kurerfolges, stationäre Behandlung in Gestalt einer (verlängerten) Entziehungskur benötigt hat und ob ihm eine solche Behandlung in dem Landeskrankenhaus Wunstorf tatsächlich zuteil geworden ist (zu den Begriffen der Krankenhauspflege und der Krankenhauspflegebedürftigkeit vgl. Urteil des Senats vom 27. August 1968, 3 RK 27/65). Der Senat hat deshalb den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückverwiesen. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324490

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