Orientierungssatz
AFG § 134 Abs 2 S 2 ist nicht dahin auszulegen, daß ein Anspruch auf Alhi immer dann schon entfällt, wenn ein Arbeitsloser nur Teilzeitarbeit verrichten kann, er also hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit Einschränkungen unterliegt. Der Anspruch auf Alhi kann demnach gegeben sein, wenn unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes - also in nennenswertem Umfange - Arbeitsplätze dieser Art vorhanden sind, gleichgültig ob sie frei oder besetzt sind.
Normenkette
AFG § 134 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1969-06-25, § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-06-25, S. 2 Hs. 1 Fassung: 1969-06-25
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.04.1975; Aktenzeichen L 5a Ar 515/74) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 28.02.1974; Aktenzeichen S 3 Ar 1130/72) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. April 1975 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist dem Kläger Arbeitslosenhilfe (Alhi) seit dem 24. April 1972 zu zahlen.
Der Kläger ist 1925 in Rumänien geboren. Nach seinen Angaben besuchte er dort das Handelslyzeum und war von 1949 an als Buchhalter tätig. Er erhielt 1962 das staatliche Abgangsdiplom für das Fach Buchhalter für Industrie, Bauten und Transportwesen. Im November 1969 kam er in die Bundesrepublik. Er bezog ab 1. Dezember 1969 Arbeitslosengeld (Alg). Im Sommer 1970 war der Kläger für drei Monate aushilfsweise als Buchhalter in S tätig und erhielt danach wieder Alg und später Anschluß-Alhi. Nach arbeitsamtsärztlichem Gutachten konnte er halbtags leichte körperliche Arbeiten und leichte Büroarbeiten leisten.
Nachdem der Kläger im Frühjahr 1972 in den Bezirk des Arbeitsamts Ludwigsburg umgezogen war, stellte er am 24. April 1972 bei diesem Arbeitsamt Antrag auf Alhi und gab, wie früher schon, an, er könne täglich fünf Stunden arbeiten. Das Arbeitsamt lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 30. Mai 1972; Widerspruchsbescheid vom 4. August 1972). Es vertrat die Auffassung, der Kläger habe keinen Anspruch auf Alhi, weil er nur mit Einschränkungen hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit imstande sei, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Halbtagsbeschäftigungen für männliche Arbeitskräfte seien auf dem für den Kläger erreichbaren Arbeitsmarkt nicht üblich.
Das Sozialgericht (SG) hat eine Auskunft der Industrie- und Handelskammer H vom 6. April 1973 eingeholt.
Diese hat ausgeführt, nach den besonders vom Arbeitgeberverband H/H e.V. erteilten Informationen, welche im wesentlichen auch durch einen ebenfalls befragten Fachverband in Stuttgart bestätigt worden seien, seien gerade Buchhalter nicht in dem Maße arbeitszeitgebunden, wie dies bei anderen Berufsgruppen der Fall sei, deren Anwesenheit am Arbeitsplatz über die volle Arbeitszeit des jeweiligen Betriebes hinweg erforderlich sei. Eine generelle Feststellung dahin, daß die Möglichkeit der Aufnahme von Teilzeitbeschäftigung schon aus diesem Grunde in größerem Umfange möglich sei, könne aus dieser Tatsache allerdings nicht gefolgert werden. Vielmehr sei nach Betriebsgröße und Betriebstypus zu differenzieren. Bei größeren Betrieben, welche eine Vielzahl von Personen besonders in der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung beschäftigten, könne davon ausgegangen werden, daß eine organisatorische Ausgestaltung eines Teilzeitarbeitsverhältnisses unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten im Interesse eines reibungslosen Zusammenwirkens der Beschäftigten im allgemeinen nicht für angängig gehalten werde. Eine Einschränkung erfahre diese Tatsache dadurch, daß größere Betriebe zunehmend Buchhaltungsvorgänge auf dem Wege elektronischer Datenverarbeitung erledigten. Ein Sonderfall werde ersichtlich bezüglich solcher größeren Betriebe, welche eine sogenannte Gleitzeitbeschäftigung eingeführt hätten. Noch günstiger erschienen die Aussichten für einen Buchhalter, welcher lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen könne, bei kleineren Unternehmen, bei welchen eine Arbeitskraft mit den anfallenden buchhalterischen Tätigkeiten bei Vollzeitarbeit nicht voll ausgelastet werde. Diese Fälle würden der Industrie- und Handelskammer gegenüber nach den Erfahrungen als eher häufig bezeichnet. Insgesamt könne man also davon ausgehen, daß nicht lediglich in Einzel- oder Ausnahmefällen, sondern zumindest in nicht unerheblichem Umfange im Berufszweig des Buchhalters Teilzeitarbeitsverhältnisse tatsächlich eingegangen würden.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger auf den Antrag vom 24. April 1972 Alg in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Urteil vom 28. Februar 1974).
Das Landessozialgericht (LSG) hat eine Auskunft des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg vom 21. Januar 1975 eingeholt, das auf die Frage nach dem Verhältnis der Teilzeit- zur Vollzeitarbeit für männliche Erwerbstätige geantwortet hat, es wäre notwendig, genau abzugrenzen, bei welcher Wochenstundenzahl von Teilzeitarbeit gesprochen werden könne. Diese Abgrenzung könne das Statistische Landesamt nicht vornehmen. Daten über die Art der Arbeit könne es nicht liefern. Auch Daten für das gesamte Bundesgebiet seien nicht verfügbar. Sie müßten vom Statistischen Bundesamt erstellt werden. Das Statistische Landesamt hat eine Tabelle über die Verteilung der Erwerbstätigen nach Arbeitszeitgruppen beigelegt.
Mit Urteil vom 15. April 1975 hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt:
Gemäß § 134 Abs 2 Satz 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) sei der Anspruch auf Alhi ausgeschlossen, wenn der Arbeitslose nur mit Einschränkung hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit imstande sei, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Diese Vorschrift sei dahin auszulegen, daß bei Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf Teilzeitarbeit der Anspruch auf Alhi stets ausgeschlossen sein solle, auch wenn Teilzeitarbeit auf dem "allgemeinen Arbeitsmarkt" üblich sei. Es genüge für den Ausschluß des Anspruchs auf Alhi, daß der Arbeitslose nicht die volle tarifliche Arbeitszeit leisten könne. Auf dem für den Kläger in Betracht kommenden Arbeitsmarkt der Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe sowie der leichten manuellen Tätigkeiten seien, wie aus den vorhandenen statistischen Unterlagen geschlossen werden dürfe, im Frühjahr 1972 Teilzeitarbeitsplätze nur in einem Umfange von weniger als 3 % der insgesamt bestehenden Arbeitsplätze vorhanden gewesen.
Im Hinblick auf die vom LSG vertretene Auslegung des § 134 Abs 2 Satz 2 AFG könne aber dahingestellt bleiben, ob bei diesem Prozentsatz schon von üblichen Bedingungen gesprochen werden könne.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 134 Abs 2 Satz 2 AFG und bringt hierzu insbesondere vor:
Nach dem Sinn der Regelung, wie sie § 134 Abs 2 Satz 2 AFG zugrunde liege, solle nur unterhalb der üblichen Arbeitszeitdauer für Alhi-Antragsteller kein Anspruch gegeben sein.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 28. Februar 1974 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und in dem Sinne begründet, daß die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Zwar hat der Kläger gegen das am 31. Mai 1975 zugestellte Urteil des LSG erst am 16. Juni 1977 Revision eingelegt. Der Kläger hatte aber bereits mit seinem am 19. Juni 1975 eingegangenen Schriftsatz die Bewilligung des Armenrechtes beantragt und er hat, nachdem der Armenrechtsbeschluß ergangen und ihm zugestellt worden ist (28. Mai 1977) die Revision innerhalb der Frist des § 67 SGG formgerecht eingelegt. Auch die Begründung der Revision ist rechtzeitig eingegangen. Da die Voraussetzungen des § 67 SGG vorliegen, ist ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen kann eine abschließende Entscheidung nicht erfolgen.
Die Verfügbarkeit des Klägers läßt sich nicht schon deshalb verneinen, weil nach § 134 Abs 2 Satz 2 AFG derjenige keinen Anspruch auf Alhi hat, der nur mit Einschränkung hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit imstande ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Das LSG vertritt die Auffassung, der Anspruch auf Alhi sei bei jeder Einschränkung der Verfügbarkeit hinsichtlich der Arbeitszeit ausgeschlossen, auch wenn die eingeschränkte Arbeitszeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gehöre. Das bedeutet im Ergebnis, daß Teilzeitarbeitskräften keine Alhi zustehen könnte. Diese Auslegung des § 134 Abs 2 Satz 2 AFG ist jedoch nicht zutreffend.
Die Bedingungen, unter denen ein Arbeitsloser eine Beschäftigung ausüben kann, müssen gemäß § 103 Abs 1 Nr 1 AFG auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sein. Nach § 103 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 AFG gilt die Nr 1 der Vorschrift allerdings nicht hinsichtlich der Arbeitszeit. Die Verfügbarkeit ist nach dieser Regelung nicht davon abhängig, daß die Arbeitszeit, die der Arbeitslose ableisten kann, ihrer Dauer nach üblich ist (BSG Urteil vom 11. Februar 1976 - 7 RAr 20/74). In Abweichung von § 103 AFG trifft § 134 Abs 2 Satz 2 AFG eine Sonderregelung bezüglich der Dauer der Arbeitszeit. Keinen Anspruch auf Alhi hat, wer nur mit Einschränkung hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit imstande ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Durch § 134 Abs 2 Satz 2 AFG wird damit lediglich die Ausnahme des § 103 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 AFG beseitigt. Nach § 134 Abs 2 Satz 2 AFG ist der Anspruch auf Alhi nicht ausgeschlossen, solange der Arbeitslose hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit noch eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann. (BSG Urteil vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 132/75 -). Demgemäß kommt es für den Anspruch des Klägers auf Alhi darauf an, ob seine Einschränkung auf Beschäftigungen während einer Dauer von fünf Stunden und in der Art, wie er sie lediglich ausüben kann, nämlich nur leichte körperliche Arbeiten oder leichte Büroarbeiten, den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprach.
Übliche Bedingungen brauchen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zwar nicht in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse vorzuliegen, müssen aber in einer beachtlichen Zahl gegeben sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann (BSG Urteil vom 11. Februar 1976 - 7 RAr 20/74 -; BSGE 11, 16; SozR Nr 12 zu § 76 AVAVG). Um das Bestehen einer Übung zu erfassen, ist zu berücksichtigen, in welchem zahlenmäßigen Umfang Arbeitsverhältnisse der betreffenden Art überhaupt vorhanden sind. Das LSG hat die Frage erörtert, in welchem Zahlenverhältnis die Teilzeitarbeitsplätze zu der Gesamtzahl der Arbeitsplätze in einem bestimmten Gebiet stehen müssen. Darauf kommt es nicht an.
Für die Feststellung der Verfügbarkeit eines Arbeitsuchenden reichen statistische Angaben allein nicht aus.
Erforderlich ist es vielmehr - wie vom SG richtig gesehen -, die Ermittlungen auf die konkrete Situation des Arbeitslosen zu beziehen. Entscheidend ist, ob er so wie seine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft sich darstellen, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, also für Arbeitsstellen, seien sie frei oder besetzt, in Frage kommt. In diesem Zusammenhang wird das LSG auch Feststellungen zur Ausgleichsfähigkeit des Klägers zu treffen haben. Grundsätzlich haben sich die Vermittlungsbemühungen der Beklagten nicht etwa nur auf den Wohnort des Arbeitslosen, sondern auf das gesamte Bundesgebiet zu erstrecken. Wenn es allerdings im Einzelfall an der Fähigkeit des Arbeitslosen fehlt, überörtlich, überbezirklich oder wohin auch immer im Bundesgebiet vermittelt zu werden, schrumpft der allgemeine Arbeitsmarkt räumlich auf das Gebiet zusammen, das der Arbeitslose erreichen kann.
Das LSG hat, da es den Anspruch des Klägers bereits aus § 134 Abs 2 Satz 2 AFG verneint hat, zu den weiteren Voraussetzungen der Alhi keine Feststellungen getroffen. Diese Feststellungen wird es ebenfalls nachholen müssen. Es wird ferner über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen