Orientierungssatz

Kindergeld - Berufsausbildung im Ausland:

Zu den Anforderungen, die an eine im Ausland (Italien) erfolgende Berufsausbildung zu stellen sind (vgl BSG vom 11.3.1987 - 10 RKg 2/86 = SozR 5870 § 2 Nr 51) und zu deren Nachweis.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; EWGV 1408/71 Art. 73 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.05.1987; Aktenzeichen L 3 KG 4/87)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 11.12.1986; Aktenzeichen S 4 Kg 39/85)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für seinen in Italien lebenden Sohn Emilio (E.) das Kindergeld über den Monat Dezember 1985 hinaus zusteht.

Der Kläger, der die italienische Staatsbürgerschaft besitzt, ist Vater von vier Kindern, die in Italien leben. Er bezieht von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schwaben seit dem 1. März 1983 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte entzog dem Kläger mit Bescheid vom 10. Juni 1985 das für seine Tochter Anna (A.) (geboren am 22. Dezember 1964) gewährte Kindergeld mit Wirkung vom 1. Januar 1985 und für seinen Sohn E. (geboren am 20. Januar 1969) mit Wirkung vom 1. Februar 1985, weil beide nicht mehr in der Berufsausbildung ständen. Für die beiden weiteren Kinder werde ein Kinderzuschuß zur Rente gezahlt, so daß für sie ein Anspruch auf Kindergeld nicht begründet sei.

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides mit Urteil vom 11. Dezember 1986 aufgehoben. Die Beklagte hat ihre - vom SG zugelassene und zunächst unbeschränkt eingelegte - Berufung auf das Kindergeld für E. beschränkt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 19. Mai 1987 das erstinstanzliche Urteil geändert und dahin neu gefaßt, daß der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben wird, soweit er die Kindergeldbewilligung unter Berücksichtigung des Kindes A. betrifft. Die weitergehende Klage hat das LSG abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stehe für seinen Sohn E. das Kindergeld nicht zu. Zwar stehe sein Aufenthalt in Italien nach Art 73 Abs 1 der EWG-Verordnung (EWG-VO) 1408/71 dem Anspruch nicht entgegen, jedoch seien die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) nicht erfüllt. E. befinde sich nicht in der Berufsausbildung. Zwar habe der Kläger eine Ausbildungsbescheinigung des italienischen Arbeitsamtes vorgelegt, wonach sich E. seit dem 26. Oktober 1984 in der Berufsausbildung als Fliesenleger befinde. Das genüge aber ebensowenig, wie eine weitere Bescheinigung, in der bestätigt werde, daß E. seine Ausbildung als Fliesenleger an drei Tagen je Woche bei einem wöchentlichen Nettolohn von 15.000 Lire begonnen habe. Entgegen der vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 11. März 1987 (SozR 5870 § 2 Nr 51) vertretenen Ansicht könne es nicht Aufgabe der Verwaltung oder im Streitfall des Gerichts sein, die Frage zu klären, ob ein Kind in Italien überhaupt eine Ausbildung erhalte und ob diese den Anforderungen von § 2 BKGG genüge. Da die Bemühungen der Beklagten bisher ohne Erfolg geblieben seien, innerhalb der Europäischen Gemeinschaften und zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Italien ein formalisiertes Verfahren zu vereinbaren, das die Gleichwertigkeit der Ausbildung bestätige, fehle es an der wesentlichen Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld unter Berücksichtigung von E., daß dieser in Italien eine Ausbildung iS von § 2 BKGG betreibe.

Mit seiner Revision trägt der Kläger im wesentlichen vor, sein Sohn E. befinde sich in der Berufsausbildung zum Fliesenleger, so daß die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG erfüllt seien. Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der notwendigen Tatsachen in Italien sei kein Grund, ein formalisiertes Verfahren zu verlangen. Wenn das Berufungsgericht die vorgelegten Bescheinigungen für nichtssagend halte, so hätte es weitere Ermittlungen anstellen müssen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen, soweit die Kindergeldbewilligung unter Berücksichtigung des Kindes E. betreffe; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und die Revision des Klägers für unbegründet. Zusätzlich trägt sie vor, die vom Kläger vorgelegten Beweismittel und die von der Beklagten durchgeführten Ermittlungen reichten zum Nachweis einer Berufsausbildung nicht aus. Angesichts der Verhältnisse in Italien seien weitere Ermittlungen aussichtslos. Nach den Regeln der Beweislast müsse der Kläger die Folge der Beweislosigkeit tragen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.

Die Revision des Klägers führt - unter Aufhebung des Berufungsurteils - zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, weil die festgestellten Tatsachen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen.

Die Beklagte durfte das Kindergeld für den Sohn E. des Klägers nicht entziehen, wenn über den 31. Januar 1985 hinaus für dieses Kind ein Anspruch auf Kindergeld bestanden hat. Das wäre nach Art 73 Abs 1 der EWG-VO Nr 1408/71 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG dann der Fall, wenn E., der inzwischen das 16. Lebensjahr vollendet hatte, sich danach in der Berufsausbildung befunden hätte. Ob dies der Fall war, läßt sich nach den Tatsachenfeststellungen des LSG nicht entscheiden.

Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (SozR 5870 § 2 Nr 51), ist bei der Prüfung, ob sich ein in Italien lebendes Kind dort in der Berufsausbildung befunden hat, von den Grundsätzen auszugehen, welche die Rechtsprechung des BSG zu der Auslegung dieses Begriffs, insbesondere auch im Zusammenhang mit § 1262 Abs 3 und § 1267 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) entwickelt hat. Dabei ist den Gegebenheiten in Italien Rechnung zu tragen, sofern das dortige Berufsbildungswesen Unterschiede zu den in der Bundesrepublik Deutschland aufweist. Da durch Art 73 Abs 1 EWG-VO Nr 1408/71 für die Kindergeldgewährung eine Gleichstellung des Aufenthalts des Kindes mit dem Inlandsaufenthalt erreicht werden soll, muß sich naturgemäß auch die Qualifikation einer Ausbildung nach dem Berufsbildungssystem des Wohnstaates richten. Es muß deshalb genügen, daß die Ausbildung in Zielsetzung und Charakter der in Deutschland im wesentlichen vergleichbar ist. Falls die Ausbildung in Italien von staatlicher oder berufsständischer Seite nicht einheitlich und abschließend geregelt ist, kommt es darauf an, ob dem Sohn des Klägers die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die für die spätere Ausübung dieses Berufs vorausgesetzt werden und ob der Ausbildungszweck bei seiner Tätigkeit im Vordergrund steht. Von besonderer Bedeutung ist weiter, ob und in welcher Form ein Ausbildungsabschluß üblich und im vorliegenden Fall auch vorgesehen ist. Von diesen Grundsätzen ist zwar auch das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit den Beteiligten ausgegangen. Gleichwohl hat es zu Unrecht die danach erforderlichen Tatsachenfeststellungen unterlassen.

Das Berufungsgericht ist zwar in Übereinstimmung mit dem zitierten Urteil des erkennenden Senats zutreffend davon ausgegangen, daß das Verfahren, wie die für den Kindergeldanspruch notwendigen Feststellungen zu treffen sind, durch überstaatliches Recht nicht geregelt ist. Das Fehlen einer solchen Regelung kann jedoch - entgegen der Ansicht des LSG - nicht dazu führen, die notwendigen Ermittlungen und Feststellungen generell zu unterlassen und die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG für in Italien lebende Kinder stets zu verneinen. Dem LSG und der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß solche Ermittlungen und Feststellungen mit Rücksicht auf die in Italien herrschenden Verhältnisse oft schwierig und unter Umständen auch unmöglich sein können. Das rechtfertigt jedoch nicht die Ansicht, daß Ermittlungen und Feststellungen nicht getroffen zu werden brauchen. Fehlt es an einer übernationalen Regelung über die Feststellung der anspruchsbegründenden Tatsachen, so greifen die innerstaatlichen Vorschriften über die Amtsermittlungspflicht, die Beweiserhebung und die Beweiswürdigung ein. Gerade wenn man mit dem LSG davon ausgeht, daß die vorliegenden Bescheinigungen unzureichend sind, führt das zu der Notwendigkeit, weitere Beweise zu erheben. Die den vorliegenden Bescheinigungen nach Meinung des LSG innewohnenden Unklarheiten ließen sich durchaus durch gezielte und detaillierte Fragen oder durch Erhebung anderer Beweise ausräumen. Ob nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten die rechtserheblichen Tatsachen positiv oder negativ festgestellt werden können, ist sodann eine Frage der Beweiswürdigung. Erst wenn nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten der rechtserhebliche Tatbestand nicht festgestellt werden kann, ist über den Anspruch aufgrund der Rechtsregeln über die objektive Beweislast zu entscheiden. Es ist keineswegs erkennbar, daß es im vorliegenden Fall keine Beweismöglichkeiten mehr gibt. Das LSG hat es lediglich auf das Fehlen formalisierter Regelungen darüber abgestellt, unter welchen Voraussetzungen eine Ausbildung in Italien als Berufsausbildung iS von § 2 BKGG angesehen werden kann.

Das LSG wird nach Ausschöpfung aller möglichen Beweismittel Feststellungen darüber zu treffen haben, wie einerseits die Ausbildung zum Fliesenleger in Italien geregelt oder üblich ist und ob andererseits das konkrete Ausbildungsverhältnis des Sohnes E. dem entspricht. Danach werden diese Tatsachenfeststellungen an den Voraussetzungen des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG gemessen werden müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664929

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