Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.07.1993) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1993 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die im Jahre 1925 geborene Klägerin begehrt Geschiedenen-Witwenrente.
Sie ist die frühere Ehefrau des im Jahre 1920 geborenen und 1974 in B./ Polen verstorbenen Versicherten K. K.… Die Ehe wurde im Jahre 1967 durch Urteil des Landgerichts A.… (Nordrhein-Westfalen) auf Antrag der Klägerin nach § 48 des Ehegesetzes (EheG) ohne Schuldausspruch rechtskräftig geschieden. Aus dem Scheidungsurteil geht hervor, daß die Klage dem Versicherten auf diplomatischen Wege zugestellt worden war, er sich jedoch nicht geäußert hatte. Das Landgericht vertrat die Auffassung, es sei deutsches Recht anzuwenden, denn die in Oberschlesien als uneheliches Kind einer Deutschen geborene Klägerin sei Deutsche iS des Art 116 Abs 1 Grundgesetz (GG). Die von ihr eingereichte Scheidungsklage gegen den Beklagten, der die polnische Staatsangehörigkeit habe, sei nach Art 17 Abs 3 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) iVm Art 9 Abschnitt II Nr 5 des Familienrechts-Änderungsgesetzes nach deutschem Recht zu beurteilen.
Unterhaltsvereinbarungen wurden nicht getroffen; der Versicherte hat auch tatsächlich keinen Unterhalt gezahlt. Den ersten Antrag auf Geschiedenen-Witwenrente aus dem Jahre 1974 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. November 1974 ab; Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Weitere Anträge und Eingaben der Klägerin führten ebensowenig zur Rentengewährung wie ein von ihr betriebenes Wiederaufnahmeverfahren.
Dem vorliegenden Gerichtsverfahren ging nach Feststellung des Landessozialgerichts (LSG) kein Verwaltungsverfahren voraus. Im Januar 1992 wandte sich die Klägerin an das Sozialgericht (SG), machte dort zunächst Unterhaltsansprüche gegen ihren verstorbenen Ehemann geltend und begehrte nach einem Erörterungstermin die Gewährung einer Geschiedenen-Witwenrente, hilfsweise einen finanziellen Zuschuß. Mit Urteil vom 23. November 1992 hat das SG die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Beklagte habe über die von der Klägerin begehrten Leistungen zunächst durch Verwaltungsakt zu entscheiden; erst gegen eine solche Entscheidung sei der Klageweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zulässig.
Auf die von der Klägerin eingelegte Berufung zum LSG hat der Berichterstatter einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts mit den Beteiligten anberaumt, in dessen Verlauf sich die Beteiligten mit einer Entscheidung der Streitsache durch Urteil gemäß § 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter als alleinigen Richter einverstanden erklärten. Nach der Niederschrift über die “Nichtöffentliche Sitzung” vom 29. Juli 1993 erklärte sodann der “Vorsitzende … die mündliche Verhandlung für geschlossen” und verkündete “im Namen des Volkes das Urteil durch Vorlesen der … Urteilsformel”; anschließend sei der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt worden. Im Eingang des Urteils vom 29. Juli 1993 heißt es:
“Der 2. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen hat auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juli 1993 durch den Richter am Landessozialgericht … als Einzelrichter für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23. November 1992 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten.”
Zur Begründung führt das Urteil aus, das SG habe eingehend und richtig dargelegt, daß bei begehrter Leistungsgewährung durch den Versicherungsträger dieser zuerst anzugehen sei und dessen Entscheidung erst im Anschluß daran einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden könne. Der Senat folge dieser Entscheidung und sehe insoweit gemäß § 153 Abs 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab; ergänzend weise er die Klägerin noch darauf hin, daß auch bei Anwendung des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens eine Rente nur dann zu zahlen sei, wenn die innerstaatlichen Vorschriften – hier § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) – erfüllt seien. Daß dies nicht der Fall sei, sei der Klägerin in mehreren gerichtlichen Entscheidungen dargelegt worden. Nach dem Tode des geschiedenen Ehemanns sei auch keine Änderung des Scheidungsurteils mit dem Ziel mehr möglich, eine der Klägerin günstigere Regelung des Schuldausspruchs zu erreichen.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung der Vorschriften des § 61 Abs 1 SGG, § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), § 173 Abs 1 GVG, § 202 SGG iVm § 551 Nr 6 Zivilprozeßordnung (ZPO), § 124 Abs 2 SGG sowie § 88 Abs 2 und § 89 SGG: Das Verfahren des LSG erfülle die Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrunds nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 6 ZPO. Das Berufungsurteil sei aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt seien. Ausweislich der Niederschrift sei die Verhandlung vor dem LSG in nichtöffentlicher Sitzung geführt und das angefochtene Urteil in dieser nichtöffentlichen Sitzung verkündet worden. Das Berufungsurteil könne auch nicht in ein mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil iS des § 124 Abs 2 SGG umgedeutet werden, da es aufgrund mündlicher Verhandlung verkündet worden und nicht im schriftlichen Verfahren ergangen sei; zum anderen habe die Klägerin nicht das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Ferner habe das LSG zu Unrecht das Urteil des SG bestätigt; entgegen dessen Ansicht sei die Klage nicht unzulässig, sondern als Untätigkeitsklage zulässig gewesen. Die Beklagte habe über einen Widerspruch der Klägerin gegen einen Bescheid vom November 1990 nicht entschieden gehabt. Schließlich stehe der Klägerin auch die begehrte Geschiedenen-Witwenrente zu.
Die Klägerin beantragt,
- den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1990 sowie die Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 23. November 1992 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1993 – L 2 Kn 18/93 – aufzuheben,
- die Sache an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung unter Zugrundelegung der rechtlichen Beurteilung des Bundessozialgerichts zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juli 1993 zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Im Einverständnis der Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Auf die zulässige Revision der Klägerin war das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das Verfahren des LSG erfüllt den absoluten Revisionsgrund nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 6 ZPO. Nach dieser im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbaren Vorschrift ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind.
Das Berufungsurteil ist aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen. Dies ergibt sich sowohl aus der Niederschrift über den Termin am 29. Juli 1993 als auch aus der entsprechenden Angabe im Urteilseingang (Rubrum) selbst (§ 136 Abs 1 Nr 3 SGG).
Bei dieser mündlichen Verhandlung waren jedoch die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt. Denn nach § 61 Abs 1 SGG iVm § 169 GVG ist die mündliche Verhandlung öffentlich. Die Verhandlung vor dem LSG war jedoch nichtöffentlich. Auch dies ergibt sich aus ihrer Niederschrift. Hiernach hat in dem Rechtsstreit der Klägerin am 29. Juli 1993 eine “Nichtöffentliche Sitzung” stattgefunden. Diese war, wie ebenfalls aus der Niederschrift sowie der Ladung der Beteiligten folgt, als Termin zur Erörterung des Sachverhalts durch den Berichterstatter mit den Beteiligten (§ 153 Abs 1 iVm § 106 Abs 3 Nr 7 iVm § 155 Abs 1 SGG) gedacht, hat sich dann jedoch – ebenfalls ausweislich der Niederschrift – in eine mündliche Verhandlung verwandelt, ohne daß die Öffentlichkeit hergestellt wurde. Schon aus diesem Grund ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Darauf, ob das Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruht, kommt es nach § 551 ZPO nicht an.
Angesichts des oben dargestellten Verfahrensfehlers kann der Senat offenlassen, ob bei dem vorliegenden Sachverhalt nach Herstellung der Öffentlichkeit aufgrund mündlicher Verhandlung hätte entschieden werden können, ohne daß hierdurch ein weiterer Verfahrensfehler unterlaufen wäre.
Bei Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes nach § 551 Nr 6 ZPO ist dem Senat die Prüfung verwehrt, ob sich nicht die Entscheidung des Berufungsgerichts aus anderen Gründen als richtig darstellt. Denn § 170 Abs 1 Satz 2 SGG gilt nicht bei absoluten Revisionsgründen (BSG vom 22. September 1993, SozR 3-1750 § 551 Nr 5 S 15; BSG vom 18. Februar 1988, BSGE 63, 43, 45 = SozR 2200 § 368a Nr 21 mwN).
Gleichwohl sei auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen:
Zur Zulässigkeit der Klage: Entgegen der vom LSG bestätigten Ansicht des SG kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die im Januar 1992 erhobene Klage unzulässig ist. Zwar war sie nicht fristgemäß gegen einen die begehrte Leistung ablehnenden Verwaltungsakt gerichtet (hierzu BSG vom 24. April 1980 – 1 RJ 2/79). Sie könnte aber als Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) aufzufassen sein. Das LSG hat festgestellt, daß dem Gerichtsverfahren kein Verwaltungsverfahren vorausgegangen sei. Die Beklagte hatte der Klägerin jedoch mit Schreiben vom 19. November 1990 (Bl 231 Beklagten-Akte) auf eine Eingabe mitgeteilt, sie sei bereits mehrfach darüber unterrichtet worden, daß bei ihr die Voraussetzungen für die Gewährung einer Geschiedenen-Rente nicht vorlägen; die Beklagte werde in Zukunft entsprechende Anfragen nicht mehr beantworten. Dennoch hatte sich die Klägerin mit weiteren Eingaben vom 29. November 1990 und vom 9. April 1991 (Bl 240, 245 Beklagten-Akte) an die Beklagte gewandt; hierin könnte ein Widerspruch gegen das uU als Bescheid zu wertende Schreiben vom 19. November 1990 bzw ein erneuter Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) gesehen werden.
Es wird daher zu prüfen sein, ob die Klage als Untätigkeitsklage zulässig ist. Sollte noch während der Anhängigkeit der Untätigkeitsklage ein Bescheid bzw Widerspruchsbescheid der Beklagten ergehen, wäre eine Klageänderung in eine Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) als sachdienlich anzusehen; uU muß Gelegenheit zur Nachholung des Vorverfahrens gegeben werden.
Zur Begründetheit der Klage: Entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht ist die Klägerin nicht ebenso zu behandeln wie eine geschiedene Ehefrau, die einen als “leere Hülse” anzusehenden Unterhaltsverzicht im Scheidungsverfahren erklärt hat. Denn sie hat eine Scheidung nach § 48 EheG mit der Folge erstritten, daß nach § 61 Abs 2 EheG von vornherein kein Unterhaltsanspruch entstehen konnte. Der frühere Ehegatte muß sich aber an dem Ausspruch eines von ihm nach § 48 EheG erwirkten Scheidungsurteils auch dann festhalten lassen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, eine für ihn unterhaltsrechtlich günstigere Scheidung wegen Verschuldens des Versicherten zu begehren. Darin ist kein Unterhaltsverzicht zu sehen (BSG vom 22. Juli 1992, SozR 3-2200 § 1265 Nr 8).
Hinsichtlich des Anspruchs auf Geschiedenen-Witwenrente iS des § 65 RKG ist jedoch, soweit ersichtlich, bisher nicht beachtet worden, daß die Klägerin von Anfang an vorgetragen hat, sie sei “von polnischer Seite … nicht geschieden,” bzw, “daß die Scheidung ohne meinen Mann gemacht wurde”. Ein gewisser Anhalt hierfür mag darin liegen, daß die Sterbeurkunde den Versicherten in der Tat als “verheiratet” bezeichnet, wenn auch Personalien seines Ehegatten nicht aufgenommen sind (Bl 18 Beklagten-Akte; vgl auch die im Jahre 1974 gefertigte Abschrift aus dem Heiratsregister, BI 17 Beklagten-Akte). Wäre die Klägerin im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nach polnischem Recht mit ihm noch verheiratet gewesen (“hinkende Scheidung ”), so könnte sie damals noch den entsprechenden Anspruch auf Ehegatten-Unterhalt gehabt haben. Dann wäre zu entscheiden, ob ein derartiger Anspruch auch iS des § 65 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RKG als Unterhaltsverpflichtung gewertet werden kann. Wenn ja, könnte dem jedoch uU wiederum entgegengehalten werden, daß der Versicherte die Anerkennung des deutschen Scheidungsurteils in Polen (nach Art 1146 ff Zivilverfahrensgesetzbuch von 1964) hätte betreiben können.
Auch dann aber bliebe zu prüfen, ob nicht der Geschiedenen-Unterhalt nach polnischem statt nach deutschem Recht hätte beurteilt werden müssen. Insoweit könnte erheblich sein, ob nach dem 1973/1974 in Polen geltenden Gesetz über das Internationale Privatrecht 1965 polnisches oder deutsches Recht (als das der Ehescheidung) maßgebend war (für die Anknüpfung an das Recht der Ehescheidung Art 18 Abs 4 EGBGB nF in Anlehnung an Art 18 des Haager Unterhaltsübereinkommens von 1973, in Kraft seit 1987). Für den Fall, daß polnisches Recht anzuwenden wäre, sei darauf hingewiesen, daß nach dem polnischen Familien- und Vormundschaftsgesetzbuch (Art 60 § 1) auch ein geschiedener Ehegatte, der an der Zerrüttung der ehelichen Gemeinschaft nicht für allein schuldig erklärt worden und bedürftig ist, von dem anderen geschiedenen Ehegatten gewisse Unterhaltsleistungen beanspruchen kann. Es bliebe jedoch zu prüfen, ob sich hieraus ein Unterhaltsanspruch in der nach § 65 RKG erforderlichen Höhe (hierzu BSG vom 13. September 1990, SozR 3-2200 § 1265 Nr 14 S 16 mwN sowie das Urteil des Senats vom 23. Februar 1994 – 8 RKn 8/93) herleiten läßt.
Das LOG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen