Entscheidungsstichwort (Thema)

Öffentliche Veranstaltung

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ist ein Schwerbehinderter von öffentlichen Veranstaltungen auch dann ständig ausgeschlossen, wenn er behinderungsbedingt bloß an einem nicht nennenswerten Anteil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann (Ergänzung zu BSG 17.3.1982 9a/9 RVs 6/81 = BSGE 53, 175 = SozR 3870 § 3 Nr 15).

 

Leitsatz (redaktionell)

An öffentlichen Veranstaltungen kann ständig auch der Schwerbehinderte nicht teilnehmen, dem das Aufsuchen fast aller öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Anwesender nicht zugemutet werden kann.

 

Orientierungssatz

"Öffentliche Veranstaltung" ist nach allgemeinem Sprachgebrauch jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zugänglich gemachte Veranstaltung iS einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs. 4 Fassung: 1979-10-08; RdFunkGebVtr 1974 Art. 7 Abs. 1 Nr. 1; SchwbG § 3 Abs. 5 S. 1 Fassung: 1979-10-08, S. 5 Fassung: 1979-10-08, § 4 Abs. 5 S. 1 Fassung: 1986-08-26, S. 5 Fassung: 1986-08-26; RdFunkGebBefrV SH 1980 § 1 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1980-02-13

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.09.1985; Aktenzeichen L 2a Vsb 62/85)

SG Schleswig (Entscheidung vom 25.03.1985; Aktenzeichen S 5 Vsb 95/84)

 

Tatbestand

Bei dem 1936 geborenen Kläger sind als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) Asthma, Teilverlust des Magens, linksseitige Innenohrschwerhörigkeit und Verlust des Geruchsempfindens mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH anerkannt. Bei dieser Neufeststellung wurden die Voraussetzungen für das Merkmal "RF" (= Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) verneint (Bescheid vom 30. Mai 1984). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, das Merkzeichen "RF" festzustellen (Urteil vom 25. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 20. September 1985). Es hat den Gebührenbefreiungstatbestand, daß der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann, beim Kläger als gegeben erachtet. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei nicht erforderlich, daß der Behinderte allgemein von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein müsse. Der Kläger könne infolge seines Asthmaleidens mit Hustenanfällen, Atemnot und ständigen hörbaren Atemgeräuschen nur noch ganz wenige, vereinzelte und besonders ausgestaltete Veranstaltungen besuchen, dagegen nicht Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen und bei Großveranstaltungen im Freien und solche bei naß-kalter Witterung. Das genüge für den Anspruch.

Der Beklagte rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG. Der Kläger sei nicht in der erforderlichen Weise von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen; er könne noch an einer genügend großen Anzahl teilnehmen.

Der Beklagte beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Ansicht, die festgestellte Einschränkung von Teilnahmemöglichkeiten erfülle schon nach der Rechtsprechung des BSG die Voraussetzungen für das Merkmal "RF".

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat seine Berufung zu Recht zurückgewiesen.

Wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, hat das Versorgungsamt gegenüber dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht festzustellen (§ 3 Abs 4 iVm § 1 SchwbG idF vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 - 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 -; § 4 Abs 4 iVm Abs 1 SchwbG idF vom 26. August 1986 - BGBl I 1421 -; BSGE 52, 168, 170 f, 172 = SozR 3870 § 3 Nr 13; BVerwGE 66, 315; Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr 11), damit das entsprechende Merkmal "RF" im Schwerbehindertenausweis des Klägers eingetragen werden kann (§ 3 Abs 5 Satz 1 und 5 SchwbG aF, § 4 Abs 5 Satz 1 und 5 SchwbG 1986, § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 3 Abs 1 Nr 4 Ausweisverordnung vom 15. Mai 1981 - BGBl I 431 -). Ein Zustand, wie ihn § 1 Abs 1 Nr 3 der Schleswig-Holsteinischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 13. Februar 1980 (GVOBl Schl-H S 71) - RGVO - übereinstimmend mit dem Recht der anderen Bundesländer für diesen Vorteilsausgleich fordert, ist beim Kläger gegeben; er kann als Schwerbehinderter mit einer MdE um wenigstens 80 vH wegen seiner Behinderungen "an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen".

Bei dieser Entscheidung ist von der bisherigen Auslegung der einschlägigen Vorschrift durch den Senat auszugehen (BSGE 53, 175, 177 ff = SozR 3870 § 3 Nr 15; Urteil vom 3. Dezember 1986 - 9a RVs 4/84; vgl auch SozR 3870 § 3 Nr 17 S 53; ebenso Bayerisches LSG, Breithaupt 1985, 604 = ZfSH/SGB 1985, 173; Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Ausgabe 1983, S 131; ähnlich Traub, Behindertenrecht 1985, 25 ff). Danach muß der Schwerbehinderte "allgemein" und "umfassend" von öffentlichen Veranstaltungen behinderungsbedingt ausgeschlossen sein, nicht bloß von einzelnen Arten, zB Massenveranstaltungen (besonders BSGE 53, 178, 179, 181). An dieser Auslegung hält der Senat grundsätzlich fest (zum nicht bloß zeitlichen Verständnis von "ständig" auch: BSGE 56, 238, 242 f = SozR 3870 § 3 Nr 17). Falls die Verordnungsgeber der Länder sie nicht billigten, hätten sie die genannte Vorschrift inzwischen längst neu fassen können. Der Senat hat bisher für Grenzfälle noch nicht genau festgelegt, wie groß der nicht nennenswerte Anteil (BSGE 53, 175, 181) der für den einzelnen Behinderten noch zugänglichen Veranstaltungen an der Gesamtheit sein kann und darf, wenn jener Tatbestand erfüllt sein kann und soll. Mit der Auffassung des LSG, die einschlägige Vorschrift sei für Behinderte günstiger auszulegen, braucht sich der Senat nicht im einzelnen auseinanderzusetzen. Jedenfalls bestätigt er das Berufungsurteil im Ergebnis aufgrund der festgestellten Tatsachen dieses Einzelfalles und aufgrund allgemeiner Erfahrungen in Ergänzung seiner bisherigen Rechtsprechung.

Die funktionellen Auswirkungen der anerkannten Behinderungen beim Kläger, soweit sie für die Fähigkeit, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, bedeutsam sind, insbesondere des Asthmaleidens mit Nebenerscheinungen, ergeben sich aus den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die für das Revisionsgericht verbindlich sind (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Demnach ist die Lungenfunktion des Klägers ständig beeinträchtigt. Er leidet an Anfällen von Husten und Atemnot. Diese treten verstärkt in Menschenansammlungen infolge eines Beklemmungsgefühls auf. Außerdem steigert eine solche Umgebung die Angst, einen Notarzt zu benötigen, wozu es schon häufig gekommen ist. Schließlich sind beim Kläger ständig Atemgeräusche auffällig zu hören. Er befürchtet in Versammlungen, durch diese Geräusche und durch Hustenanfälle seine Mitmenschen zu stören (vgl zum Kehlkopfverlust: Plath, Medizinischer Sachverständiger 1983, 58, 60). Diese Angst verstärkt die Atemnot. An Veranstaltungen im Freien kann der Kläger bei Massenansammlungen und bei naß-kalter Witterung überhaupt nicht teilnehmen.

Diese Verbindung von Behinderungen verschließt ihm die meisten öffentlichen Veranstaltungen der verschiedensten Art in einem solchen Ausmaß, daß er im Sinne des § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO allgemein an solchen ständig nicht teilnehmen kann. Ihm bleiben nur ganz wenige zugänglich. Deren Art und Anzahl sind "nicht nennenswert" und im Verhältnis zu den ihm verschlossenen Veranstaltungen als "verschwindend" geringfügig zu werten, wie es das LSG zutreffend getan hat. In nur sehr wenigen öffentlichen Veranstaltungen wird der Kläger erfahrungsgemäß so wenige Menschen antreffen, daß eine Beklemmung nicht zu befürchten ist. Für den rechtserheblichen Tatbestand ist vor allem maßgebend, daß dem Kläger das Aufsuchen "fast aller" öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Anwesender nicht zugemutet werden kann (vgl Anhaltspunkte S 131; OVG Rheinland-Pfalz, Amtliche Sammlung von Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Rheinland-Pfalz und Saarland, Band 15, 309, 314).

Insgesamt sind alle öffentlichen Veranstaltungen vielfältigster Art zu berücksichtigen. "Öffentliche Veranstaltung" ist nach allgemeinem Sprachgebrauch jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zugänglich gemachte Veranstaltung im Sinne einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art (vgl auch Bayerischer VGH, Gewerbearchiv 1984, 17 mN). Das gilt auch für § 1 Abs 1 Nr 3 RGVO und folgt aus dem Zweck der Regelung. Die die Schwerbehinderten entlastenden Vergünstigungen (§ 3 Abs 4 SchwbG aF) und Nachteilsausgleiche (§ 4 Abs 4 SchwbG 1986) sollen unter anderem der Eingliederung in die Gesellschaft dienen. Dies ergibt sich aus der vollen Bezeichnung des SchwbG ("Eingliederung" vgl BSGE 56, 238, 240) und wird durch die Ermächtigung für die hier anzuwendende Verordnungsvorschrift bestätigt, die in Art 7 Abs 1 Nr 1 des Staatsvertrages über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens vom 5. Dezember 1974 (vgl Gesetz vom 31. März 1975 - GOVBl Sch-H S 56) enthalten ist; danach kann die Befreiung von der Gebührenpflicht unter anderem aus "sozialen Gründen" verordnet werden. "Sozial" in diesem Sinn ist die Maßnahme, die behinderungsbedingte Störungen der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben um der sozialen Gerechtigkeit willen durch den erleichterten Zugang zu Rundfunk- und Fernsehsendungen als Ersatzmittel ausgleichen soll (§ 1 Abs 1, § 10 Nr 2, § 29 Abs 1 Nr 3 Buchstabe i Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil vom 11. Dezember 1975 - BGBl I 3015 -, -SGB I-; BSGE 52, 168, 174, 178; vgl die frühere Anspruchsvoraussetzung, daß der Behinderte "am öffentlichen Leben und kulturellen Geschehen nicht teilnehmen kann" - BSGE 53, 175, 179). Die Beziehung zum gesamten gesellschaftlichen Leben vermögen Rundfunk und Fernsehsendungen in gewissem Umfang durch Übertragungen, Berichte und eigene Veranstaltungen ersatzweise zu bewirken (Hoffmann-Riem in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S 389, 393 ff, 401 ff; derselbe in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 1984, Art 5, Rz 128).

Zutreffend hat das LSG den verschwindend geringen Anteil der dem Kläger noch zugänglichen Veranstaltungen nach der Gesamtheit der verbreiteten Veranstaltungen bestimmt. Es kommt nicht darauf an, ob jene, an denen er noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprächen. Sonst müßte jeder nach einem anderen, in sein Belieben gestellten Maßstab von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Das wäre mit dem Gebührenrecht nicht vereinbar. Denn die Gebührenpflicht selbst wird nicht bloß nach dem individuell unterschiedlichen Umfang der Sendungen, an denen die einzelnen Teilnehmer interessiert sind, bemessen, sondern nach dem gesamten Sendeprogramm. Wenn nach dem allgemeinen sozialrechtlichen Individualisierungsgrundsatz des § 33 SGB I bei der Ausgestaltung sozialer Rechte die besonderen Verhältnisse des einzelnen Berechtigten zu berücksichtigen sind und wenn nach der besonderen Regel des Schwerbehindertenrechts in § 45 Abs 1 SchwbG aF und § 48 Abs 1 SchwbG 1986 die Vergünstigungen und Nachteilsausgleiche "der Art und (oder) Schwere der Behinderung" des einzelnen "Rechnung zu tragen" haben (vgl auch BSGE 56, 238, 241), so beschränkt sich dies hier auf die individuellen Behinderungen.

Mithin ist die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657297

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