Leitsatz (amtlich)
1. Zur Auslegung des Begriffes der "Erwerbsunfähigkeit" (Anschluß BSG 1963-05-28 12/4 RJ 142/61 = BSGE 19, 147).
2. Zur Frage nach Art und Umfang der Ermittlungen für die Feststellung, ob es für Verweisungstätigkeiten Arbeitsplätze - sie seien frei oder besetzt - in zumindest nennenswerter Zahl in dem vom Versicherten täglich zu erreichenden Wirtschaftsgebiet gibt.
Normenkette
RKG § 47 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 2. Oktober 1961 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen verwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 3. Juni 1895 geborene Kläger, der von Beruf Sattler war, aber seit dem 13. Dezember 1957 nicht mehr tätig ist, beantragte am 23. Juli 1957 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Auf Grund des Bescheides der Beklagten vom 10. Oktober 1958 erhält er seit dem 1. Juli 1957 Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit (Gesamtleistung), die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Gesamtleistung) wurde dagegen abgelehnt. Die Widerspruchsstelle änderte diesen Bescheid durch Bescheid vom 20. Juli 1960 dahin ab, daß der Kläger ab 12. April 1960, dem Tage der Untersuchung durch die Ärzte der Knappschaftsuntersuchungsstelle in Lünen, erwerbsunfähig im Sinne des § 47 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ist und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit ab 1. April 1960 erhält. Der weiter gehende Widerspruch wurde zurückgewiesen. Ab 1. Juni 1960 erhält der Kläger das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres.
Im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens hat sich die Beklagte auf Grund des von Amts wegen eingeholten Gutachtens des Dr. St bereit erklärt, das Vorliegen eines Zustandes dauernder Erwerbsunfähigkeit bereits ab April 1959 anzuerkennen und dem Kläger bereits von diesem Zeitpunkt ab die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. Durch Bescheid vom 6. Dezember 1962 wurde dies festgestellt. Nach Ansicht der Beklagten hat Erwerbsunfähigkeit vor diesem Zeitpunkt dagegen noch nicht vorgelegen.
Durch Urteil vom 2. Oktober 1961 hat das Sozialgericht (SG) Dortmund die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10. Oktober 1958 und unter Abänderung ihres Bescheides vom 9. Juni 1960 verurteilt, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab Juli 1957 zu gewähren und hat die Berufung zugelassen.
Es hat ausgeführt, der Kläger sei z. Zt. der Antragstellung gesundheitlich nur noch in der Lage gewesen, leichte Invalidenarbeiten, z. B. die des Pförtners, Boten, Wächters u. a., und zwar bis zu 4 Stunden täglich, zu verrichten. Derartige Arbeiten seien aber, wie aus einer Auskunft des Arbeitsamtes Dortmund, Nebenstelle Lünen, vom 9. Mai 1961 zu ersehen sei, weder im Bergbau noch auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu vermitteln, weil es trotz der heutigen Überbeschäftigung derartige Arbeitsplätze für Versicherte, die nur halbschichtig arbeiten können, nicht gebe.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 27. Dezember 1961, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 29. Dezember 1961, mit Zustimmung des Klägers Sprungrevision eingelegt und diese, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 5. März 1962 verlängert worden war, mit Schriftsatz vom 13. Februar 1962, eingegangen beim BSG am 16. Februar 1962, begründet.
Es sei zuzugeben, daß Halbtags- oder stundenweise Beschäftigungen für männliche Arbeitskräfte nicht sehr häufig seien; sie kämen aber durchaus in genügender Zahl vor. Eine Halbtagsbeschäftigung sei für männliche Arbeitskräfte nur nicht in dem Sinne üblich wie etwa bei bestimmten Frauenberufen.
Da der Kläger durch seine Krankheiten weder an einer regelmäßigen halbschichtigen Erwerbstätigkeit gehindert sei, noch der Fähigkeit beraubt sei, mehr als geringfügige Einkünfte durch Arbeit zu erzielen, habe der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit in der streitigen Zeit nicht vorgelegen.
Das SG hätte durch Nachfragen bei Arbeitgeberorganisationen oder bei der Industrie- und Handelskammer, bei Handwerksinnungen, bei dem Bauernverband usw. zusätzlich klären müssen, ob in Betrieben Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, die Erwerbsbeschränkte halbtägig ausfüllen können. Außerdem hätten die Redaktionen der in Lünen und Dortmund erscheinenden Tageszeitungen befragt bzw. sich durch Einsicht in die Ausgaben der Zeitungen ein Überblick darüber verschafft werden müssen, ob Stellenangebote dieser Art veröffentlicht werden. Der dem SG zur Zeit der Urteilsfällung bekannte Sachverhalt reiche zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht aus. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht oder aber an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Seine Erwerbsfähigkeit sei so erheblich gemindert, daß er nur noch 3 bis 4 Stunden täglich arbeiten könne, und zwar nur als Pförtner, Wächter und Bote. Eine solche Tätigkeit zu erlangen sei schon für solche Versicherte schwer, die noch ganzschichtig tätig sein könnten, weil solche Tätigkeiten in der Regel langjährigen Betriebsangehörigen vorbehalten blieben.
Im übrigen müsse man annehmen, daß dann, wenn in einer Großstadt wie Dortmund solche Arbeitsstellen nicht vorhanden seien, dies erst recht nicht in kleineren Gemeinden der Fall sei. Es wäre für ihn zudem auch unzumutbar gewesen, seinen Wohnsitz aufzugeben, um vielleicht außerhalb eine solche Arbeitsstelle zu finden.
Die zulässige Revision ist begründet.
Das SG ist bei seiner Entscheidung, daß der Kläger erwerbsunfähig im Sinne des § 47 Abs. 2 RKG ist, von der Feststellung ausgegangen, daß er nur noch in der Lage sei, höchstens halbtägig leichte Invalidentätigkeit wie z. B. die eines Pförtners, Boten und Wächters zu verrichten. Es hält ihn, obwohl er somit noch in der Lage ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben, doch für erwerbsunfähig im Sinne dieser Vorschrift, weil nach Auskunft des Arbeitsamtes entsprechende Arbeitsstellen auf dem allgemeinen Arbeitsfeld nicht zu erhalten seien.
Diesen Ausführungen kann nur zum Teil zugestimmt werden. Wie der 4. und der 12. Senat des BSG zu dem gleichlautenden § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bereits entschieden haben, kann der Versicherte nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, für die es Arbeitsplätze in dem von ihm täglich zu erreichenden Wirtschaftsgebiet zumindest in nennenswerter Zahl, seien sie frei oder besetzt, gibt (SozR RVO § 1247 Nr. 5; BSG 19, 147). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Denn mit Tätigkeiten, die es nicht zumindest in diesem Umfang gibt, kann der Versicherte einen Erwerb nicht erzielen, es sei denn, daß er zufällig eine solche Arbeitsstelle inne hat. Der Umstand, daß solche Arbeitsplätze besetzt sind, schließt die Möglichkeit einer Verweisung allein allerdings nicht aus. Denn das Risiko, an sich vorhandene Arbeitsplätze nicht zu erhalten, weil sie besetzt sind, fällt der Arbeitslosenversicherung und nicht der Rentenversicherung zur Last.
Darüber hinaus wird man allerdings einen Versicherten auf Tätigkeiten, die es zwar - frei oder besetzt - in nennenswerter Zahl gibt, dann nicht verweisen können, wenn sie praktisch nur einem beschränkten Kreis von Personen, nicht aber der Allgemeinheit der Versicherten zur Verfügung stehen, wenn der Versicherte nicht zu diesem bevorzugten Kreis gehört. Etwas anderes gilt nur dann, wenn er einen solchen Arbeitsplatz inne hat. Das SG hat dies richtig erkannt und hat auch ohne Rechtsirrtum entschieden, daß die Tätigkeiten des Pförtners, Boten und Wächters zu diesen Arbeiten gehören. Denn sie sind in aller Regel nur den langjährigen, inzwischen invalide gewordenen Angehörigen des jeweiligen Betriebes vorbehalten, stehen also praktisch anderen Versicherten nicht offen.
Allerdings gilt dies - was das SG nicht genügend beachtet hat - nicht allgemein auch für sonstige leichte Invalidentätigkeiten. Zwar wird es in großen und mittleren Betrieben, wenn sie nicht auf Teilzeitarbeit eingestellt sind, auch andere leichte Invalidentätigkeiten als die des Pförtners, Boten oder Wächters, die höchstens halbtätig zu verrichten sind, für fremde Arbeitnehmer wohl kaum in nennenswerter Zahl geben. Dagegen besteht durchaus die Möglichkeit, daß es derartige Arbeitsplätze etwa in kleineren Gewerbebetrieben, in Einzelhandelsgeschäften und in bäuerlichen Betrieben in nennenswerter Zahl gibt. Da diese Betriebe derartige Stellen in aller Regel kaum für eigene invalide gewordene Betriebsangehörige vorzubehalten brauchen, wäre es denkbar, daß ein Bedarf an solchen Arbeitskräften besteht.
Das SG hat nun keine Feststellungen getroffen, ob es derartige Arbeitsplätze in dem vom Kläger täglich zu erreichenden Wirtschaftsgebiet in nennenswerter Zahl gibt, seine Feststellungen beschränken sich vielmehr auf die Tätigkeiten des Boten, Wächters und Pförtners. Da aber für den Kläger auch sonstige leichte Tätigkeiten in Betracht kommen, ist dem erkennenden Senat eine Entscheidung, ob die Klage im Sinne des § 47 Abs. 2 RKG begründet ist, nicht möglich. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben werden. Aus Zweckmäßigkeitsgründen ist die Sache nicht an das SG, sondern an das Landessozialgericht (LSG) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung verwiesen worden.
Das LSG wird zu ermitteln haben, ob es solche leichten, allenfalls halbtägig zu verrichtenden Invalidentätigkeiten, die der Kläger nach seinem Gesundheitszustand noch ausüben kann, in dem von ihm täglich zu erreichenden Wirtschaftsgebiet in nennenswerter Zahl gibt. Dabei wird es über die bereits eingeholte Auskunft des Arbeitsamtes hinaus auch noch andere Stellen wie etwa die Industrie- und Handelskammer, die Landwirtschaftskammer, die Handwerkskammer, die Handwerksinnungen und die Einzelhandelsverbände befragen müssen. Auch wäre zu empfehlen, gegebenenfalls bei jeweils einigen Betrieben in Frage kommender Gewerbezweige Auskünfte einzuholen. Unter Umständen kann nämlich aus den Auskünften einiger dieser Betriebe geschlossen werden, daß in den betreffenden Gewerbezweigen Arbeitsplätze dieser Art in nennenswerter Zahl vorkommen oder daß sie nicht vorkommen. Weiterhin wäre daran zu denken, die örtlichen Tageszeitungen daraufhin durchzusehen, ob entsprechende Arbeitskräfte gesucht werden.
Zu bedenken ist, daß das LSG, wenn in ähnlich gelagerten anderen Fällen bereits solche Ermittlungen angestellt worden sind, es diese im vorliegenden Verfahren nicht unbedingt vorzunehmen braucht, sondern auf die vorhandenen Ermittlungsergebnisse zurückgreifen kann, wenn es nur vorher den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.
Im eigenen Interesse des Klägers liegt es, diese Aufklärungsversuche des Gerichts nach Kräften zu unterstützen. Man könnte z. B. daran denken, daß er ein entsprechendes Stellengesuch in den örtlichen Tageszeitungen aufgibt und dem Gericht mit evtl. eingegangenen Angeboten die Bescheinigung des Zeitungsverlags vorlegt, ob und gegebenenfalls wieviele Angebote auf diese Anzeige eingegangen sind.
Kann allerdings nach Erschöpfung aller zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten und unter Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungen des Gerichts in diesen Fragen weder festgestellt werden, daß es in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet entsprechende Arbeitsplätze in zumindest nennenswerter Zahl gibt, noch daß es sie nicht gibt, so wird die Entscheidung unter Berücksichtigung des Grundsatzes von der objektiven Beweislast zu treffen sein.
Sollte das LSG feststellen, daß es in dem in Betracht kommenden Gebiet für in Betracht kommende Tätigkeiten Arbeitsstellen, seien sie frei oder besetzt, nicht in nennenswerter Zahl gibt, wäre der Klage stattzugeben. Anderenfalls aber könnte der Klage nur stattgegeben werden, wenn der Kläger mit einer solchen Tätigkeit nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen kann (BSG 19, 147 = SozR RVO § 1247 Nr. 6).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen