Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung, ob der Teilzeitarbeitsmarkt offen oder verschlossen ist, richtet sich auch für weibliche Teilzeitarbeitskräfte grundsätzlich nach den Beschlüssen des GrS (vergleiche BSG 1969-11-12 GS 4/69 = BSGE 30, 167: BSG 1969-11-12 GS 2/68 = BSGE 30, 192). Abweichungen ergeben sich nur aus dem Umstand, daß der allgemeine Teilzeitarbeitsmarkt für weibliche Teilzeitarbeitskräfte unvergleichlich günstiger ist als für männliche Teilzeitarbeitskräfte.

Für weibliche Teilzeitarbeitskräfte, die nach ihrer bisherigen Berufstätigkeit auf den allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt verwiesen werden können und die noch halbschichtig bis unter vollschichtig leichte Arbeiten (vorwiegend) im Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten können, ist der Arbeitsmarkt des Bundesgebietes offen iS der Beschlüsse des GrS des BSG vom 1969-12-11.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. April 1971 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob der Klägerin statt der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Juli 1968 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen ist.

Die ... 1917 geborene Klägerin hat im Laufe ihres Berufslebens vorwiegend in Berufen gearbeitet, die keine vorgeschriebene Lern- oder Anlernzeit voraussetzen, zuletzt vom Jahre 1950 bis zum Jahre 1968 als Versandarbeiterin.

Mit Bescheid vom 24. Januar 1969 gewährte ihr die Beklagte ab 1. Juli 1968 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 11. Dezember 1970 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 2. April 1971 zurückgewiesen.

Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin gesundheitlich noch imstande sei, einer leichten Frauenarbeit (vorwiegend) im Sitzen in geschlossenen Räumen für täglich drei bis vier Stunden in gewisser Regelmäßigkeit nachzugehen. Zur Notwendigkeit von Ermittlungen zur Erforschung der Verhältnisse des Arbeitsmarktes führt das LSG aus: "Eine weitere Beweiserhebung erübrigte sich aber auch zu der Frage, ob für die Klägerin gesundheitlich zumutbare Teilzeitarbeitsgelegenheiten auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Es ist allgemeinkundig und gerichtsbekannt, daß Arbeitsgelegenheiten der in Rede stehenden Art für Frauen im Bereich von R und der angrenzenden, im Berufspendlerverkehr zu erreichenden Umgebung, insbesondere der Stadt D, in großer Zahl vorhanden sind". Das LSG hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen.

Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt und als wesentliche Verfahrensmängel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) u.a. Verstöße gegen die §§ 103 (unzureichende Sachaufklärung) und 128 SGG (Überschreiten der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung) gerügt. Das LSG habe nicht einmal die Quellen offenbart, aus denen die Erfahrungen seiner Richter stammen. Die Klägerin beantragt,

die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 2. April 1971 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen sowie die Kostenentscheidung insoweit dem Endurteil vorzubehalten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß Verfahrensmängel nicht erkennbar sind.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil ein von der Klägerin gerügter Verfahrensfehler vorliegt. Es ist nicht allgemeinkundig, daß der Teilzeitarbeitsmarkt für Frauen, die noch halbschichtig leichte Frauenarbeiten, vorwiegend sitzend in geschlossenen Räumen verrichten können, im Raum von R im Sinne der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) offen ist.

Soweit sich das LSG zur Bejahung dieser Frage auf eine Gerichtsbekanntheit stützt, fehlt die Angabe, woraus dies dem Gericht bekannt ist. Bei derartig allgemeinen Angaben eines Tatsachengerichts hat das Revisionsgericht keine Möglichkeit, aus den Entscheidungsgründen zu ersehen, ob die Beweiswürdigung vollständig und fehlerfrei ist. Das ist aber nach § 128 SGG erforderlich. Es liegt also ein mit der Revision gerügter wesentlicher Verfahrensmangel vor.

Obwohl somit die Entscheidungsgründe eine Gesetzesverletzung ergeben, mußte die Revision nach § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG als unbegründet zurückgewiesen werden, weil sich das Urteil des LSG aus anderen Gründen als richtig darstellt.

An die Feststellung des LSG, daß die Klägerin noch drei bis vier Stunden täglich, d. h. praktisch halbschichtig leichte Frauenarbeit (vorwiegend) im Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten kann, ist der erkennende Senat gebunden, weil diese Feststellung fehlerfrei ist. Es ist zwar richtig, daß das Gutachten von Dr. Sch und Dr. Q von der orthopädischen Abteilung des St. V-Krankenhauses in D vom 17. März 1970 zu dem Ergebnis gekommen ist, die Klägerin könne nur noch leichte körperliche Arbeiten drei bis vier Stunden täglich zu ebener Erde in geschlossenen Räumen im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen verrichten; jedoch hat das LSG danach noch ein ausführliches, nach klinischer Beobachtung erstattetes Gutachten von Dr. K und Dr. H von der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses D vom 24. Juli 1970 eingeholt, das unter Berücksichtigung auch der auf dem orthopädischen Fachgebiet liegenden gesundheitlichen Schäden zusammenfassend zu den vom LSG festgestellten Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit gekommen ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich aus den Beurteilungen der Einsatzfähigkeit der Klägerin durch die Ärzte Dr. Sch/Dr. Q und Dr. K/Dr. H ein Widerspruch ergibt, denn selbst wenn das der Fall wäre, konnte sich das LSG im Rahmen der freien Beweiswürdigung der von Dr. K/Dr. H vorgenommenen Beurteilung anschließen, da es sich hierbei um ein abschließendes Gesamtgutachten handelt.

Die Frage, ob ein Versicherter auf Tätigkeiten, die er nur noch in Teilzeitarbeit verrichten kann, ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es hierfür Teilzeitarbeitsplätze gibt, oder ob dies nur dann möglich ist, wenn es Teilzeitarbeitsplätze für diese Tätigkeiten gibt, hat der Große Senat des BSG durch Beschlüsse vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 ff und BSG 30, 192 ff) dahin entschieden, daß es bei Anwendung der §§ 1246 Abs. 2 und 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind, und daß der Versicherte auf solche Tätigkeiten nur verwiesen werden kann, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist. Die in diesen Beschlüssen aufgestellten Grundsätze gelten im Prinzip auch für weibliche Teilzeitarbeitskräfte. Abweichungen ergeben sich allerdings aus dem Umstand, daß der Arbeitsmarkt für weibliche Teilzeitarbeitskräfte, die - wie die Klägerin - nach ihrer bisherigen Berufstätigkeit auf den allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt verwiesen werden können, und die gesundheitlich noch in der Lage sind, halbschichtig bis unter vollschichtig zu arbeiten, unvergleichlich günstiger ist als für entsprechende männliche Teilzeitarbeitskräfte. Denn die Zahl der entsprechenden offenen Teilzeitarbeitsplätze ist durchweg größer als die Zahl der solche Arbeitsplätze suchenden weiblichen Teilzeitarbeitskräfte.

Für die Entscheidung des Rechtsstreites kommt es nicht - wie das LSG meint - auf die Verhältnisse des Arbeitsmarktes im Bereich Ratingen an. Wie der Große Senat in dem Beschluß GS 4/69 (BSG 30, 187) dargelegt hat, sind Versicherte, die halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten können, auf das gesamte Wirtschaftsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verweisen. Von dieser Verweisungsmöglichkeit auf den Teilzeitarbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur dann auszugehen, wenn sich das zu Lasten, sondern auch dann, wenn es sich zugunsten eines Versicherten auswirkt, d. h. wenn die Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland ungünstiger als die örtlichen Verhältnisse sind. Dadurch, daß in allen derartigen Fällen von den Verweisungsmöglichkeiten im Bundesgebiet ausgegangen wird, wird eine Annäherung an ein im Interesse der Gleichbehandlung aller Versicherten erstrebenswertes Ziel, vergleichbare Versicherte mit dem gleichen Gesundheitszustand im Gebiet der Bundesrepublik möglichst gleich zu behandeln, erreicht; zudem können Manipulationen zur Erreichung einer Rente durch Wechsel des Wohnsitzes (Umzug aus einem Industriegebiet in ein reines Erholungsgebiet) und nach einem Umzug Rentenentziehungen wegen Änderung der Verhältnisse vermieden werden.

Könnte die Klägerin auf den gesamten allgemeinen halbschichtigen bis unter vollschichtigen Teilzeitarbeitsmarkt (leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Gehen in geschlossenen Räumen und im Freien - BSG 30, 188) verwiesen werden, so wäre für sie der Arbeitsmarkt schon nach den den Entscheidungen des Großen Senats zugrundeliegenden Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit in N (BA) offen (vgl. Abschnitt C V 1 des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (BSG 30, 206) i.V.m. Abschnitt C V 2 des Beschlusses - GS 4/69 - BSG 30, 188, 189). Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung des Umstandes, daß für weibliche Teilzeitkräfte der Teilzeitarbeitsmarkt besonders günstig ist. Die Klägerin ist allerdings gesundheitlich nur noch in der Lage, leichte Frauenarbeit (vorwiegend) im Sitzen in geschlossenen Räumen auszuüben.

Für den Ausgang des Rechtsstreits ist somit die Frage entscheidend, ob der Teilzeitarbeitsmarkt des Bundesgebiets für die Klägerin im Sinne der Anhaltspunkte im Abschnitt V des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 - (BSG 30, 192, 206) i.V.m. Abschnitt C V 2 b bb des Beschlusses GS 4/69 (BSG 30, 167, 190) "stark" eingeschränkt ist. Dies ist zu verneinen. Ein Arbeitsmarkt, bei dem die Zahl der offenen Arbeitsplätze größer ist als die Zahl der Arbeitsuchenden, muß auch dann als offen angesehen werden, wenn der Versicherte nicht mehr alle, sondern nur noch eine der betrieblich üblichen Arten von Arbeitsplätzen ausfüllen kann - hier solche mit leichten (vorwiegend) im Sitzen und in geschlossenen Räumen auszuübenden Tätigkeiten -. Ein solch günstiger Teilzeitarbeitsmarkt aber liegt bei weiblichen Teilzeitarbeitskräften, die auf den halbschichtigen bis unter vollschichtigen allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt des gesamten Wirtschaftsgebietes der Bundesrepublik Deutschland verwiesen werden können, vor. Die von der BA in ihren Amtlichen Nachrichten für die Zeit ab 1. Juli 1968 veröffentlichten Zahlen der offenen Stellen für Teilzeitarbeit weiblicher Kräfte und der Zahlen über Teilzeitarbeit suchende Frauen ergeben, daß unter Mitberücksichtigung der für Teilzeit- oder Ganztagsarbeit offenen Stellen die Zahl der offenen Stellen für Teilzeitarbeit immer wesentlich größer war als die Zahl der Teilzeitarbeit suchenden Frauen.

Da somit der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin, die nach den Feststellungen des LSG noch halbschichtig bis unter vollschichtig leichte Frauenarbeiten (vorwiegend) im Sitzen in geschlossenen Räumen verrichten kann, als offen im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 anzusehen ist, steht ihr der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wie das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden hat, nicht zu.

Die Revision der Klägerin war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669855

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