Leitsatz (amtlich)
Bei der Berechnung des Übergangsgeldes ist der sich aus dem Lohnsteuer-Jahresausgleich ergebende Erstattungsbetrag nicht anteilmäßig auf das "entgangene regelmäßige Nettoarbeitsentgelt" (RVO § 1241 Abs 1 iVm § 182 Abs 4) anzurechnen.
Normenkette
RVO § 1241a Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 1241 Abs. 1 Fassung: 1974-12-21, § 182 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1974-08-07, Abs. 5 Fassung: 1974-08-07; RehaAnglG § 13 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1974-08-07, Abs. 3 Fassung: 1974-08-07; EStRGEG Art. 28 Nr. 5 Fassung: 1974-12-21
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 9. Oktober 1975 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob sich das Nettoarbeitsentgelt im Sinne des § 182 Abs. 4 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) durch die Erstattung von Lohnsteuer im Lohnsteuer-Jahresausgleich rückwirkend erhöht.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) gewährte dem 1945 geborenen Kläger seit dem 2. Januar 1975 berufsfördernde Maßnahmen zur Rehabilitation. Mit Bescheid vom 17. Januar 1975 setzte sie das Übergangsgeld auf kalendertäglich 45,48 DM fest. Hierbei legte sie einen Regellohn des Klägers von 78,40 DM pro Kalendertag für den letzten Lohnabrechnungszeitraum vor der Umschulung - 1. bis 31. Oktober 1974 - zugrunde und begrenzte den für das Übergangsgeld maßgebenden Betrag von 80 v. H. des Regellohnes (62,72 DM) auf das regelmäßige Nettoarbeitsentgelt (§ 182 Abs. 4 und 5 RVO). Durch Art. 42 des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz (EG-EStRG) vom 21. Dezember 1974 (BGBl I S. 3656) erhöhte sich das Übergangsgeld vom Beginn an auf 49,51 DM täglich. Im Jahre 1975 wurde dem Kläger vom Finanzamt im Wege des Lohnsteuer-Jahresausgleichs für das Jahr 1974 der Betrag von 2.692,60 DM erstattet.
Mit der Klage gegen den Bescheid vom 17. Januar 1975 hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu verpflichten, das Übergangsgeld neu zu berechnen und dabei sein im Oktober 1974 erzieltes Nettoarbeitsentgelt anteilmäßig um die im Lohnsteuer-Jahresausgleich (LJA) erstattete Lohnsteuer zu erhöhen. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, Nettoarbeitsentgelt im Sinne des § 182 Abs. 4 RVO sei auch der Betrag, der dem Versicherten im Wege des LJA erstattet werde. Anderenfalls seien Versicherte, die das Verfahren des LJA durchführen, schlechter gestellt als diejenigen, die sich von vornherein Freibeträge in die Lohnsteuerkarte eintragen lassen (Urteil vom 9. Oktober 1975).
Gegen das erstinstanzliche Urteil hat die Beklagte die - nachträglich durch Beschluß des Kammervorsitzenden beim SG zugelassene - Sprungrevision eingelegt. Sie ist der Ansicht, entgangenes regelmäßiges Nettoarbeitsentgelt im Sinne des § 182 Abs. 4 RVO sei das Arbeitsentgelt, das im letzten Lohnabrechnungszeitraum tatsächlich gezahlt worden sei, und nicht ein fiktiv ermittelter Betrag. Eine fiktive Berechnung des Übergangs- bzw. Krankengeldes bei Steuererstattungen führe zu einer grundlegenden Änderung der Verwaltungspraxis der Versicherungsträger und widerspreche dem Sinn und Zweck der Berechnungsvorschriften. Im Zeitpunkt des Beginns der Rehabilitationsmaßnahme müsse eindeutig und abschließend die Höhe der Barleistung festgesetzt werden können. Eine Berücksichtigung des LJA führe im übrigen zu ungerechtfertigten Ergebnissen, wenn die Höhe der im Jahresdurchschnitt zu zahlenden Steuer durch Veränderungen beeinflußt werde, die erst nach Beginn einer Maßnahme der Rehabilitation eingetreten seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Stade vom 9. Oktober 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, es sei mit den Prinzipien der Gerechtigkeit und den Grundsätzen der Gleichbehandlung unvereinbar, den Versicherten, der steuerrechtlich den Weg des LJA gehe und dadurch dem Staat einen Zinsvorteil verschaffe, hinsichtlich der Höhe des Übergangsgeldes schlechter zu stellen als denjenigen, der sich von vornherein Freibeträge in die Steuerkarte eintragen lasse.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
II
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig (§ 161 Abs. 1 SGG). Daß der Kammervorsitzende den Beschluß über die Zulassung der Revision ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erlassen hat, steht hier nicht entgegen (vgl. wegen der Einzelheiten zu dieser Frage SozR 1500 § 161 Nr. 4 und 6, Urteil des 3. Senats vom 14.12.1976 - 3 RK 23/76 - und die weitere dort zitierte Rechtsprechung).
Die Revision ist auch begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf höheres Übergangsgeld durch anteilmäßige Anrechnung des Erstattungsbetrages aus dem LJA auf das "entgangene regelmäßige Nettoarbeitsentgelt".
Nach § 1241 a RVO (eingefügt durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz - RehaAnglG - vom 7. August 1974 - BGBl I S. 1881) richtet sich im vorliegenden Fall - da der letzte Tag des Bemessungszeitraumes (hier: Oktober 1974) zu Beginn der berufsfördernden Rehabilitationsmaßnahme nicht länger als drei Jahre zurücklag - die Berechnung des Übergangsgeldes nach § 1241 Abs. 1 RVO i. d. F., die diese Vorschrift durch das RehaAnglG und - mit Wirkung vom 1. Januar 1975 - durch das EG-EStRG (Art. 28 Nr. 5 i. V. m. Art. 50 Abs. 1) erhalten hat. Demgemäß gilt als Berechnungsgrundlage bei einem Betreuten, der vor Beginn der Maßnahme versicherungspflichtig beschäftigt war, § 182 Abs. 4 und 5 RVO entsprechend. Nach § 182 Abs. 4 Satz 1 RVO beträgt das Krankengeld 80 v. H. des (wegen Arbeitsunfähigkeit) entgangenen regelmäßigen Entgelts (Regellohn) und darf das entgangene regelmäßige Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen. Schon der Gesetzeswortlaut spricht dagegen, hier auch einen im LJA zurückerstatteten Betrag in Ansatz zu bringen. Hinzu kommt, daß für die Berechnung des Regellohnes das im Bemessungszeitraum erzielte und um einmalige Zuwendungen verminderte Entgelt zugrunde zu legen ist (§ 182 Abs. 5 Satz 1 RVO). Diese Beschränkung schlägt durch auf das Nettoarbeitsentgelt im Sinne des Abs. 4 der Vorschrift; unter regelmäßigem Nettoarbeitsentgelt ist demzufolge das um gesetzliche Lohnabzüge verminderte Bruttoarbeitsentgelt ohne einmalige Zuwendungen zu verstehen. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift soll nicht jede zufällige Erhöhung des Nettolohnes im Bemessungszeitraum zur Erhöhung auch des Übergangsgeldes führen. Demgemäß bleiben als einmalige Zuwendungen diejenigen Leistungen unberücksichtigt, die ihrem Wesen nach nicht zu den laufenden, in jedem Lohnabrechnungszeitraum zu erwartenden Bezügen gehören, sondern aus besonderem Anlaß oder von Fall zu Fall gewährt werden (vgl. BSGE 29, 105, 106; 26, 68, 71; 22, 162, 166; 16, 91, 95). In diesem Sinne kommt die Lohnsteuererstattung in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung einer einmaligen Zuwendung gleich.
Für die Ansicht des Senats spricht weiter, daß die Berechnung des Regellohnes an den "letzten ... abgerechneten Lohnabrechnungszeitraum" und damit auch an das letzte regelmäßige Nettoarbeitsentgelt anknüpft, das meistens mit dem tatsächlich erhaltenen identisch ist. Damit wird dem Grundsatz der Lohnersatzfunktion weitgehend entsprochen und der Versicherungsträger in die Lage versetzt, einerseits den "aktuellsten" Lohn zugrunde zu legen, zum anderen aber auch - wegen der Bezogenheit auf einen kurzen Zeitraum - wie bei der Gewährung des Krankengeldes schnell zu entscheiden. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn der LJA eine Neuberechnung nach sich zöge; das Übergangsgeld ist zwar im Hinblick auf § 1241 a Abs. 1 RVO nicht stets, aber doch in aller Regel schon festgesetzt, wenn der den entsprechenden Zeitraum erfassende Bescheid über den LJA ergeht. Abgesehen davon, daß im LJA-Verfahren eine Reihe von steuerrechtlichen Tatbeständen ohne monatliche Aufschlüsselung erfaßt wird, so daß die vom Kläger angestrebte anteilmäßige Verrechnung auf den Bemessungszeitraum auf Schwierigkeiten stößt und dem Versicherungsträger die Lösung steuerrechtlicher Fragen aufbürden würde, könnte dies auch zu einer ungerechtfertigten Besserstellung der Bezieher von Übergangsgeld gegenüber vergleichbaren Beschäftigten führen. Denn da sowohl das Übergangsgeld wie auch eine möglicherweise vorher bezogene soziale Leistung - etwa Kranken- oder Arbeitslosengeld - von der Lohnsteuer nicht erfaßt wird, ergibt sich durch den LJA nahezu zwangsläufig eine günstigere Besteuerung des Bemessungszeitraumes als bei einem anderen vergleichbaren Beschäftigten.
Ferner gibt die Regelung für freiwillig Versicherte und Selbständige (§ 1241 Abs. 2 RVO) darüber Aufschluß, daß der Versicherungsträger das Übergangsgeld abschließend soll berechnen können. Dies beträgt hier den 450. Teil des Betrages, der sich aus den Beiträgen in den 12 Kalendermonaten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Maßnahme ergibt. Auch hiernach sind also die tatsächlichen Verhältnisse vor Beginn der Maßnahme ausschlaggebend; da auf schon geleistete Beiträge abgestellt wird, müssen solche Beiträge, die erst nachträglich für Zeiten vor Beginn der Maßnahme entrichtet werden, unberücksichtigt bleiben.
Schließlich ist noch an die nicht seltenen Fälle zu denken, in denen der sich aus dem LJA ergebende Erstattungsbetrag erst festgestellt wird, nachdem der das Übergangsgeld festsetzende Bescheid des Versicherungsträgers bereits gemäß § 77 SGG bindend geworden ist. Im Interesse der Gleichbehandlung der im wesentlichen gleichliegenden Sachverhalte müßte, träfe die Rechtsansicht des Klägers zu, dann ein Anspruch auf Überprüfung des bindend gewordenen Bescheides sowie Neufestsetzung in dem erstrebten Sinn und Ausmaß bestehen. Das ist indessen zumindest zweifelhaft. Die Anwendung des § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO erscheint schon wegen der erforderlichen nachträglichen Benutzungsmöglichkeit einer Urkunde fraglich. Außerdem entsprach in einem solchen Fall der bindend gewordene Bescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses dem geltenden Recht, so daß auch die Voraussetzung der "zu Unrecht" zu niedrig festgesetzten Leistung im Sinne des § 1300 RVO nicht erfüllt sein dürfte. Eine besondere gesetzliche Ermächtigung zur Neufeststellung fehlt, obwohl der Gesetzgeber des RehaAnglG dieses Problem erkannt hat. § 1241 RVO i. V. m. § 13 Abs. 5 RehaAnglG und § 182 Abs. 7 RVO i. d. F., die vor dem 1. Januar 1975 (Inkrafttreten des EStRG) gegolten hat, sah eine Sonderregelung vor, wenn das Krankengeld (Übergangsgeld) in Höhe des Nettoarbeitsentgelts gezahlt wurde. Änderte sich nach dem letzten Tage des Bemessungszeitraumes die Zahl der Kinder, für die der Versicherte nach § 32 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) einen Kinderfreibetrag erhielt, oder für die ihm eine Steuerermäßigung nach § 33 a Abs. 1 EStG zuerkannt wurde, so war das Krankengeld (Übergangsgeld) für die Zeit nach Eintritt der Änderung neu zu berechnen. Dieser enumerativen Aufzählung ist zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen ausschließlich eine (nachträgliche) steuerliche Änderung zu einer Neufestsetzung des Krankengeldes (Übergangsgeldes) führen sollte. In dem "Entwurf eines Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation" vom 9.11.1973, Teil B, Einzelbegründung zu § 13 Abs. 2 und Abs. 5 ist zwar einerseits davon ausgegangen worden, daß bei der Berechnung des Übergangsgeldes die steuerlichen Freibeträge des Versicherten zur Geltung kommen; andererseits sind aber alle anderen Gründe als die Änderung der Zahl der Kinder für eine Neufestsetzung des Übergangsgeldes ausgeschlossen worden (vgl. BT-Drucks. 7/1237).
Bei dieser Rechtslage kann auch das Argument des SG, die Lohnsteuererstattung müsse deshalb als Teil des regelmäßigen Nettoarbeitsentgelts angesehen werden, weil der Kläger anderenfalls hinsichtlich seines Übergangsgeldes schlechter gestellt werde als bei der Eintragung von Freibeträgen in die Lohnsteuerkarte, nicht durchgreifen. Eine Ungleichbehandlung, die gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen würde, liegt nicht vor. Der Versicherte ist in der Wahl zwischen beiden steuerrechtlichen Möglichkeiten frei; er hat es selbst in der Hand, sich durch einen Antrag auf Lohnsteuerermäßigung (Eintragung von Freibeträgen in die Steuerkarte) mögliche Vorteile bei der Berechnung des Übergangsgeldes zu verschaffen. Ebensowenig wie ein durch den LJA hinsichtlich des Erstattungsbetrages entgangener Zinsverlust, auf den der Kläger hinweist, verstößt der bezüglich des Übergangsgeldes entstandene finanzielle Verlust gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Das erstinstanzliche Urteil war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen