Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Berlin |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 13. November 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1939 geborene türkische Kläger arbeitete von 1965 bis 1992 in der Bundesrepublik Deutschland als ungelernter Arbeiter, zuletzt als Transportarbeiter. Seinen im März 1993 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach entsprechender medizinischer Ermittlung ab (Bescheid vom 7. Januar 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. März 1994). Die Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit blieb ohne Erfolg (Urteil vom 3. Februar 1995). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht Berlin (LSG) die Beklagte verurteilt, ihm Rente wegen EU seit dem 1. April 1993 zu gewähren (Urteil vom 13. November 1998). Es hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Dem Kläger stehe Rente wegen EU seit April 1993 zu. Zunächst lägen die allgemeinen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor. Der Kläger habe die Wartezeit erfüllt, da sein Versicherungskonto 272 Beitragsmonate aufweise. Auch seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gegeben, da auf die Zeit vom 15. April 1988 bis 14. April 1993 48 Beitragsmonate entfielen.
Ebenso sei ab März 1993 beim Kläger EU zu bejahen. Er könne seine bisherige Tätigkeit als ungelernter Transportarbeiter nicht mehr ausüben. Zwar müsse er sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen. Doch habe das Bundessozialgericht (BSG) bei vergleichbaren Sachverständigenäußerungen zur Notwendigkeit eines „Haltungswechsel jederzeit nach freiem Entschluß” die jeweiligen Rechtsstreite zwecks weiterer Aufklärung zurückverwiesen (Bezug auf BSG, Urteile vom 25. März 1998 – B 5 RJ 46/97 R – und vom 8. Juli 1998 – B 13 RJ 91/97 R – beide unveröffentlicht) und dabei betont, einem Versicherten könne im Hinblick auf die Seltenheit der für ihn noch in Betracht kommenden Arbeitsplätze der allgemeine Arbeitsmarkt verschlossen sein. Das sei beim Kläger der Fall, da er mit seinem Restleistungsvermögen nur noch unter unüblichen Arbeitsmarktbedingungen arbeiten könne und den von der Rechtsprechung entwickelten sog Seltenheits- oder Katalogfällen zuzuordnen sei.
Nach dem im Berufungsverfahren eingeholten orthopädischen Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 17. März 1996 könne der Kläger – abgesehen von weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen – nur noch körperlich leichte Männerarbeiten verrichten, wobei unbedingt auf eine wechselnde Körperhaltung zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu achten sei. Dabei sei ein Haltungswechsel jederzeit nach freiem Entschluß sicherzustellen, dh dem Kläger müsse während seiner Arbeit an einem Arbeitsplatz die Möglichkeit eingeräumt sein, nach eigenem Entschluß entweder zu sitzen oder zu stehen oder umherzugehen. Dr. E. habe in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31. August 1996 an seiner Forderung nach jederzeit möglichem Haltungswechsel festgehalten. Diese Leistungsbeurteilung habe der Sachverständige Dr. R. in seinem ebenfalls im Berufungsverfahren eingeholten orthopädischen Gutachten vom 10. April 1998 im wesentlichen bestätigt. Ein Arbeitsplatz, auf dem ein ungelernter oder einfach angelernter Arbeiter nach freiem Entschluß die Haltungsart selbst bestimmen könne, sei arbeitsmarktunüblich, denn die jeweilige Arbeitshaltung werde – jedenfalls im Bereich ungelernter oder einfach angelernter Arbeiten – von der jeweils zu verrichtenden Arbeit bestimmt.
Dem Kläger müsse wegen der Tatsache, daß er nur noch unter unüblichen Arbeitsbedingung tätig sein könne, ein konkreter Arbeitsplatz benannt werden, der ihm gesundheitlich zumutbar sei. Das sei weder durch die Beklagte geschehen noch sehe sich der erkennende Senat dazu in der Lage. Dem stehe nicht das von der Beklagten überreichte Schreiben des Bundesverbandes Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen vom 15. Februar 1996 entgegen, worin zur Existenz von Arbeitsplätzen für Pförtner an der Nebenpforte Stellung genommen worden sei. Denn der berufskundliche Sachverständige H. habe in einem anderen Streitverfahren – worauf die Beteiligten im Berufungsverfahren hingewiesen worden seien – ausgeführt, daß auch ein (Tages-)Pförtner nicht nach freiem Entschluß die Körperhaltungsarten wechseln könne. Eine weitere Sachaufklärung gemäß den Beweisanträgen der Beklagten sei deshalb nicht erforderlich.
Mit ihrer – vom erkennenden Senat zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Eine Zuordnung des Klägers zu den sog Seltenheits- oder Katalogfällen sei im Gegensatz zur Auffassung des LSG nicht möglich. Von einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sei das LSG zu Recht nicht ausgegangen. Aber auch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liege nicht vor. Die Notwendigkeit, den Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen jederzeit frei bestimmen zu können, sei keine solche Leistungsbehinderung. Es gehe hierbei lediglich um die Vermeidung von Zwangshaltungen. Mangels Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung sei auch keine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen.
Auch habe das LSG gegen die Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) verstoßen und das Amtsermittlungsprinzip (§ 103 SGG) verletzt. Das dem Kläger verbliebene Restleistungsvermögen sei nicht ausreichend ermittelt. Das LSG hätte gemäß den von ihr gestellten Beweisanträgen weitere Ermittlungen zu den näheren Umständen des erforderlichen Haltungswechsels (Häufigkeit, Dauer usw) durchführen müssen.
Zu Unrecht habe sich das LSG hinsichtlich der Annahme, der Kläger könne nur noch unter betriebsunüblichen Bedingungen tätig sein, auf die Aussage des berufskundlichen Sachverständigen H. in einem anderen Verfahren gestützt. Berufskundliche Ermittlungen hätten erst nach Feststellung des genauen Restleistungsvermögens des Klägers durchgeführt werden dürfen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Berlin vom 13. November 1998 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 3. Februar 1995 zurückzuweisen.
Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren zur Sache nicht geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu.
Der Kläger begehrt in erster Linie Rente wegen EU; dieser Anspruch richtet sich nach § 44 SGB VI idF des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989, da der Kläger seinen Rentenantrag im März 1993 gestellt hat (§ 300 Abs 1, 2 SGB VI). Nach Abs 1 Satz 1 der maßgeblichen Fassung erhält eine solche Rente der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeiträge hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Nach den für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) erfüllt der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, da sein Versicherungskonto 272 Beitragsmonate aufweist, wovon 48 Beitragsmonate allein auf die Zeit von 15. April 1988 bis 14. April 1993 entfallen.
Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI der maßgeblichen Fassung ein Versicherter, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Insofern sind zunächst die gesundheitlichen Leistungseinschränkungen des Versicherten zu ermitteln. Sodann ist zu prüfen, ob dieser damit noch in ausreichendem Maße erwerbstätig sein kann (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 36, 68, 72, 98; SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).
Die Feststellungen des LSG zum Restleistungsvermögen erlauben keine Entscheidung, ob der Kläger erwerbsunfähig ist. Sie reichen nicht aus, um beurteilen zu können, in welchem Umfang der Kläger durch Gesundheitsstörungen in seiner Leistungsfähigkeit beschränkt ist.
Unklar ist bereits, von welchen allgemeinen Feststellungen das LSG beim Restleistungsvermögen des Klägers ausgeht. Es hat in den Entscheidungsgründen insoweit nur aufgeführt, nach den übereinstimmenden Aussagen der Sachverständigen Dr. E. und Dr. R. könne der Kläger – abgesehen von weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen – nur noch körperlich leichte Männerarbeiten in geschlossenen Räumen vollschichtig verrichten, wobei unbedingt auf eine wechselnde Körperhaltung nach freiem Entschluß zwischen Gehen, Stehen und Sitzen zu achten sei. Die weiteren Leistungseinschränkungen, die die Gutachter aufgeführt haben und die zwar in wesentlichen, aber nicht in allen Punkten übereinstimmen, hat das LSG nur im Tatbestand seines Urteils wiedergegeben, ohne sich genau festzulegen, welchem Gutachten hinsichtlich der einzelnen Leistungseinschränkungen gefolgt werde. Allerdings wäre die berufungsgerichtliche Vorgehensweise, wegen einer einzelnen Leistungseinschränkung (hier Haltungswechsel jederzeit nach freiem Entschluß) eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes anzunehmen, zulässig, wenn insoweit ausreichende Feststellungen getroffen wären. Das ist aber nicht der Fall.
Das LSG durfte zunächst die Ausführungen des Sachverständigen Dr. E., dem Kläger müsse ein Haltungswechsel jederzeit nach freiem Entschluß möglich sein, in dieser Form seiner Entscheidung zum Restleistungsvermögen des Klägers nicht zugrunde legen. Dasselbe gilt, soweit sich das LSG auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. R. bezieht, wonach der Kläger die Möglichkeit haben müsse, die Tätigkeit im Stehen zu verrichten oder durch eine Besorgung zu unterbrechen. In beiden Fällen wird nämlich nicht deutlich, in welchem Umfang die beim Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Rahmen einer Erwerbstätigkeit einen Haltungswechsel erfordern.
Daß eine Feststellung, ein Haltungswechsel müsse jederzeit nach freiem Entschluß möglich sein, keine ausreichend konkrete Ermittlung des Restleistungsvermögens darstellt, hat bereits der 5. Senat des BSG entschieden (Urteil vom 25. März 1998 – B 5 RJ 46/97 R). Der erkennende Senat hat sich dem in seiner Entscheidung vom 8. Juli 1998 (B 13 RJ 91/97 R) angeschlossen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, zur Bestimmung einer diesbezüglichen Leistungseinschränkung seien die durchschnittliche Häufigkeit und die näheren Umstände krankheitsbedingter Haltungswechsel sowie die ungefähre Dauer der dadurch jeweils eintretenden Arbeitsunterbrechungen zu ermitteln. Mit diesen Anforderungen ist an die bisher vorliegende Rechtsprechung des BSG zum Ermittlungsumfang hinsichtlich Häufigkeit und näheren Umständen bei aus Gesundheitsgründen notwendigen Arbeitsunterbrechungen in vergleichbaren Fällen angeknüpft worden (vgl betreffend Anfallsleiden und häufig auftretende Fieberschübe zB BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 14; BSGE 77, 43, 46 = SozR 3-2600 § 44 Nr 5). Ergänzend weist der Senat darauf hin, daß im Rahmen der Erwerbsunfähigkeit allein die Frage entscheidend ist, inwieweit eine Leistungseinschränkung durch bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen bedingt ist. Dies folgt bereits aus der Gesetzesformulierung des § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI (Erwerbsunfähig sind Versicherte, die „wegen” Krankheit oder Behinderung … außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit … auszuüben). Für die Notwendigkeit eines Haltungswechsels bedeutet dies, daß nicht der freie Willensentschluß des Versicherten maßgeblich sein kann (sozusagen „seine Laune”), sondern allein entscheidend das Ausmaß ist, in welchem er gesundheitlichen Zwängen unterworfen ist.
Da die vom LSG zum Restleistungsvermögen des Klägers getroffenen Tatsachenfeststellungen für eine Entscheidung des erkennenden Senats nicht tragfähig sind, konnten auch die zweitinstanzlichen Ausführungen zur Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes keinen Bestand behalten.
Dem erkennenden Senat blieb deshalb, weil er die erforderliche weitere Sachverhaltsaufklärung nicht selbst vornehmen kann (vgl § 163 SGG), nichts anderes übrig, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Dabei wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen