Leitsatz (amtlich)
Die mit dem Zugang des Bescheides an den Berechtigten für die Verwaltungsbehörde eintretende Bindung hindert das Gericht nicht, die Minderung der Erwerbsfähigkeit für den gesamten Leidenszustand unabhängig von der im Erstfeststellungsbescheid anerkannten (Teil-) Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bewerten. Der Berechtigte darf allerdings im Ergebnis nicht schlechter gestellt werden.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 24 Abs. 2 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Januar 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger erhielt auf seinen 1947 gestellten Rentenantrag zunächst widerrufliche Vorschußzahlungen. Mit Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) vom 16. März 1953 wurde nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), ergänzt durch ein Beiblatt vom 15. März 1953 nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (BKBLG), neben verschiedenen reizlosen Narben eine kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits mit leichter zentraler Gleichgewichtsstörung als Schädigungsfolge anerkannt und Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. ab 1. Februar 1947 bzw. 1. Oktober 1950 gewährt. Die vom Kläger eingelegte Berufung alten Rechts ging als Klage auf das Sozialgericht (SG) über, dieses spracht dem Kläger mit Urteil vom 25. November 1955 Rente nach einer MdE um 40 v. H. zu. Auf die Berufung des Beklagten holte das Landessozialgericht (LSG) ua ein Gutachten der Universitäts-Nervenklinik E ein, das - im wesentlichen in Übereinstimmung mit dem Versorgungskrankenhaus B - eine diffuse Schädigung von Hirnanteilen als Folge einer Contusio cerebri annahm und die MdE mit 30 v. H. bewertete. Darauf legte der Kläger unselbständige Anschlußberufung ein, mit der er zusätzliche Anerkennung einer Hirnverletzung und Rente nach einer MdE um 60 v. H. sowie hilfsweise die Feststellung begehrte, daß eine Hirnverletzung Schädigungsfolge sei. Mit Urteil vom 24. Januar 1962 wies das LSG die Berufung des Beklagten zurück und stellte auf die Anschlußberufung des Klägers fest, daß bei ihm eine Hirnverletzung vorliege, die Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung sei. Im übrigen wurde die Anschlußberufung zurückgewiesen. Das LSG ließ die Revision zu. Die vom SG angenommene MdE um 40 v. H. sei ausreichend. Zwar sei die seither anerkannt gewesene Gehörschädigung und Narbenbildung bereits mit einer MdE um 30 v. H. bewertet worden. Durch das Hinzutreten der Hirnschädigung ergebe sich jedoch keine Gesamt-MdE um 60 v. H. Nur bei einer Neufeststellung der Rente nach § 62 BVG müsse bei Bildung einer Gesamt-MdE von der bereits rechtsverbindlich zuerkannten MdE ausgegangen werden, nicht dagegen bei der erstmaligen Feststellung eines Versorgungsanspruchs, wie sie hier vorliege. Obwohl der Beklagte an die von ihm angenommene MdE von 30 v. H. gebunden sei, sei diese wegen der Klageerhebung nicht "absolut rechtsverbindlich" oder endgültig geworden. Daher sei die Gesamt-MdE unabhängig von der vom Beklagten angenommenen MdE zu bilden, es dürfe lediglich die MdE um 30 v. H. nicht unterschritten werden. Für die bisher anerkannten Schädigungsfolgen habe eine leistungsbegründende MdE nicht vorgelegen; die Gesamt-MdE sei nicht höher als mit einer MdE um 40 v. H. zu bewerten.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des Art. 1 Abs. 1 KBLG, der §§ 1 Abs. 1, 29 aF, 30 Abs. 1 BVG, des § 24 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) und des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Bescheide vom 15./16. März 1953 seien gemäß § 24 Abs. 2 VerwVG für die Verwaltungsbehörde mit ihrer Zustellung oder ihrem Zugang bindend geworden. Diese relative Bindung sei auch vom Gericht zu beachten. Zu Unrecht habe das LSG die darin enthaltene Feststellung der MdE noch nicht als absolut verbindlich oder endgültig angesehen. Das LSG-Urteil sei widersprüchlich, wenn es trotz der eingeräumten relativen Bindung den von der Versorgungsbehörde angenommenen MdE-Grad unterschreite. Auch bei der Bildung einer Gesamt-MdE im Rahmen einer Erstfeststellung müsse von der bereits bindend festgestellten MdE ausgegangen werden. Daher hätte das LSG, ausgehend von dem festgestellten MdE-Satz von 30. v. H., zu einem höheren MdE-Grad als 40 v. H. gelangen müssen. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als die Anschlußberufung des Klägers zurückgewiesen wurde und den Rechtsstreit in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Nach § 77 SGG werde ein Verwaltungsakt erst dann absolut rechtsverbindlich oder endgültig, wenn der dagegen gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt sei. Die mit der Zustellung eingetretene relative Bindung der Versorgungsbehörde an die Bescheide habe nur zur Folge, daß der Kläger durch die Klage nicht schlechter gestellt werden könne. Das sei aber auch nicht geschehen. Die Hirnverletzung stelle keine neue Gesundheitsstörung dar, sondern sei lediglich die Gesundheitsstörung, für deren Folgen Versorgung zu gewähren sei.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG), sachlich jedoch nicht begründet.
Streitig ist nur, ob das LSG deshalb zu einer höheren MdE hätte gelangen müssen, weil es eine Hirnverletzung als Schädigungsfolge festgestellt hat und in den Bescheiden vom 15./16. März 1953 bereits für Narben und beiderseitige Schwerhörigkeit mit leichte zentraler Gleichgewichtsstörung eine MdE von 30 v. H. anerkannt war. Das ist nicht der Fall.
Das LSG hat unterschieden zwischen der relativen Bindung des Beklagten an die von ihm angenommene MdE von 30 v. H. und einer "absolut rechtsverbindlich oder endgültig" gewordenen Feststellung. Dies ist - abgesehen von der vom LSG gewählten Formulierung - im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die mit der Zustellung oder dem Zugang des Bescheides für die Verwaltungsbehörde , auch hinsichtlich der Höhe der Rente, eintretende - relative - Bindung (vgl. BSG in SozR SGG § 77 Da 13 Nr. 24 und dortige Zitate, sowie für die Zeit ab 1. April 1955: § 24 Abs. 2 VerwVG) unterscheidet sich von der in § 77 SGG bestimmten Bindung, die für alle Beteiligten eintritt, wenn der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird (vgl. für die Zeit ab 1. April 1955 die gleichlautende Vorschrift in § 24 Abs . 2 VerwVG). Die relative Bindung der Verwaltungsbehörde an ihren Bescheid hat zur Folge, daß diese einen begünstigenden Verwaltungsakt grundsätzlich nicht mehr frei zurücknehmen oder widerrufen kann (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 5 zu § 77 SGG). Für das Gericht bedeutet sie in dem sich anschließenden Klage- usw.-verfahren nur, daß die Einlegung eines Rechtsbehelfs für den Kläger nicht zu einer im Ergebnis ungünstigeren Entscheidung führen darf. Unvermeidbare Verschlechterungen muß sich der Beschwerdeführer dagegen unter Umständen (vgl. BSG 2, 225 u. BSG in SozR aaO) gefallen lassen. Damit ist für das Streitverfahren in der Kriegsopferversorgung - wie auch in der Unfall- und Rentenversicherung - ein Verbot der Schlechterstellung (reformatio in Peius) anerkannt (vgl. BSG in SozR aaO). Dieses Verbot der Schlechterstellung desjeniger der einen Rechtsbehelf eingelegt hat, gilt bereits für das Widerspruchsverfahren (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 242 h). Es bedeutet aber nicht, daß das Gericht als Tatsacheninstanz etwa bei der streitig gebliebenen MdE, die somit noch Gegenstand des Verfahrens ist, bereits im einzelnen von den Beurteilungsmaßstäben des angefochtenen Bescheides auszugehen hätte und insoweit von seiner Verpflichtung, den streitigen Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Abs. 1 SGG) entbunden wäre. Vielmehr muß sich das Gericht trotz der relativen Bindung der Verwaltungsbehörde an den angefochtenen Bescheid seine Überzeugung darüber, ob eine höhere als die bereits anerkannte MdE gerechtfertigt ist, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens bilden (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Es kann ohne Verstoß gegen das Verbot der Schlechterstellung etwa bei einem Streit über die Höhe der Beschädigtenrente die MdE nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben niedriger schätzen, die MdE durch berufliches Betroffensein aber höher bewerten und im Gesamtergebnis die MdE in derselben Höhe wie im angefochtenen Bescheid feststellen (vgl. BSG 7, 178).
Das LSG war sonach durch die für den Beklagten mit der Zustellung der angefochtenen Bescheide eingetretene relative Bindung nicht gehindert, die Bescheide unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls die MdE teilweise niedriger zu bewerten, sofern es den Kläger im Ergebnis nicht ungünstiger stellte. Das LSG hat statt einer MdE um 30 v. H. eine solche um 40 v. H. für angemessen erachtet und folglich den Kläger hinsichtlich der Höhe der MdE im Ergebnis nicht schlechter gestellt. Somit ist ein Verstoß gegen die §§ 24 Abs. 2 VerwVG und 77 SGG ebensowenig ersichtlich wie gegen die von der Revision außerdem noch zitierten Vorschriften der §§ 1 Abs. 1, 29 aF, 30 Abs. 1 BVG und Art. 1 Abs. 1 BKBLG.
Auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage der MdE-Erhöhung bei einer Neufeststellung nach § 62 BVG führt zu keinem anderen Ergebnis. Hiernach darf zwar bei Erlaß eines Neufeststellungsbescheides nach § 62 BVG die Höhe der MdE nicht uneingeschränkt neu festgesetzt werden, vielmehr ist mit Rücksicht auf den bindend gewordenen früheren Bescheid die unveränderte, bisher anerkannte MdE, d. h. gegebenenfalls auch eine ursprünglich zu hoch festgesetzte MdE, solange sie nicht förmlich (zB nach dem VerwVG) berichtigt worden ist, weiter für die Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG zugrunde zu legen (vgl. BSG 13, 230, 231; ferner BSG in SozR BVG § 30 Ca 10 Nr. 13, BVG § 62 Ca 19 Nr. 21 und Ca 20 Nr. 23). Hier handelt es sich jedoch insofern um einen anderen Fall, als mit dem Neufeststellungsbescheid nach § 62 Abs. 1 BVG ein formell und materiell bindend gewordener Bescheid (vgl. BSG aaO Ca 10 Nr. 13) geändert werden soll und hierbei die aus §§ 77 SGG, 24 Abs. 1 VerwVG sich ergebende "Bestandskraft" des früheren Bescheides, soweit sie auf unverändert gebliebenen Anspruchsgrundlagen beruht, nicht angetastet werden kann (vgl. BSG aaO Ca 20 Nr. 23). Da im vorliegenden Fall der Umfang des im Erstbescheid anerkannten Leidenszustandes streitig geblieben war und nicht etwa ein Neufeststellungsbescheid angefochten ist, sind diese Grundsätze nicht anwendbar.
Im übrigen hat das LSG hier auch keine "zusätzliche" Schädigungsfolge anerkannt, die Anlaß zu einer gesonderten MdE-Erhöhung hätte sein müssen. Im Urteilstenor heißt es nur, daß beim Kläger eine Hirnverletzung (nämlich eine Contusion Folge) vorliege, die eine Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung sei. In Wirklichkeit ging es nur darum, ob der fragliche Unfall lediglich eine Gehirnerschütterung (commotio) oder eine Hirnschädigung (contusio cerebri) zur Folge hatte. Die angefochtenen Bescheide haben sich insofern nur ungenau ausgedrückt, denn bereits dort sind Folgen einer Contusion anerkannt worden, da die anerkannte "leichte zentrale Gleichgewichtsstörung" bereits Ausdruck einer Gehirncontusion ist. Darauf weist auch das Gutachten des Versorgungskrankenhauses B hin. Sonach waren die Folgen einer Hirnverletzung bereits anerkannt, womit auch die frühere MdE um 30 w. H. hinreichend erklärt ist. Der Fall des echten "Hinzutritts einer weiteren Gesundheitsstörung", d. h. einer selbständigen Schädigungsfolge, liegt daher - entgegen der Meinung der Revision - nicht vor.
Nach alledem ist das angefochtene Urteil im Ergebnis nicht zu beanstanden, weshalb die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen war (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen