Orientierungssatz
EheG § 60 gewährt dem Bedürftigen einen Rechtsanspruch; dieser Anspruch entsteht kraft Gesetzes - wenigstens dem Grunde nach - schon mit der Rechtskraft der Ehescheidung, ohne daß es hierzu einer richterlichen Entscheidung bedarf.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 60 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. März 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 28. März 1962, in dem die Revision zugelassen ist, hat die Klägerin Revision mit dem Antrag eingelegt,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 1958 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente ab 1. August 1958 zu gewähren, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin rügt Verletzung der Vorschriften der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie Verletzung des sachlichen Rechts, und zwar des § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 60 des Ehegesetzes (EheG) von 1946.
1.) Das LSG habe zu Unrecht festgestellt, daß der Versicherte, ihr früherer Ehemann, im letzten Jahr vor seinem Tode sie nicht durch Geldleistungen unterhalten habe. Das LSG habe in dieser Beziehung die eindeutige Aussage des Zeugen W H vom 15. Juli 1960 nicht ausreichend gewürdigt. Das LSG habe sich nicht mit der Aussage dieses Zeugen befaßt, wonach der Versicherte während seiner Erkrankung vor dem Tode zwei- bis dreimal Geldbeträge zu ihrem Unterhalt geleistet habe. Die Krankheitszeit habe dreiundeinhalb Monate betragen, so daß sich die von dem Zeugen angegebenen monatlichen Unterhaltszahlungen ergäben. Die Feststellung des LSG beruhe daher nicht auf dem Gesamtergebnis des Verfahrens wie § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG vorschreibe. Weitere Sachaufklärung, die das LSG gemäß § 103 SGG von Amts wegen hätte vornehmen müssen, hätte die Dauer der Krankheitszeit ergeben und damit bestätigt, daß der Versicherte jedenfalls während dieser Zeit Unterhalt geleistet habe.
2.) Insbesondere aber habe das LSG sachliches Recht dadurch verletzt, daß es davon ausgegangen sei, der Unterhaltsanspruch aus § 60 EheG komme erst durch richterliche Entscheidung zur Entstehung.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie hält die Gründe des angefochtenen Urteils für zutreffend.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und daher zulässig; sie ist auch begründet.
Der Rechtsstreit geht darum, ob der Klägerin gemäß § 1265 RVO Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes zusteht.
Nach § 1265 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.
Zutreffend ist in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, daß eine Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber der Klägerin zur Zeit seines Todes aus "sonstigen Gründen" nicht bestanden hat.
Daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin Unterhalt geleistet hat, hat das LSG nicht als erwiesen angesehen. Ob die Revisionsgründe, welche die Klägerin in bezug auf diese Feststellung vorgebracht hat, etwa begründet sind, kann dahinstehen; denn das angefochtene Urteil mußte schon deshalb aufgehoben werden, weil das LSG zu Unrecht verneint hat, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte.
Als eine solche Vorschrift des EheG kommt, wie das LSG nicht verkannt hat, in einem Falle wie dem vorliegenden, in dem beide Ehegatten für schuldig an der Scheidung erklärt sind, ohne daß einer die überwiegende Schuld trägt, allein § 60 EheG in Betracht. Er bestimmt, daß in einem solchen Falle dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden kann, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Ob der Anspruch aus § 60 EheG ein "echter" Unterhaltsanspruch im Sinne des bürgerlichen Rechts ist oder ein Unterhaltsanspruch minderer Qualität, weil er nicht, wie es dem Wesen eines "echten" Unterhaltsanspruchs entspricht, auf den vollen Unterhalt, sondern nur auf einen Beitrag zum Unterhalt gerichtet ist (Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch, 9. Aufl., Anm. 2 zu § 60 EheG, und die dort angeführte Rechtsprechung und Literatur), kann dahinstehen; denn wenn § 1265 RVO von Unterhalt spricht, so hat er dabei auch bloße Beiträge zum Unterhalt im Auge, sofern sie ihrer Höhe nach für den Unterhalt des Berechtigten ins Gewicht fallen (SozR RVO § 1265 Nr. 29, Nr. 26; zu vgl. auch BSG 13, 166, 169). Dieser Ansicht hat offenbar auch das LSG mit Recht zugeneigt. Wenn in dem angefochtenen Urteil aber ausgeführt ist, der Anspruch aus § 60 EheG entstehe erst durch Richterspruch, so konnte der erkennende Senat dieser Ansicht ebensowenig beitreten wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 9. Februar 1965 (SozR RVO § 1265 Nr. 29; zu vgl. auch zu der dem § 1265 RVO inhaltlich ähnlichen Vorschrift in § 42 Abs. 1 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes BSG 13, 166, 168, 169). Hierfür war außer den Gründen, die aus dem Urteil vom 9. Februar 1965 ersichtlich sind, noch folgende Erwägung maßgebend: Wenn auch die Gründe, die das LSG für seine Ansicht angeführt hat, Gewicht haben, so kann doch nicht unberücksichtigt bleiben, daß diese Ansicht in Widerspruch zu der im bürgerlichen Recht herrschenden Meinung steht (Soergel-Siebert aaO und die dort angeführte Rechtsprechung und Literatur) und daß es um der Rechtseinheit willen grundsätzlich vermieden werden sollte, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei der Auslegung von Vorschriften des bürgerlichen Rechts sich in Widerspruch zu den Meinungen setzen, die im Schrifttum und insbesondere in der Rechtsprechung der in erster Linie zur Auslegung der Vorschriften des bürgerlichen Rechts berufenen ordentlichen Gerichte die herrschenden sind, ebenso wie es grundsätzlich vermieden werden sollte, daß die ordentlichen Gerichte bei der Auslegung von Vorschriften der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung sich über in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit herrschende Meinungen hinwegsetzen. - Entsteht aber entgegen der Auffassung des LSG der Anspruch aus § 60 EheG nicht erst durch den Richterspruch, der einen Unterhaltsbeitrag zubilligt, sondern schon dann, wenn die Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sind, so bedarf es im vorliegenden Falle doch noch der Prüfung, ob zugunsten der Klägerin diese Voraussetzungen zur Zeit des Todes des Versicherten erfüllt waren. Hierzu gehört nicht nur, daß die Klägerin sich nicht selbst unterhalten konnte- eine Voraussetzung, die anscheinend erfüllt war -, sondern auch, daß die Zubilligung eines Unterhaltsbeitrags des Versicherten an sie der Billigkeit entsprach. Bei der Entscheidung hierüber wiederum ist zu berücksichtigen, ob die Verwandten der Klägerin keinen oder nur einen Teil des Unterhalts der Klägerin leisten konnten und ob die Gewährung eines Unterhaltsbeitrags des Versicherten an die Klägerin den eigenen angemessenen Unterhalt des Versicherten, etwaiger minderjähriger unverheirateter Kinder oder eines neuen Ehegatten des Versicherten gefährdet hätte; auch können bei der Billigkeitsprüfung die Ansprüche etwaiger weiterer Unterhaltsberechtigter wie der Eltern, Enkel und volljährigen Kinder des in Anspruch genommenen Ehegatten nicht gänzlich außer Betracht bleiben, desgleichen nicht die Bedürfnisse etwaiger unterstützungsbedürftiger Geschwister (Soergel-Siebert aaO Anm. 5 zu § 60 EheG; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 24. Aufl., Anm. 3 zu § 60 EheG). In allen diesen Richtungen mangelt es an tatsächlichen Feststellungen des LSG, die zu treffen das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus auch keinen Anlaß hatte. Da das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht treffen kann, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird, falls es zu dem Ergebnis gelangt, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin einen Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG zu leisten hatte, noch zu prüfen haben, ob dieser Unterhaltsbeitrag mehr als nur einen geringfügigen Teil des Unterhalts ausgemacht hätte und deshalb als "Unterhalt" im Sinne des § 1265 RVO angesehen werden kann (SozR RVO § 1265 Nr. 26).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen