Orientierungssatz

Zum wesentlichen Verfahrensmangel bei Verletzung der Sachaufklärungspflicht und der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht im Falle fehlerhafter Auswertung von Krankenunterlagen in der Unfallversicherung.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 10.10.1974; Aktenzeichen L 11 U 321/73)

SG München (Entscheidung vom 08.10.1973; Aktenzeichen S 5 U 831/71)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Oktober 1974 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Kläger erlitt am 11. Dezember 1968 durch Arbeitsunfall ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Beklagte gewährte ihm wegen der Folgen des Unfalls durch Bescheid vom 27. Juli 1971 Rente, und zwar vom 21. Juli bis 30. September 1969 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. und vom 1. Oktober 1969 bis 30. November 1970 nach einer MdE von 20 v.H. Eine Rentengewährung über den 30. November 1970 hinaus lehnte die Beklagte ab, weil eine meßbare MdE nicht mehr vorliege.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 21. Juli 1969 eine Dauerrente von 50 v.H. der Vollrente zu gewähren (Urteil vom 8. Oktober 1973). Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Oktober 1974). Zur Begründung hat das LSG u.a. ausgeführt: Die durch Bescheid vom 27. Juli 1971 gewährte Rente sei ausreichend, weil der Kläger lediglich eine Gehirnerschütterung erlitten habe, die bis zum 30. November 1970 folgenlos abgeklungen gewesen sei. Die Gewährung einer Rente nach einer MdE von 50 v.H. für die zurückliegende Zeit und über den 30. November 1970 hinaus könne nur in Betracht kommen, wenn der Kläger durch den Unfall eine Gehirnquetschung (Contusio cerebri) und nicht nur eine Gehirnerschütterung (Commotio cerebri) erlitten habe. Diese Frage sei ärztlicherseits zu beantworten, wobei es auf die Befunde im Unfallzeitpunkt, auf die Befunde im weiteren Verlauf und auf die einschlägigen Vorgänge vor dem Unfall ankomme. Wenn in einem ärztlichen Gutachten einer dieser drei Bezugspunkte fehle, sei dieses Gutachten nicht schlüssig und keine verwertbare Entscheidungsgrundlage. Aus den Unterlagen sei ersichtlich, daß der Kläger auf Veranlassung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) unmittelbar vor dem Unfall vom 2. bis 30. November 1968 wegen Erschöpfung in der Naturheilklinik "O" in B behandelt worden sei. Ferner sei beachtlich, daß der Kläger schon am 2. August 1968 - also wiederum vor dem Unfall - wegen Depressionen und Versagenszuständen in die Nervenklinik des Dr. Sch in G stationär eingewiesen worden war. Diese Vorerkrankung habe der Kläger nie erwähnt, obwohl er auf Rückfragen der Beklagten alle anderen Vorerkrankungen ausführlich dargelegt habe. Der Kläger leide jetzt - unbestritten von den Beteiligten - an einer Wesensänderung, Depressionen und Fehlreaktionen. Diese krankhaften Erscheinungen, welche die geltend gemachten Beschwerden des Klägers zwanglos erklärten, seien indes durch den Unfall nicht hervorgerufen worden, weil sie nachweislich am 2. August 1968 schon bestanden und ärztliche Behandlung erfordert hätten. Sie seien durch den Unfall auch nicht verschlimmert worden, deren dieser habe lediglich zu einer Gehirnerschütterung und nicht zu einer Contusio geführt. Der Senat stütze sich bei dieser Beurteilung auf die Gutachten des Dr. St, Prof. Dr. K, Dr. W und Dr. K, von denen die drei letztgenannten die Vorgeschichte des Klägers eingehend gewürdigt hätten und daher den Vorzug gegenüber dem Gutachten des Prof. Dr. P verdienten, auf das sich das erstinstanzliche Urteil gestützt habe und das, ebenso wie die Stellungnahmen des Dr. Sch die Vorerkrankungen des Klägers unberücksichtigt gelassen habe.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der - nicht zugelassenen - Revision. Er rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) und eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG). Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs des vorliegenden neurologischen Beschwerdebildes mit dem Unfall vom 11. Dezember 1968 sei von mehreren ärztlichen Gutachtern geprüft und unterschiedlich beurteilt worden. Dem Gutachten des Prof. Dr. P, auf das sich das erstinstanzliche Urteil gestützt habe, sei das LSG nicht gefolgt, weil es die Vorgeschichte nicht gewürdigt, demnach ohne Kenntnis und Berücksichtigung nachgewiesener Vorerkrankungen eine Contusio bejaht habe. Eine Vorerkrankung im Sinne des vorliegenden Krankheitsbildes, von der die das angefochtene Urteil tragenden Gutachten des Prof. Dr. K und der Dres. W und K ausgegangen seien, habe es zu keiner Zeit gegeben. Wesensänderungen, Depressionen und Fehlreaktionen seien vor dem 11. Dezember 1968 niemals erwähnt worden; eine Behandlungsbedürftigkeit habe deswegen nicht bestanden. Aus der auf Veranlassung der BfA durchgeführten Kur könne nicht eine endogene Ursache des jetzigen Krankheitsbildes geltend gemacht werden. Der damalige Zustand des Klägers sei ein auf Überarbeitung beruhender Erschöpfungszustand gewesen. Völlig unverständlich sei die Behauptung, daß er sich vom 2. bis 30. August 1968 wegen Versagenszuständen und Depressionen in stationärer Behandlung der Nervenklinik Dr. Sch befunden habe. Aus den beigefügten Bescheinigungen der Barmer Ersatzkasse in M und der Nervenklinik Dr. Sch gehe hervor, daß nicht er, sondern seine Ehefrau im fraglichen Zeitraum stationär behandelt worden sei. Prof. Dr. K und die Dres. W und K hätten sich demnach auf Vorerkrankungen gestützt, die bei ihm zu keiner Zeit vorgelegen hätten. Das LSG habe es versäumt, die Barmer Ersatzkasse um eine Bescheinigung über die durchgemachten Vorerkrankungen zu ersuchen. Im Hinblick auf das Gutachten des Prof. Dr. P hätte das LSG auch Prof. Dr. K und die Dres. W und K zu gezielten Beweisfragen nochmals hören müssen. Einen Verfahrensverstoß bedeute es auch, daß das LSG nicht seinem Vertagungsantrag stattgegeben und Direktor B zur Klärung seiner Leistungskontinuität vernommen habe.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

II.

Die Revision des Klägers ist statthaft.

Nach Art. III des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) richtet sich die Zulässigkeit der Revision nach den bisher geltenden Vorschriften (SGG aF), weil das angefochtene Urteil vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1975 verkündet worden ist.

Nach diesen Vorschriften ist die Revision u.a. statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF) und auch vorliegt (BSG 1, 150). Der Kläger rügt zu Recht als wesentliche Verfahrensmängel Verstöße gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) und eine damit im Zusammenhang stehende Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG).

Das LSG hat im angefochtenen Urteil festgestellt, daß der Kläger jetzt an einer Wesensänderung, Depressionen und Fehlreaktionen leidet und diese krankhaften Erscheinungen schon am 2. August 1968, also vor dem Arbeitsunfall vom 11. Dezember 1968, bestanden und ärztliche Behandlung erfordert haben. Zu der Datierung - 2. August 1968 - und der Bezeichnung der krankhaften Erscheinungen ist das LSG ersichtlich nicht nur durch die vom Kläger auf Veranlassung der BfA wegen Erschöpfung durchgeführte Kur in B. vom 2. bis 30. November 1968 gelangt, sondern vor allem durch den von ihm als beachtlich bezeichneten Umstand, daß der Kläger angeblich am 2. August 1968 wegen Depressionen und Versagenszuständen in die Nervenklinik Dr. Sch stationär eingewiesen worden war. Die angebliche Behandlung in der Nervenklinik Dr. Sch hat das LSG nach den Ausführungen im Tatbestand des Urteils einer Fotokopie von Krankenunterlagen entnommen. Dabei handelt es sich offensichtlich um die in den Akten der Beklagten befindlichen Fotokopien von Leistungskarten und ihren Anlagen der Barmer Ersatzkasse, bei welcher der Kläger für den Fall der Krankheit versichert ist. Dort sind u.a. in chronologischer Folge Behandler und Krankheiten des Klägers und seiner Familie verzeichnet. Den einzelnen Eintragungen sind Personenkennzeichen vorangestellt. Nach einer Fußnote bedeutet "M" = Mitglied, "F 1" oder "F 2" usw. = Familienangehöriger. So steht beispielsweise vor der Eintragung "O.-klinik B" (2. bis 30.11.1968) das Personenkennzeichen "M" und vor der Eintragung "Nervenklinik Sch G" (2. bis 30.8.1968) das Personenkennzeichen "F 1". Dadurch ist auf den ersten Blick erkennbar, daß nur die Eintragung "O.-klinik B" den Kläger als Mitglied der Barmer Ersatzkasse betrifft, während die Eintragung "Nervenklinik Sch G" sich auf seine Ehefrau bezieht, die in der Reihe der familienberechtigten Angehörigen auf der Leistungskarte an erster Stelle steht.

Die tatsächliche Feststellung des LSG, daß die krankhaften Erscheinungen, an denen der Kläger jetzt leidet - Wesensänderung, Depressionen und Fehlreaktionen - bei ihm schon am 2. August 1968 bestanden und ärztliche Behandlung erfordert haben, gründet sich somit u.a. auf Krankenunterlagen, die nicht den Kläger betreffen. Damit hat das LSG seine Sachaufklärungspflicht verletzt und auch die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten (vgl. SozR Nr. 12 zu § 128 SGG).

Allein wegen dieser Verfahrensverstöße ist die Revision des Klägers nicht nur gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF statthaft, sondern nach § 162 Abs. 2 SGG aF auch im Sinne des Antrags auf Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Denn der für die Begründetheit der Revision erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung des Berufungsgerichts ist immer schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG anders entschieden haben würde, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig angewandt hätte (BSG 2, 197, 201; 7, 103, 108; 8, 228, 232). Diese Möglichkeit ist hier gegeben. Da der Kläger in der Nervenklinik Dr. Sch nicht behandelt und dort am 2. August 1968 auch nicht eingewiesen worden ist, wäre das LSG bei verfahrensrechtlich korrektem Vorgehen nicht zu der tatsächlichen Feststellung gelangt, daß die beim Kläger jetzt vorhandenen Krankheitserscheinungen schon am 2. August 1968 bestanden und ärztliche Behandlung erfordert haben. Es besteht darüber hinaus die weitere Möglichkeit, daß das LSG auch nicht zu der Feststellung gelangt wäre, daß vor dem Unfall schon die gleichen Krankheitserscheinungen vorhanden gewesen waren, wie sie jetzt vorliegen; daß der Kläger vor dem Unfall an einer Wesensänderung, Depressionen und Fehlreaktionen gelitten hat, ließ sich zwar durch die angebliche Behandlung wegen Depression und Versagenszustand in der Nervenklinik Dr. Sch aber nicht durch die Behandlung in der Naturheilklinik O in B wegen Erschöpfung begründen. Nachdem tatsächlich eine Behandlung des Klägers in der Nervenklinik Dr. Sch niemals stattgefunden hat, ist kaum anzunehmen, daß das LSG aufgrund der vorhandenen Krankenunterlagen nochmals zu einer Identität der jetzt beim Kläger bestehenden Krankheitserscheinungen mit denen vor dem Arbeitsunfall gelangen wird.

Die Feststellungen, daß der Kläger schon vor dem Unfall an einer Wesensänderung, Depressionen und Fehlreaktionen gelitten hat, ist aber möglicherweise auch durch die vom LSG zur Stützung dieser Feststellung verwerteten Gutachten des Prof. Dr. K und des Dr. W beeinflußt worden. Es bestehen nämlich Anhaltspunkte dafür, daß diese Ärzte ebenfalls irrtümlich von einer Behandlung des Klägers vor dem Arbeitsunfall wegen Depressionen und Versagenszuständen ausgegangen sind. Prof. Dr. K hat nach der Vorgeschichte seines Gutachtens vom 1. August 1973 den Fotokopien der Unterlagen der Barmer Ersatzkasse "für 1968 eine Depression mit Versagenszustand" entnommen. In der Beurteilung des Gutachtens hat er unter Bezug auf diese Fotokopie ausgeführt, daß es 1968 wegen eines depressiven Versagenszustandes wenige Wochen vor dem Unfall zu einer Kur in B. gekommen sei. Ähnliche Ausführungen macht Dr. W in seinem Gutachten vom 19. Februar 1974. Er geht zunächst gleichfalls davon aus, daß der Kläger 1968 an einem depressiven Versagenszustand gelitten hat, meint dann aber, daß dieser Zustand zu einer Kur in B. geführt habe. Möglicherweise haben beide Gutachter, die ihre Gutachten für die Beklagte erstattet haben und somit keine vom Gericht ernannten Sachverständigen sind, die Eintragungen in der fotokopierten Anlage zur Leistungskarte des Klägers "Depression, Versagenszustand" irrtümlich auf die darüberstehende Eintragung der Kur in B bezogen; bei deren Eintragung steht keine Krankheitsbezeichnung. Der vom LSG zum Sachverständigen ernannte Dr. K hat in seinem Gutachten vom 21. Mai 1974 aus den Befunden im ärztlichen Entlassungsbericht der Naturheilklinik "O" in B geschlossen, daß beim Kläger "bereits schon vor dem Unfall am 11. Dezember 1968 ein erheblich ausgeprägtes vegetativ-neurasthenisches Zustandsbild vorgelegen hatte". Einen gleichartigen Symptomkomplex stellte er bei der Untersuchung des Klägers am 10. Mai 1974 fest. Sein Gutachten unterstreicht die Möglichkeit, daß Prof. Dr. K und Dr. W sich über die Krankheitserscheinungen des Klägers vor dem Unfall geirrt haben, zumindest soweit diese Ärzte von einer Depression ausgegangen sind. Das Gutachten des Dr. K stützt im übrigen nicht die Ansicht des LSG, daß der Kläger "jetzt" - wie auch schon am 2. August 1968 - an einer Wesensänderung, Depression und Fehlreaktion leidet; eine solche Erklärung kann dem Gutachten nicht entnommen werden.

Ob dem Kläger durch die unterlassene Vernehmung des Direktors B außerdem das rechtliche Gehör versagt worden ist (§ 62 SGG), kann dahingestellt bleiben, da die Revision aufgrund der zuvor behandelten Verfahrensrügen ohnehin statthaft und im Sinne der Zurückverweisung an die Vorinstanz begründet ist.

Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646667

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