Entscheidungsstichwort (Thema)

Subarachnoidalblutung bei Gehirntumor. Frage der vorübergehenden oder fortdauernden Verschlimmerung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Allein die Tatsache, daß Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen vorliegen, erfordert kein "Obergutachten".

2. Zur Frage einer vorübergehenden oder fortdauernden Verschlimmerung durch eine Subarachnoidalblutung bei Vorliegen eines Gehirntumors, dessen Zusammenhang mit einem Arbeitsunfall strittig ist und zu einem wesentlichen Verfahrensmangel des Urteils des LSG.

 

Orientierungssatz

Auf die Würdigung eines nach SGG § 109 auf Antrag eines Versicherten eingeholten Gutachtens darf das LSG nicht deshalb verzichten, weil seiner Überzeugung nach diesem Gutachten keine höhere Überzeugungskraft zukomme als zwei von Amts wegen eingeholten Gutachten. Im Rahmen der nach SGG § 128 Abs 1 vorzunehmenden Beweiswürdigung ist es die Pflicht des LSG, im einzelnen darzulegen, warum es dem abweichenden Gutachten nicht gefolgt ist. Die ohne jede Begründung zum Ausdruck gebrachte Überzeugung von der nicht höheren Überzeugungskraft dieser Gutachten im Verhältnis zu den beiden anderen Gutachten ist eine gegen SGG § 128 Abs 1 verstoßende Beweiswürdigung.

 

Normenkette

SGG §§ 109, 128 Abs. 1, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. März 1974 wird aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger hatte am 26. September 1968 bei der Arbeit eine Subarachnoidalblutung erlitten. Die aus diesem Anlaß geltend gemachten Entschädigungsansprüche lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24. März 1970 ab, weil kein Anhalt für einen Arbeitsunfall und auch kein Zusammenhang mit einem Unfall bestehe. Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die Beklagte verurteilt, den Unfall vom 26. September 1968 als Arbeitsunfall durch Gewährung einer Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v. H. vom 21. März bis 25. September 1970 zu entschädigen und im übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. Dezember 1972). Die Subarachnoidalblutung sei ursächlich primär auf einen schicksalhaft aufgetretenen Gehirntumor zurückzuführen. Die betriebliche Tätigkeit am 26. September 1968 habe die vorübergehende Verschlimmerung eines bereits vorhandenen Leidens bewirkt. Dabei hat sich das SG auf das von Amts wegen eingeholte Gutachten der Dres. L und O von der Universitäts-Nervenklinik und Poliklinik B vom 13. September 1972 gestützt. Dem aufgrund eines Antrags des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M-H in W erstatteten Gutachten vom 21. Januar 1972, in dem die Auffassung vertreten ist, daß die betriebliche Tätigkeit des Klägers am 26. September 1968 nicht nur zu einer vorübergehenden, sondern auch zu einer fortdauernden Verschlimmerung des bereits vorhandenen Leidens geführt habe und der Verschlimmerungsanteil eine MdE von 30 v. H. bedinge, ist das SG nicht gefolgt. Die Berufung, mit welcher der Kläger seinen Anspruch auf Rente ab 21. März 1970 nach einer MdE von 30 v. H. weiterverfolgte, ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg vom 7. März 1974). Das LSG hat gleichfalls eine nur vorübergehende Verschlimmerung des Grundleidens des Klägers als bewiesen angesehen und sich dabei zusätzlich auf das von ihm eingeholte Gutachten der Prof. P und T von der Neurochirurgischen Klinik des K.-hospitals in S vom 30. Januar 1974 gestützt. Zum Gutachten der Sachverständigen Dr. M-H hat es ausgeführt: Diesem Gutachten habe es sich nicht anschließen können, denn ihm habe nach seiner Überzeugung keine höhere Überzeugungskraft beigemessen werden können als den Gutachten der anderen Sachverständigen. Nur dann aber hätten die Gutachten der anderen Sachverständigen als entkräftet oder widerlegt angesehen werden und der Anspruch des Klägers unter Zugrundelegung der Ansicht von Frau Dr. M H bejaht werden können. Soweit die Berufung des Klägers auf die Höherbewertung des Grades der MdE - 30 v. H. statt 25 v. H. - der ihm zugesprochenen zeitlich begrenzten Rente gerichtet sei, stehe der Durchsetzung der Grundsatz entgegen, daß die Rechtsmittelgerichte grundsätzlich nicht befugt seien, die Feststellung der MdE nur um 5 v. H. zu ändern.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der - nicht zugelassenen-Revision.

Er rügt eine fehlerhafte Beweiswürdigung. Das LSG hätte sich mit dem Gutachten der Sachverständigen Dr. M-H eingehender auseinandersetzen müssen. Die Begründung des LSG reiche nicht aus, um feststellen zu können, ob es die abweichende ärztliche Stellungnahme mit den Stellungnahmen, denen es gefolgt ist, hinreichend gegeneinander abgewogen habe. Es habe nicht einmal dargetan, ob es die anderen Gutachter für qualifizierter halte, ob ihnen also ein sachgemäßeres besseres Wissen und eine größere Erfahrung zur Verfügung stünden. Das LSG wäre daher auch von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus gehalten gewesen, ein Obergutachten zu der Frage einzuholen, ob nicht doch eine bleibende richtunggebende Verschlimmerung vorliege.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. März 1974 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 7. Dezember 1972 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. März 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 26. September 1968 ab 21. März 1970 Rente nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Das Urteil des Berufungsgerichts lasse keinen Verfahrensmangel erkennen. Das Gesamtergebnis des Verfahrens sei zutreffend und frei von Rechtsirrtum gewürdigt worden. Ein Verstoß gegen die Logik und die Denkgesetze liege nicht vor.

II

Die Revision des Klägers ist statthaft und insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Die Revision rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das LSG hat gegen § 128 Abs. 1 SGG verstoßen. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Im Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Daran fehlt es im angefochtenen Urteil. Ohne daß eine sachgemäße Abwägung aller maßgebenden Umstände erkennbar ist, hat das LSG aufgrund der Gutachten der Dres. I/O und der Prof. P/T als bewiesen angesehen, daß das Unfallereignis vom 26. September 1968 beim Kläger eine - nur - vorübergehende Verschlimmerung seines Grundleidens bewirkt hat, die nach zwei Jahren wieder abgeklungen gewesen sei. Eine Würdigung des davon abweichenden Gutachtens der Sachverständigen Dr. M-M hat das LSG im Urteil gleichfalls nicht vorgenommen. Darauf durfte es nicht verzichten, weil seiner Überzeugung nach diesem Gutachten keine höhere Überzeugungskraft beizumessen sei als den Gutachten der anderen Sachverständigen, ohne dafür auch nur einen sachlichen Grund zu nennen. Entgegen der Auffassung des LSG ist es im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 128 Abs. 1 SGG seine Pflicht, alle Umstände sachgemäß abzuwägen (vgl. BSG 4, 112, 114; 7,103, 107). Dazu gehört auch die Würdigung der vorliegenden Sachverständigengutachten. Erst danach kann entschieden werden, inwieweit die Gutachten zum Beweis der maßgebenden Tatsachen ausreichen, ob das eine Gutachten durch das andere gestützt oder entkräftet wird. Dies ist in den Gründen des Urteils darzulegen. Die ohne jede Begründung zum Ausdruck gebrachte Überzeugung von der nicht höheren Überzeugungskraft eines Gutachtens im Verhältnis zu anderen Gutachten ist eine gegen § 128 Abs. 1 SGG verstoßende Beweiswürdigung.

Ob das LSG, wie die Revision meint, gehalten gewesen war, ein "Obergutachten" zu der Frage einer etwaigen bleibenden richtunggebenden Verschlimmerung einzuholen, und, da es dies unterlassen hat, seiner Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht nachgekommen ist, kann unter diesen Umständen dahinstehen. Allein die Tatsache, daß Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen vorliegen, erfordert kein "Obergutachten". In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß entgegen den Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil die Sachverständige Dr. M-H nicht eine richtunggebende Verschlimmerung des Grundleidens des Klägers durch den Arbeitsunfall vom 26. September 1968 angenommen hat. In der Beurteilung ihres Gutachtens heißt es vielmehr, daß dem Unfallereignis "der Stellenwert einer einmaligen (abgegrenzten) Verschlimmerung zuzusprechen" sei. Demgegenüber haben die anderen Sachverständigen, wie im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt ist, nur eine vorübergehende Verschlimmerung angenommen, die inzwischen abgeklungen sei.

Das angefochtene Urteil beruht auf der fehlerhaften Beweiswürdigung (§ 162 Abs. 2 SGG); denn es ist möglich, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn ihm die angeführten Fehler bei der Beweiswürdigung nicht unterlaufen wären. Die Möglichkeit einer anderen Entscheidung genügt aber für die Annahme der Ursächlichkeit des Verfahrensmangels (vgl. BSG 2, 197, 201; 7, 103, 108).

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und - da dem Senat wegen der fehlerhaften Beweiswürdigung eine eigene Sachentscheidung nicht möglich ist - an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648080

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