Leitsatz (amtlich)

Für den Anspruch auf Übergangsgeld nach RVO § 1241e Abs 1 reicht das (objektive) Erfordernis einer Berufsförderungsmaßnahme bei Abschluß der medizinischen Maßnahme auch dann aus, wenn der Versicherte zwar noch nicht zu diesem Zeitpunkt, aber in zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit der Heilmaßnahme den entsprechenden Antrag stellt oder die Zustimmung erklärt.

 

Normenkette

RVO § 1240 Fassung: 1974-08-07, § 1241e Abs 1 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.12.1978; Aktenzeichen L 14 J 71/77)

SG Duisburg (Entscheidung vom 26.01.1977; Aktenzeichen S 9 J 229/76)

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 16. Juni 1975 bis zum 1. Januar 1976 Übergangsgeld (Übg) zu gewähren hat (§ 1241e Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Der Kläger, gelernter Dreher und zuletzt als Spitzendreher und Karusselldreher beschäftigt gewesen, war seit Dezember 1973 infolge Krankheit arbeitsunfähig. Auf seinen im Februar 1974 gestellten Antrag gewährte ihm die Beklagte, nachdem während eines längeren Krankenhausaufenthaltes eine Bandscheibenoperation durchgeführt worden war, vom 17. Oktober bis zum 14. November 1974 eine Heilbehandlung. Im Entlassungsbericht hieß es, Berufsförderungsmaßnahmen seien nicht angezeigt; es bestehe Arbeitsunfähigkeit, die in etwa drei Wochen nochmals beurteilt werden solle. Im Gutachten vom 4. Dezember 1974 hielt die Vertrauensärztin der Beklagten den Kläger für fähig, leichte Arbeiten zu verrichten. Der von ihr eingeschaltete Werksarzt der Arbeitgeberfirma vermochte seinem Bericht vom 10. Januar 1975 zufolge nicht zu entscheiden, inwieweit die vom Kläger vorgebrachten starken Schmerzen glaubhaft seien; er schlug vor, die Entscheidung über die Berufsförderung abzuwarten. Am 7. Januar 1975 äußerte der Kläger gegenüber der Beklagten den Wunsch, umgeschult zu werden. Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 22. Januar 1975 dem Arbeitsamt mit, sie vertrete aufgrund einer Anregung der Heilstätte die Auffassung, daß Berufsförderungsmaßnahmen notwendig seien, und bitte um ein psychologisches Eignungsgutachten. Entsprechend dem Vorschlag des Arbeitsamtes bewilligte sie dem Kläger im September 1975 die Ausbildung zum Bürokaufmann. Dieser Lehrgang begann am 2. Januar 1976. Von diesem Zeitpunkt an gewährte die Beklagte - wie schon während des Heilverfahrens - Übg; zwischenzeitlich hatte der Kläger bis zum 15. Juni 1975 Krankengeld erhalten und danach von Sozialhilfe gelebt.

Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Übg für die Zeit vom 16. Juni 1975 bis zum 1. Januar 1976 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 5. Januar 1976). Das Sozialgericht Duisburg (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 26. Januar 1977), das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) gab ihr statt (Urteil vom 18. Dezember 1978).

Das LSG hat ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 1241e Abs 1 RVO lägen vor. Die Erforderlichkeit einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme habe nach Abschluß der Kur am 14. November 1974 festgestanden. Wenn auch im Heilbehandlungsentlassungsbericht vom 14. November 1974 Berufsförderungsmaßnahmen nicht für angezeigt gehalten worden seien, so habe doch die Beklagte deren Notwendigkeit bejaht, wie das Schreiben an das Arbeitsamt vom 22. Januar 1975 ergebe.

Die Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie hält § 1241e Abs 1 RVO hier für unanwendbar, weil bei Abschluß der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme noch nicht festgestanden habe, ob überhaupt Berufsförderungsmaßnahmen erforderlich seien.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er beruft sich auf die Urteile des Senats vom 28. November 1978 - 4 RJ 61/77 - (= BSGE 47, 176 = SozR 2200 § 1241e Nr 7) und vom 29. Mai 1979 - 4 RJ 123/78 -.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, auch für die zwischen medizinischer und berufsfördernder Maßnahme liegende Zeit, und zwar hier - wie beantragt - im Anschluß an die "Aussteuerung" durch die Krankenkasse, Übg zu gewähren.

Anspruchsgrundlage ist der durch das Rehabilitations-Angleichungsgesetz (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) in die RVO eingeführte § 1241e Abs 1 RVO. Danach ist, wenn nach Abschluß medizinischer Maßnahmen zur Rehabilitation berufsfördernde Maßnahmen erforderlich sind und diese aus Gründen, die der Betreute nicht zu vertreten hat, nicht unmittelbar anschließend durchgeführt werden können, für diese Zeit das Übg weiter zu gewähren, wenn ua der Betreute arbeitsunfähig ist und keinen Anspruch auf Krankengeld hat.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Demgegenüber vermag die Beklagte nicht mit Erfolg einzuwenden, bei Abschluß der Heilmaßnahme habe noch nicht festgestanden, ob überhaupt Berufsförderungsmaßnahmen hätten durchgeführt werden können und sollen. Mit der Problematik des fehlenden nahtlosen Anschlusses einer Berufsförderungsmaßnahme an eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme hat sich der Senat in dem bereits erwähnten Urteil vom 28. November 1978 (BSGE 47, 176 = SozR 2200 § 1241e Nr 7) befaßt und ausgeführt, daß es zwar einerseits nicht genügt, wenn zu einem beliebigen, möglicherweise lange nach Beendigung der medizinischen Maßnahme liegenden Zeitpunkt eine berufsfördernde Maßnahme - etwa wegen eines neuen medizinischen Sachverhalts oder aus sonstigen Gründen - erforderlich wird, daß aber andererseits die Notwendigkeit dieser Maßnahme auch nicht bei Abschluß des Heilverfahrens schon vom Versicherungsträger festgestellt zu sein braucht. Vielmehr kommt es darauf an, daß die Erforderlichkeit einer (nicht: der bestimmten) Berufsförderungsmaßnahme objektiv bei Abschluß der medizinischen Maßnahme feststeht und dies der Versicherungsträger später, zurückbezogen auf diese Zeit, feststellt (vgl BSGE aaO S 177, 178 und das weitere Urteil des Senats vom 29. Mai 1979 - 4 RJ 123/78 S 4). An dieser Rechtsauffassung ist festzuhalten. Daß in nicht seltenen Fällen der Versicherungsträger (als Rehabilitationsträger) erst nach der von ihm gewährten Heilmaßnahme das Erfordernis einer Berufsförderungsmaßnahme feststellen kann, liegt im Wesen und in der Zielsetzung der Rehabilitation begründet. Es kann die Erwartung bestehen, durch eine Heilmaßnahme dem Betreuten den Verbleib in der bisherigen Berufstätigkeit zu ermöglichen; erst wenn sich diese Prognose nicht bestätigt, stellt sich dann die Frage der Berufsförderung. Dem hat auch der Gesetzgeber des RehaAnglG Rechnung getragen und dem zuständigen Rehabilitationsträger die Verpflichtung auferlegt, nicht nur gleichzeitig mit der Einleitung einer medizinischen Maßnahme zur Rehabilitation und während deren Durchführung, sondern auch nach deren Abschluß zu prüfen, ob durch geeignete berufsfördernde Maßnahmen die Erwerbsfähigkeit des Behinderten erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden kann (§ 4 Abs 3 RehaAnglG). Der Sinn und Zweck des § 1241e Abs 1 RVO - wirtschaftliche Sicherstellung des Betreuten zwischen zwei "Rehabilitationspausen" durch Übg - steht daher einer einschränkenden Anwendung der Vorschrift auf Fälle entgegen, in denen der Rehabilitationsträger bereits bei Abschluß der Heilmaßnahme seine Entscheidung über die Berufsförderung getroffen hat.

Gegen die - eindeutige - Feststellung des Berufungsgerichts, das Erfordernis einer berufsfördernden Maßnahme habe bereits "nach Abschluß der Kur am 14. November 1974" festgestanden, sind von der Beklagten keine Revisionsgründe iS von § 163 SGG vorgetragen worden. Selbst wenn man unterstellt, daß die Beklagte mit der Revisionsbegründung hat zum Ausdruck bringen wollen, was erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist verdeutlicht worden ist, nämlich daß die Verfasser des Kurentlassungsberichtes vom 14. November 1974 Berufsförderungsmaßnahmen nicht für angezeigt gehalten hätten und es damit an der objektiven Notwendigkeit einer solchen Maßnahme zu diesem Zeitpunkt fehle, kann sie damit nicht durchdringen. Denn das LSG hat sich mit diesem Einwand bereits auseinandergesetzt und nicht nur auf die von den Kurärzten für erforderlich gehaltene und dann auch innerhalb von drei Wochen von der Vertrauensärztin der Beklagten durchgeführte Nachuntersuchung des Klägers wegen noch bestehender Arbeitsunfähigkeit hingewiesen, sondern insbesondere auch darauf, daß die Beklagte selbst mit ihrem Schreiben an das Arbeitsamt vom 22. November 1975 die Notwendigkeit einer Berufsförderungsmaßnahme gerade aufgrund des Entlassungsberichts vom 14. November 1974 bejaht habe.

Allerdings unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von denjenigen, die den beiden genannten Entscheidungen des Senats zugrunde lagen, insofern, als dort der Betreute bereits vor dem Abschluß und sogar vor dem Beginn der medizinischen Maßnahme eine Berufsförderungsmaßnahme beantragt hatte (vgl das aaO S 177 angegebene Schrifttum darüber, wann spätestens ein entsprechender Antrag gestellt sein soll). In diesem Zusammenhang ist zunächst zu berücksichtigen, daß Rehabilitationsmaßnahmen zwar der Zustimmung des Behinderten, aber möglicherweise keines Antrags bedürfen (vgl § 4 Abs 1 RehaAnglG). Die Zustimmung des Behinderten zu einer auf die medizinische - folgenden berufsfördernden Maßnahmen (oder der entsprechende Antrag) wird zwar in der Regel spätestens unmittelbar nach Abschluß des Heilverfahrens vorliegen; anders verhält es sich jedoch, wenn - wie hier - bei Abschluß der Heilmaßnahme das Leistungsvermögen in einem wesentlichen Punkt, etwa zur Frage des Bestehens oder Nichtbestehens von Arbeitsunfähigkeit, noch ungeklärt geblieben ist. Deshalb muß nach Ansicht des Senats ein ursächlicher und zeitlicher Zusammenhang der Zustimmung mit der medizinischen Maßnahme genügen. Dabei ist maßgebend, ob nach den Umständen des Einzelfalles vom Behinderten ein früheres Tätigwerden hätte erwartet werden müssen - dies in Anlehnung an den Grundsatz, daß der Behinderte die Folgen einer fehlenden oder ungenügenden Mitwirkung an der erforderlichen Rehabilitation zu tragen hat (vgl Wortlaut des § 1241e Abs 1 RVO sowie die allgemeine Bestimmung des § 4 Abs 1 Satz 2 RehaAnglG).

Der vorliegende Fall bietet keinen Anhalt für die Annahme, daß der Kläger seinen Antrag auf eine Umschulung außerhalb eines zeitlichen und ursächlichen Zusammenhangs mit der vorangegangenen Heilmaßnahme gestellt oder seine Pflichten versäumt habe; denn als die Nachuntersuchung durch die Vertrauensärztin der Beklagten stattgefunden und der eingeschaltete Werksarzt vorgeschlagen hatte, die Entscheidung über die Berufsförderung abzuwarten, äußerte der Kläger ohne längeres Zuwarten bei der Beklagten seinen Wunsch, umgeschult zu werden.

Da ersichtlich auch die anderen Voraussetzungen des § 1241e Abs 1 RVO für das "Überbrückungs-Übergangsgeld" erfüllt gewesen sind, mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden. Dabei ist unschädlich, daß in der Formel des angefochtenen Urteils - anscheinend versehentlich - unterlassen wurde, neben dem Bescheid der Beklagten vom 5. Januar 1976 auch das Urteil des SG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1657079

Breith. 1981, 316

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