Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungsschutz während des Besuchs des Kindergartens. Weg von dem Ort der Tätigkeit

 

Orientierungssatz

Waren für die Wahl des Weges, auf dem ein Kind nach dem Besuch des Kindergartens verunglückte, andere Gründe maßgebend als die Absicht, den häuslichen Bereich des Kindes zu erreichen, dann ist es rechtlich unerheblich, ob das Kindergartenkind Einfluß auf den durch seine ältere Schwester bestimmten Umweg hatte.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a, § 550 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 14.11.1984; Aktenzeichen L 3 U 24/84)

SG Mainz (Entscheidung vom 02.02.1984; Aktenzeichen S 7 U 13/83)

 

Tatbestand

Am 7. April 1982 wurde die damals nahezu 5 Jahre alte Klägerin von ihrer 16jährigen Schwester und deren Freundin vom Gemeindekindergarten in B. abgeholt. Die Mutter der Klägerin hatte die Schwester geschickt, da sie zu Hause das Mittagessen zubereiten mußte, um dann alsbald ihre Halbtags-Arbeitsstelle aufsuchen zu können. Vom Kindergarten aus beabsichtigte die Schwester der Klägerin und ihre Freundin, zunächst zu deren Wohnung zu gehen, um dort etwas abzuholen. Danach wollte man weiter zum Essen nach Hause. Auf einer Wegstrecke, die zur Wohnung der Freundin der Schwester der Klägerin führte und nicht auf dem unmittelbaren Weg nach Hause lag, erlitt die Klägerin einen schweren Verkehrsunfall.

Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, da durch die Abweichung aus eigenwirtschaftlichen Gründen der Weg nicht nur unerheblich verlängert worden sei (Bescheid vom 21. Dezember 1982).

Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, da sich die Klägerin die eigenwirtschaftlichen Beweggründe ihrer Schwester zurechnen lassen müsse (Urteil vom 2. Februar 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt (Urteil vom 14. November 1984): Der Umweg sei aus eigenwirtschaftlichen Gründen unternommen und erheblich verlängert worden. Er sei auch nicht dem Spieltrieb der Klägerin entsprungen, sondern von der Aufsichtsperson bestimmt worden.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.

Durch Beschluß vom 22. Februar 1985 hat der Senat die Revision als unzulässig verworfen, weil die Klägerin dieses Rechtsmittel nicht begründet habe. Der Beschluß ist der Klägerin am 6. März 1985 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 14. März 1985 - eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 15. März 1985 - hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und sogleich eine unterschriebene Fotokopie einer Revisionsbegründung mit Datum vom 8. Februar 1985 vorgelegt. Zur Begründung des Antrages auf Wiedereinsetzung hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin ausgeführt: Er habe die am 8. Februar 1985 von dem Mitarbeiter der Kanzlei, Herrn Rechtsanwalt K., verfaßte und von der Mitarbeiterin H. geschriebene Revisionsbegründungsschrift am selben Tage unterzeichnet und der ständigen Mitarbeiterin zum Postversand übergeben. Der Postausgang sei so organisiert, daß alle unterzeichneten Schreiben noch am Tage ihrer Fertigstellung versandfertig gemacht würden und beim Postamt aufgegeben würden. Die langjährige Mitarbeiterin S. H. überprüfe die ausgehende Post, damit keine Schriftstücke zurückblieben. So sei es auch am 8. Februar 1985 geschehen. Es sei auszuschließen, daß die Revisionsbegründungsschrift nicht auf den Postweg gebracht worden sei. Sie sei abgeschickt und nicht zurückgekommen. Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat die Richtigkeit seiner Angaben anwaltlich versichert soweit sie die Wahrnehmungen des Unterzeichneten betreffen. Gleichzeitig hat er eine eidesstattliche Versicherung seiner Mitarbeiterin S. H. vorgelegt, in der diese die Angaben über die Organisation des Postausganges in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin bestätigt und ausdrücklich versichert, sie habe auch am 8. Februar 1985 sämtliche Schriftstücke aus den Postausgangsmappen entnommen und auf den Postweg gebracht und keine Reststücke festgestellt.

Die Revision hat die Klägerin ua wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen könne nicht ohne weiteres und ausnahmslos der Wille einer Begleitperson den inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall entfallen lassen. Es mache einen erheblichen Unterschied, ob die Klägerin von einem erziehungsberechtigten Elternteil oder von der minderjährigen Schwester begleitet werde. Während die sorgeberechtigten Erwachsenen rechtlich verbindliche Entscheidungen für den Schutzbefohlenen abgeben könnten, sei einer Minderjährigen allenfalls ein faktischer Einfluß auf die Klägerin einzuräumen. Die Klägerin selbst habe keine Einflußmöglichkeit auf die Wahl des Weges gehabt. Zudem seien Entfernungen, die in kleineren Ortschaften zurückgelegt würden, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Außerdem sei hier zu beachten, daß § 550 Abs 2 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) den Versicherungsschutz gewähre für alle Personen, die gemeinsam einen Weg zurücklegten, und auch § 550 Abs 2 Nr 1 RVO zeige, daß der Weg zu den Personen versichert sei, in deren Obhut noch nicht schulpflichtige Kinder gebracht würden.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanz und den Bescheid des Beklagten vom 21. Dezember 1982 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß des Unfalles vom 7. April 1982 die gesetzlichen Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält den Wiedereinsetzungsantrag für nicht begründet und das angefochtene Urteil zudem für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Klägerin ist gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da sie glaubhaft gemacht hat, daß sie ohne ihr Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten (s § 67 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Nach der anwaltlichen Versicherung des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und der eidesstattlichen Versicherung seiner zuständigen Büroangestellten ist die Revisionsbegründung am 8. Februar 1985 unterschrieben und zur Post gegeben worden. Nach dem üblichen Postlauf hätte die Revisionsbegründung dann noch rechtzeitig vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist beim BSG eingehen müssen. Die Revisionsbegründung ist innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden.

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Die Klägerin war während des Besuchs des Kindergartens gegen Arbeitsunfall versichert (s § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a RVO). Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Die Klägerin befand sich auf dem Weg von dem Ort "ihrer Tätigkeit", hier auf dem Weg von dem Kindergarten. Endpunkt dieses Weges war nicht die Wohnung der Freundin der Schwester der Klägerin, da die Klägerin und ihre Schwester dort nur etwas abholen, sich nicht aber längere Zeit aufhalten wollten (s BSGE 1, 171, 172; 32, 38, 41; BSG SozR Nrn 34, 54, 56 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 10. Aufl, S 485r ff mwN). Für die Zurücklegung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit zur elterlichen Wohnung ist die Klägerin in der Wahl des Weges grundsätzlich frei gewesen. Die Wahl eines weiteren Weges stellt den Versicherungsschutz auf dem Wege nach oder von dem Ort der Tätigkeit nur in Frage, wenn für diese Wahl andere Gründe maßgebend sind als die Absicht, den Ort der Tätigkeit oder - auf dem Rückweg - den anderen Grenzpunkt des Weges iS des § 550 Abs 1 RVO zu erreichen (BSGE 4, 219, 222; BSG SozR 2200 § 550 Nr 45; Brackmann aaO S 486m). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG waren für die Wahl des Weges, auf dem die Klägerin verunglückte, andere Gründe maßgebend als die Absicht, den häuslichen Bereich der Klägerin zu erreichen. Die weitere Wegstrecke war somit von Gründen bestimmt, die nicht in der Zurücklegung des Weges von dem Ort der Tätigkeit lagen. Dabei ist es entgegen der Ansicht der Revision rechtlich unerheblich, ob die Klägerin Einfluß auf den durch die ältere Schwester bestimmten Umweg hatte. Entscheidend ist, daß dieser Umweg nicht im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit der Klägerin, sondern mit dem Anliegen der Schwester der Klägerin gestanden hat. Nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene gibt es zahlreiche Gründe für einen Umweg bzw eine Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit, denen sich der Versicherte tatsächlich oder sogar rechtlich nicht entziehen kann. Ein Versicherter, der zB den Weg von dem Ort der Tätigkeit unterbricht, um seiner kranken Frau den notwendigen Besuch beim Arzt zu ermöglichen, kann sich der zugrundeliegenden Bitte seiner Frau grundsätzlich nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich nicht entziehen, ohne daß deshalb ein innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit bestehen würde. Würde man wegen der rechtlichen und vor allem tatsächlichen Abhängigkeit eines Kindes im Kindergartenalter versicherungsrechtlich etwas anderes gelten lassen, müßte der Versicherungsschutz auch dann bejaht werden, wenn die Mutter ihr Kind vom Kindergarten abholt und zu einem längeren Besuch bei einer weit entfernt wohnenden Person mitnimmt. Auch das Handeln der Schwester ist ggfs nicht dem Kindergarten zuzurechnen.

Nach den in ständiger Rechtsprechung und unter nahezu einhelliger Zustimmung des Schrifttums zum Versicherungsschutz auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten Grundsätzen besteht während einer persönlichen Verrichtungen dienenden erheblichen Unterbrechung dieses Weges oder auf einem persönlichen Verrichtungen dienenden erheblichen Umweg kein Versicherungsschutz, während der Versicherungsschutz aufrechterhalten bleibt, wenn die Besorgung hinsichtlich ihrer Zeitdauer und der Art ihrer Erledigung keine rechtlich ins Gewicht fallende und somit keine erhebliche Unterbrechung des Weges oder keinen erheblichen Umweg nach oder von dem Ort der Tätigkeit bedeutet, sondern nur als geringfügig anzusehen ist (vgl ua BSG SozR Nr 5 und Nr 28 zu § 543 RVO aF; BSG SozR 2200 § 549 Nr 1, § 539 Nr 21; BSGE 43, 113; BSG SozR 2200 § 550 Nr 44). Es kann hier dahinstehen, ob - auch nach den von der Revision hervorgehobenen Besonderheiten der örtlichen Umgebung - der von der Schwester der Klägerin eingeschlagene Umweg lediglich nach seiner Länge noch als unbedeutend angesehen werden könnte. Dieser Umweg sollte jedoch dazu dienen, in der Wohnung der Freundin der Schwester der Klägerin etwas abzuholen. Ein Umweg und eine Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit durch das Aufsuchen einer Wohnung ist jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nicht nur als unbedeutendes Abweichen von dem Weg nach Hause zu werten. Der Senat hat vielmehr lediglich Umwege und Unterbrechungen als nur geringfügig angesehen, die "Verrichtungen im Vorbeigehen" dienen (BSG Urteile vom 30. März 1982 - 2 RU 5/81 - und vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 52/81 -; Brackmann aaO S 486 o). Auch für das Aufsuchen eines Geschäftes hat der Senat eine nur geringfügige Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit verneint (BSG SozR 2200 § 550 Nr 44; Brackmann S 487f I). Entsprechendes hat für das Aufsuchen einer Wohnung zu gelten. Wie der Senat in seinem Urteil vom 25. Januar 1977 (BSGE 43, 113, 115) zum Versicherungsschutz von Schülern während des Besuchs allgemeinbildender Schulen auf dem Schulweg und in seinem Urteil vom 25. November 1977 (2 RU 70/77 - USK 77228) zum Versicherungsschutz von Kindern auf dem Weg nach und von dem Kindergarten ausgeführt hat, sind der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I, 237) keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die angeführten Grundsätze zum Versicherungsschutz während der Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit insoweit für den Versicherungsschutz für Schüler die angeführten Grundsätze zum Versicherungsschutz während Abs 1 RVO nicht gelten sollen. Der Senat hat allerdings in diesen Urteilen näher ausgeführt, daß die strengen Maßstäbe, die für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit für Erwachsene zu beachten sind, dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Schulkinder und der Kinder in Kindergärten im Zusammenhang mit dem Schulweg bzw dem Weg von und zum Kindergarten nicht gerecht werden. Anders als in den Sachverhalten, die den zuletzt angeführten Entscheidungen des Senat zugrunde gelegen haben, hat der eingeschlagene Umweg und die beabsichtigte Unterbrechung des Weges der Klägerin von dem Kindergarten nicht auf dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Kinder im Kindergarten beruht. Daß die Klägerin ihrer Schwester hinsichtlich des eingeschlagenen Weges nicht widersprechen konnte, begründet, wie bereits aufgezeigt, keine andere Entscheidung.

Entgegen der Auffassung der Revision rechtfertigen auch die Grundgedanken, die den Regelungen in § 550 Abs 2 RVO zugrunde liegen, keine andere Entscheidung. § 550 Abs 2 Nr 1 RVO betrifft nicht den Versicherungsschutz des in fremde Obhut zu bringenden oder aus fremder Obhut zu holenden Kindes, sondern der sie dorthin bringenden Person. § 550 Abs 2 Nr 2 RVO erfaßt nur Fälle, in denen der Umweg durch eine sogenannte Fahrgemeinschaft bestimmt ist. Der eingeschlagene Umweg und die geplante Unterbrechung dienten jedoch nicht dazu, einen Weg zurückzulegen, auf dem für die Schwester der Klägerin Versicherungsschutz bestanden hat.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665972

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