Leitsatz (redaktionell)

Verweigert ein Zeuge, der im ersten Rechtszug ausgesagt hat, im Berufungsverfahren die Aussage, so steht diese Zeugnisverweigerung der Verwertung seiner erstinstanzlichen Aussage nicht entgegen.

 

Orientierungssatz

Eine rechtmäßige Zeugnisverweigerung im Berufungsverfahren steht der Verwertung einer erstinstanzlichen Aussage nicht entgegen.

 

Normenkette

SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 383; StPO § 250 S. 2, § 252

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. März 1968 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der ... 1932 geborene Kläger war in Danzig ansässig; dort mußte ihm im Jahre 1944 oder Anfang 1945 das linke Bein im Oberschenkel amputiert werden. Bei Kriegsende kam der Kläger - seine Eltern waren Anfang 1945 an einer Methylalkoholvergiftung gestorben - nach Mitteldeutschland und am 26. April 1960 nach Berlin (West).

Am 2. August 1960 stellte er einen Antrag auf Versorgung; dabei gab er an, er habe 1945 durch Kriegseinwirkung eine Granatsplitterverletzung erlitten, die infolge Blutbrand die Amputation des linken Beines durch Dr. B notwendig gemacht habe. In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) habe er bereits einen Rentenantrag gestellt gehabt. In einer weiteren Eingabe an das Versorgungsamt (VersorgA) gab der Kläger den Zeitpunkt der Amputation mit Anfang Dezember 1944 an. Durch Bescheid des VersorgA B vom 3. Februar 1961 wurde der Versorgungsantrag abgelehnt, da das schädigende Ereignis nicht erwiesen und Beweisunterlagen über die Granatsplitterverletzung weder von dem Kläger beigebracht noch zu ermitteln seien. Im Widerspruchsverfahren berichtete Dr. B "aus weit zurückliegender Erinnerung", daß der Kläger Ende des Jahres 1944 im Städtischen Krankenhaus T in chirurgischer Behandlung gewesen sei. Einzelheiten über die Behandlung und den Befund könne er nicht angeben. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Bescheid des Landesversorgungsamts (LVersorgA) B vom 31. August 1961 zurückgewiesen.

Vor dem Sozialgericht (SG) erklärte der Kläger, die Verletzung habe zwischen dem 10. und 20. Dezember 1944 stattgefunden. Er habe sich mit einem HJ-Transport auf der Eisenbahnfahrt von D nach S befunden. In den Abendstunden sei ein Luftangriff erfolgt; dabei sei er durch eine Splitterverletzung (Bomben oder Bordwaffenbeschuß) am inneren Knöchel schwer verwundet worden.

Der Bruder des Klägers, H H geboren 1930, ist durch das Amtsgericht (AG) Wuppertal als Zeuge vernommen worden. Er bekundete, Anfang 1944 sei er zur Kinderlandverschickung nach H gekommen. Ende 1944 oder Anfang 1945 habe er einen Brief von seinen Eltern erhalten, in dem sie ihm mitteilten, daß sein Bruder bei einem Luftangriff verwundet und ein Bein amputiert worden sei. Die Verwundung müsse in den letzten Monaten des Jahres 1944 bei einem Eisenbahntransport erfolgt sein. Er habe seinen Bruder erst 1949 bei einem kurzen Aufenthalt auf dem Bahnhof G wiedergesehen. In einer ergänzenden Vernehmung bekundete der Bruder des Klägers, nach dem Tode seiner Eltern sei er nach Hause zurückgekehrt; dort habe er seinen Bruder wiedergesehen. Er könne sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob ihm sein Bruder damals irgendetwas über die Ursache der Beinverletzung mitgeteilt habe.

Das SG hat den Beklagten durch Urteil vom 9. August 1966 verurteilt, Verlust des linken Oberschenkels als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und dem Kläger mit Wirkung von August 1960 eine Beschädigtenrente nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. zu gewähren.

Im Berufungsverfahren wurden weitere Unterlagen beigezogen. Die Krankenanstalten G übersandten einen Auszug aus der Krankengeschichte über eine stationäre Behandlung des Klägers im Jahre 1948 wegen einer Serotal-Phlegmone. In der Anamnese dieser Krankengeschichte heißt es: "1944 verlor der Patient durch Eisenbahnunfall den rechten Oberschenkel, im Herbst 1944 Stumpfabszeß". Die Krankenanstalten G berichtigten später diese Auskunft dahin, daß bei dem Kläger eine Oberschenkelamputation links vorgelegen habe.

Weiterhin wurden Unterlagen von der Bundesbahndirektion H beigezogen. Danach hatte der Kläger am 16. April 1956, als er noch in L wohnte, einen Schadensersatzanspruch bei der Bundesbahndirektion in H geltend gemacht und dabei angegeben, er habe im Juni 1944 durch Verschulden der Deutschen Reichsbahn einen Unfall mit nachfolgender Amputation erlitten. Die Unterlagen des Prozesses gegen die Reichsbahn, der noch vor 1945 zu seinen Gunsten abgeschlossen worden sei, seien ihm durch die Kriegseinwirkungen verloren gegangen. Der Rechtsspruch sei im Herbst 1944 gefällt worden. Er habe sich auch bereits an die Reichsbahndirektion H gewandt. Der Anspruch des Klägers war von der Deutschen Bundesbahn abgelehnt worden, da Haftpflichtunterlagen nicht vorhanden waren. Ferner hatte sich der Kläger am 3. Februar 1959 an die Allgemeine Deutsche Eisenbahnbetriebs-Gesellschaft mbH in B gewandt und angegeben, er suche die Haftpflichtunterlagen aus einem Unfall, den er Mitte 1944 (19. Juni 1944) durch das Verschulden des Personals der Kleinbahnstrecke S erlitten habe. "Zeit: 19. Juni 1944. Schaden: linke Beinoberschenkelamputation. Prozeßort: D oder B. Prozeßzeit: Sommer und Herbst 1944. Die Gerichtsunterlagen sind mir ... verloren gegangen".

Dazu erklärte der Kläger im Berufungsverfahren, er habe gegenüber der Bahn falsche Angaben gemacht, um überhaupt etwas erreichen zu können. Er habe sich dabei sicher gefühlt, "da mir auch mein Bruder nicht bei diesem Betrug gefährlich werden konnte. ... Mein Kartenhaus brach dann völlig zusammen, als ich erfuhr, daß diese Kleinbahngesellschaft ein privates Unternehmen sei". Dem Gericht habe er von seinem Ersatzanspruch bei der Bahn nichts mitgeteilt, "meine falsche Darstellung wäre sonst sofort bekannt geworden und das LVersorgA hätte sich indirekt auf meine Unglaubwürdigkeit berufen können". Spätere Anträge in Ostdeutschland seien gar nicht erst zu Papier gekommen. Seinen Großvater habe er viele Jahre nach der Vertreibung in einem Altersheim bei M wiedergefunden. Dieser sei dort 1958 gestorben.

Das Landessozialgericht (LSG) hat Frau R geb. W, als Zeugin vernommen. Diese bekundete, sie habe den Kläger 1956 oder 1957 - wahrscheinlich im Herbst 1956 - in L kennengelernt und sei mit ihm zwei oder drei Jahre befreundet gewesen. Der Kläger habe ihr einmal erzählt, daß er Ende 1944 während eines Eisenbahntransports in einen Luftangriff geraten und dabei am linken Bein schwer verletzt worden sei. Auch der Großvater des Klägers, mit dem sie später einmal über den Unfall des Klägers gesprochen habe, habe ihr ähnliches darüber erzählt. Ihr sei nichts darüber bekannt, daß sich der Kläger damals an die Eisenbahn gewandt habe.

Der Bruder des Klägers sollte von dem LSG erneut als Zeuge vernommen werden. Dieser berief sich in zwei Schreiben vom 6. März 1968 und 17. März 1968 auf sein Zeugnisverweigerungsrecht und begründete dies ua damit, "weil mein Bruder anscheinend widersprüchliche Angaben gemacht hat. ... Es würde nicht zur Klärung des Sachverhalts beitragen, erklärte ich Dinge, von denen ich nach 23 Jahren nicht mehr sicher weiß, durch wen ich sie erfahren habe". Er könne heute wirklich nichts Eindeutiges mehr dazu sagen; er möchte nicht durch unbeweisbare Angaben die Sache noch mehr komplizieren.

Der Kläger erklärte bei seiner persönlichen Anhörung vor dem LSG, die Verletzung habe sich "etwa" in den Monaten November/Dezember 1944 zugetragen. Die Angabe in der Berufsfürsorgeakte anläßlich der ärztlichen Untersuchung durch Dr. W er wäre bei der Beschießung von D am linken Oberschenkel verletzt worden, entspreche nicht den Tatsachen und müsse auf einem Mißverständnis seitens des Arztes beruhen.

Das LSG hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 28. März 1968 zurückgewiesen. In den Gründen wird ausgeführt, der Kläger sei durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung, nämlich durch einen Luftangriff, verwundet worden. Zur Anerkennung dieser Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genüge die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 1 Abs. 3 BVG). Die aufgetretenen Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung des Klägers und die zum Teil scheinbar widersprüchlichen Angaben des Klägers und die in einzelnen unwesentlichen Punkten tatsächlich vorhandenen Widersprüche in der Schilderung des schädigenden Ereignisses vermöchten nichts daran zu ändern, daß der ursächliche Zusammenhang der Verwundung des Klägers mit der behaupteten Schädigung wahrscheinlich sei. Die Tatsache der Verwundung des Klägers bei einem Fliegerangriff sei sowohl von der Zeugin R als auch von dem Bruder des Klägers als Zeugen bestätigt worden. Zwar habe die Zeugin R ihre Kenntnis von der Ursache der Verletzung von dem Kläger selbst erst über 10 Jahre später erfahren; das mindere jedoch im Zusammenhang mit der Aussage des Zeugen H H und der Schilderung des Klägers nicht den Wert ihrer Aussage. Der Bruder des Klägers habe ausgesagt, er habe von den Eltern in einem Brief von der Verwundung des Klägers erfahren. Sei das aber der Fall, dann könne auch der Großvater des Klägers der Zeugin R keine andere Schilderung gegeben haben, da er ebenfalls in D gelebt habe. Der Zeuge H H habe zwar nunmehr von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht; daraus könnten jedoch für den Kläger nachteilige Schlüsse nicht gezogen werden. Aus den zum Teil unvollständigen Aussagen des Zeugen H H könnten auch nicht ohne weiteres Widersprüche hergeleitet werden. Auch Dr. B, der den Kläger nach der Verwundung operiert habe, habe mitgeteilt, daß er sich "aus weit zurückliegender Erinnerung" auf die chirurgische Behandlung des Klägers Ende des Jahres 1944 im Städtischen Krankenhaus T besinnen könne. Die Auskunft der Krankenanstalten G scheine zwar gegen die Angaben des Klägers zu sprechen, weil die Krankengeschichte einen Eisenbahnunfall im Jahre 1944 und einen Stumpfabszeß im Herbst 1944 erwähne. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, daß die Krankengeschichte auf den Angaben des Klägers beruhe, der in der SBZ bei der einmal gegebenen Darstellung über die Ursachen seiner Verletzung bleiben mußte. Der Kläger habe nämlich gegenüber Behörden und Amtsstellen in der SBZ stets angegeben, es habe sich um einen Eisenbahnunfall gehandelt. Dieses Verhalten, das keineswegs zu billigen sei, spreche jedoch nicht gegen die Glaubwürdigkeit der Schilderung des Klägers über die Unfallursache und die der Zeugen. In der SBZ seien die sogenannten Zivilkriegsbeschädigten nicht anspruchsberechtigt. Um zu einer Leistung für die erlittene Verletzung zu kommen, sei der Kläger daher auf die Idee gekommen, die Verwundung als Folge eines Schadens durch Eisenbahnunfall hinzustellen.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 2. Mai 1968 zugestellt, der dagegen am 27. Mai 1968 Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 14. Juni 1968, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 21. Juni 1968, begründet hat.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung der Urteile des LSG und des SG die Klage abzuweisen.

Der Beklagte leitet die Statthaftigkeit der Revision aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) her und rügt in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung des § 128 SGG. In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, trägt er dazu vor, verfahrensrechtlich fehlerhaft habe das LSG die Zeugenaussage des Bruders des Klägers aus einem früheren Verfahren als Zeugenaussage gewürdigt, obwohl dieser Zeuge im Berufungsverfahren das Zeugnis verweigert habe. Der Zeuge habe auch keine Zustimmung zur Verwertung seiner Aussagen vom 5. Juli 1963 und 29. April 1964, die er im sozialgerichtlichen Verfahren gemacht habe, für die Berufungsverhandlung gegeben; demzufolge habe es sich im Berufungsverfahren nicht um eine Zeugenaussage, sondern um die Verwertung und Würdigung eines Urkundenbeweises gehandelt. Weiterhin setze die Würdigung einer Aussage aus einem anderen Verfahren als Zeugenaussage voraus, daß die Parteien einer Verwertung als Zeugenaussage zugestimmt hätten. Der Zeuge habe auch von einem Bruder K gesprochen während der Kläger mit Vornamen A heiße. Im Hinblick auf die Ungenauigkeiten und die Zeugnisverweigerung hätte das Zeugnis des Bruders des Klägers als unglaubwürdig gewertet werden müssen. Das Urteil des LSG enthalte auch einen Verstoß gegen die Denkgesetze. Die Anamnese in der Krankengeschichte Güstrow aus dem Jahre 1948 beruhe weitgehend auf den eigenen Angaben des Klägers. Erst Jahre später wolle der Kläger auf den Gedanken gekommen sein, einen Reichsbahnunfall zu fingieren, um auf diesem Wege zu einer Entschädigung zu kommen. Mit diesen Ausführungen könne der Kläger zwar seine Anträge bei der Reichsbahn und bei der Bundesbahn aus dem Jahre 1956 erklären; diese Behauptungen träfen aber keinesfalls für das Jahr 1948 zu. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger nach seinen eigenen Angaben weder etwas von der Möglichkeit von Kriegsbeschädigtenansprüchen noch von Ansprüchen gegen die Reichsbahn gewußt. Die Begründung, die das LSG für die - nach Auffassung des LSG falschen - Angaben des Klägers zur Anamnese bei den Krankenanstalten G gegeben habe, sei somit unlogisch, da der Kläger im Jahre 1948 noch keine Veranlassung gehabt habe, falsche Angaben zu machen, weil er sich noch nicht mit früheren Angaben in Widerspruch setzen konnte. Der einzig zulässige Schluß sei vielmehr, daß der Kläger 1948 noch die Wahrheit gesagt habe, weil ihm damals noch die Möglichkeit einer Kriegsbeschädigtenrente unbekannt gewesen sei. Die gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthafte Revision müsse zur Klagabweisung führen. Der Kläger habe nicht nachweisen können, daß er eine Schädigung im Sinne des § 1 BVG erlitten hatte. Offenbar habe das LSG den Nachweis des schädigenden Ereignisses gar nicht für erforderlich gehalten, sondern habe auch hier die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses ausreichen lassen; darin liege ein Verstoß gegen § 1 BVG. Die Zeugenaussage der Frau R allein könne diesen Nachweis nicht erbringen, da sie den Kläger erst 1956 kennen gelernt habe. Vor allem lasse sich eine Beeinflussung durch den Kläger im Zeitpunkt der Zeugenaussage nicht ausschließen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Gegenseite aus Schriftsatz vom 22. Mai 1968 als unzulässig zu verwerfen

und

dem Beklagten die dem Kläger in allen Instanzen entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

Der Kläger hat sich auf das Urteil des LSG bezogen.

Der Beklagte hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet. Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht vorliegen, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (vgl. BSG 1, 150). Der Beklagte rügt in seiner Revisionsbegründung in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung des § 128 SGG.

Die erste Rüge des Beklagten, das Berufungsgericht habe die Bekundungen des Bruders des Klägers, der in erster Instanz als Zeuge ausgesagt, aber in zweiter Instanz die Aussage verweigert hat, nicht als Zeugenbeweis, sondern nur als Urkundenbeweis verwerten dürfen, greift allerdings nicht durch. Der Beklagte hat offenbar insoweit das Urteil des erkennenden Senats vom 8. November 1965 (10 RV 498/65, in Breithaupt 1966 S. 267) mißverstanden bzw. nicht beachtet, daß diesem Urteil ein anderer Sachverhalt zugrunde gelegen hat. Der Senat hat in diesem Urteil ausgesprochen, daß gegen die Verwertung und Würdigung von protokollierten Zeugenaussagen aus einem anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises grundsätzlich keine Bedenken bestehen (vgl. die dort zitierte Rechtsprechung; siehe auch BGHZ 7, 116 = Lindenmaier/Möhring, ZPO, § 373 Nr. 2). Der damals zu entscheidende Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, daß Zeugen in einem rechtskräftig abgeschlossenen Vorprozeß vernommen worden waren. Diese Zeugen hatten alsdann in einem neuen, anderen Verfahren, und zwar bereits in erster Instanz, ihr Recht auf Zeugnisverweigerung geltend gemacht und waren dabei auch in der zweiten Instanz verblieben. Dagegen ist in dem jetzt zur Entscheidung stehenden Rechtsstreit der Bruder des Klägers in erster Instanz als Zeuge vernommen worden und hat in demselben Verfahren in zweiter Instanz die Aussage als naher Angehöriger (§ 383 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) verweigert. Für diesen Fall vertritt zwar Wieczorek (ZPO § 383 Anm. B II a) die Auffassung, daß diese Aussage überhaupt nicht mehr verwertet werden kann. Wieczorek läßt sich offenbar vorwiegend von einem Vergleich mit §§ 250 Satz 2, 252 der Strafprozeßordnung (StPO) leiten (vgl. über die Einhaltung dieser Vorschriften im Strafverfahren: BGH in JR 1967, 467; JZ 1968, 395; NJW 1966, 742; KG in NJW 1966, 605; Bayer. ObLG in JZ 1965, 771 und NJW 1969, 200). Diese Vorschriften sind jedoch eindeutig auf die anders geregelten Grundsätze der Hauptverhandlung im Strafprozeß (vgl. §§ 226 ff StPO) abgestellt. Eine entsprechende Regelung ist im SGG und der ZPO, die über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist, nicht enthalten; vielmehr stellt sich im zivilprozessualen und entsprechend im sozialgerichtlichen Verfahren die mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz als Fortsetzung der Verhandlung der ersten Instanz dar (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl, § 137 Anm. III 1). Das bedeutet ua für diese Verfahrensarten, daß die Beweisaufnahme der ersten Instanz fortwirkt und eine Wiederholung der Beweisaufnahme in der zweiten Instanz - anders als im Strafverfahren - nicht unbedingt notwendig ist. Die überwiegende Meinung geht deshalb dahin, daß dann, wenn ein Zeuge, der im ersten Rechtszug ausgesagt hat, im Berufungsverfahren aber rechtmäßig die Aussage verweigert, diese Zeugnisverweigerung der Verwertung seiner erstinstanzlichen Aussage nicht entgegensteht (vgl. Stein-Jonas, 18. Aufl., § 383 Anm. I 4; siehe dort aber auch § 286 Anm. III 4 a; Baumbach-Lauterbach, Einf. zu §§ 383 bis 389 ZPO, Anm. 2; OLG Braunschweig in Nieders. Rechtspflege 1960 S. 162; siehe auch Rosenberg, § 119 Anm. III 2 b und BGH in Lindenmaier/Möhring, ZPO, § 398 Nr. 2 und § 355 Nr. 6; BFH in BStBl III 1967, 273). Der erkennende Senat schließt sich dieser überwiegend vertretenen Auffassung an, da sie den Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens (Einheitlichkeit des Gerichts - bzw. Rechtsmittelverfahrens, Fortwirken der Beweisaufnahme aus der ersten Instanz) besser entspricht und eine schnellere Erledigung des zweitinstanzlichen Verfahrens ermöglicht. Das LSG war somit nicht gehindert, die Aussage des Bruders des Klägers trotz seiner Zeugnisverweigerung in der zweiten Instanz als Zeugenaussage zu verwerten, so daß insoweit ein Verfahrensverstoß nicht vorliegt.

Dagegen greift die Rüge der Verletzung des § 128 SGG aus einem anderen Grunde durch, der von dem Beklagten dahin zusammengefaßt ist, daß die Aussage des Bruders des Klägers als unglaubwürdig hätte gewertet werden müssen. Gemäß § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das LSG hat sich bei seiner Entscheidung trotz der vorhandenen und von ihm aufgezeigten Widersprüche maßgeblich auf die Bekundungen des Bruders des Klägers gestützt, des einzigen Zeugen, der möglicherweise aus eigener Kenntnis etwas über den Zeitpunkt, die Ursache und die Vorgänge bei der Verletzung des Klägers im Jahre 1944 aussagen könnte. Das LSG hat jedoch übersehen, daß dieser Zeuge in der zweiten Instanz nicht nur von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, sondern in zwei Schreiben vom 6. März 1968 und 17. März 1968 die Gründe, die für seine Zeugnisverweigerung maßgebend sind, ausführlich dargelegt hat. Diese schriftlichen Erklärungen waren, wie der ganze Inhalt und insbesondere das zweite Schreiben erkennen lassen, von der Zeugnisverweigerung keinesfalls mitumfaßt. Wenn das LSG die Bekundungen des Zeugen aus der ersten Instanz trotz seiner späteren Weigerung verwertet hat - wozu es nach den obigen Ausführungen berechtigt war -, dann mußten auch diese Erklärungen des Zeugen, die dem SG noch nicht vorliegen konnten, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und in die Beweiswürdigung des LSG mit einbezogen werden. Die Verpflichtung des LSG zur Berücksichtigung und Verwertung der schriftlichen Erklärungen des Bruders des Klägers wird besonders deutlich, wenn man unterstellt, daß der Zeuge nicht nur sein Zeugnisverweigerungsrecht geltend gemacht, sondern gleichzeitig seine frühere Aussage eindeutig und ausdrücklich widerrufen hatte. Auch in diesem Fall hätte das LSG den Widerruf berücksichtigen müssen und nicht etwa von der Richtigkeit und "Glaubwürdigkeit" der widerrufenen Aussage ausgehen dürfen. Für die weitere Beurteilung kann jedoch dahinstehen, ob die schriftlichen Erklärungen des Bruders des Klägers einem Widerruf der früheren Zeugenaussage gleichzuerachten sind. Jedenfalls sind sie in ihrem Inhalt ("... weil mein Bruder anscheinend widersprechende Aussagen gemacht hat. ... daß ich heute wirklich nichts Eindeutiges dazu mehr sagen kann .... Es würde nicht zur Klärung des Sachverhalts beitragen, erklärte ich Dinge, von denen ich nach 23. Jahren nicht mehr sicher weiß, durch wen ich sie erfahren habe") so bedeutsam, daß sie die frühere Zeugenaussage nahezu entwerten können und keinesfalls übergangen werden durften. Soweit das LSG davon ausgegangen ist, daß aus der Tatsache der Zeugnisverweigerung "keine nachteiligen Schlüsse für den Kläger gezogen werden können", hat es verkannt, daß nicht die Tatsache der Zeugnisverweigerung zu Ungunsten des Klägers verwertet werden soll, sondern daß der Zeuge im Berufungsverfahren weitere Erklärungen abgegeben hat, die dem SG noch gar nicht vorgelegen haben und die von der zweiten Tatsacheninstanz berücksichtigt werden mußten. Das LSG ist somit von einem unzutreffenden, nicht dem Gesamtergebnis des Verfahrens entsprechenden Sachverhalt ausgegangen und hat damit § 128 SGG verletzt (vgl. BSG in SozR SGG § 128 Nr. 10).

Da diese Rüge einer Verletzung des § 128 SGG durchgreift, brauchte nicht mehr geprüft zu werden, ob nicht auch die weiteren Rügen und insbesondere der sehr nahe liegende Vorwurf des Beklagten zutreffen, daß das Urteil des LSG auch einen Verstoß gegen die Denkgesetze enthält (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122).

Der oben aufgezeigte Verstoß gegen § 128 SGG bedeutet einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; die Revision ist daher statthaft. Sie ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei vollständiger Würdigung des Sachverhalts hinsichtlich der Gesamtbeurteilung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung mußte dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284823

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