Leitsatz (amtlich)
Zum Beginn des Weges von dem Ort der Tätigkeit iS von RVO § 550 S 1, wenn ein Beschäftigter, der nach getaner Arbeit mit dem Motorrad in Richtung auf seine Wohnung fährt, auf einer im Bereich des Unternehmens gelegenen, allgemein zugänglichen, durch amtliche Verkehrszeichen gekennzeichneten Straßenkreuzung verunglückt.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 725 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beklagte legte durch Bescheid vom 30. November 1967 der Klägerin, welche eine Ziegelei betreibt, einen Zuschlag zum Beitrag in Höhe von 983,47 DM auf, weil im Jahre 1966 in ihrem Unternehmen 20 meldepflichtige Arbeitsunfälle sowie ein Arbeitsunfall, welcher eine Entschädigungslast nach sich gezogen habe, vorgekommen seien.
Die Klägerin macht demgegenüber geltend, daß der Unfall ihres Elektrikers Horst K (K.), dem von der Beklagten eine vorläufige Rente bewilligt worden war, kein nach § 548 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigender Arbeitsunfall, sondern ein Wegeunfall im Sinne von § 550 Satz 1 RVO gewesen sei. Dies habe jedoch nach § 725 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVO, wonach Wegeunfälle außer Ansatz blieben, zur Folge, daß nach § 27 Abs. 6 der Satzung der Beklagten ihr kein Beitragszuschlag auferlegt werden dürfe, weil der Unterschied zwischen Eigenbelastung und Gewerbszweigbelastung weniger als 20 v. H. ausmache.
K. hatte am Nachmittag des 24. Juli 1965, einem Samstag, im Betrieb der Klägerin Vorbereitungen für eine am nächsten Tag von ihm auszuführende Reparaturarbeit (Sonntagsarbeit) getroffen. Gegen 16.00 Uhr verließ er das Werkstattgebäude, in dem er arbeitete, um nach Hause zu fahren. Er überquerte die 12 m breite, im etwa 56.000 qm umfassenden, nicht eingezäunten und nicht mit Toren versehenen Fabrikgelände gelegene sogenannte Ladestraße, welche vornehmlich von den Kunden und Lieferanten der Klägerin benutzt wird. Er bestieg sein auf dieser Straße abgestelltes Motorrad und befuhr diese in Richtung auf seinen Wohnort. Nach 25 m wurde er auf einer noch im Betriebsgelände befindlichen, mit amtlichen Verkehrszeichen beschilderten Straßenkreuzung von einem Pkw-Fahrer, der im Betriebsgelände wohnte, aber nicht bei der Klägerin beschäftigt und auf einer 6 m breiten Straße an die Kreuzung herangefahren war, angefahren und verletzt. Die Beklagte übersandte der Klägerin einen "Wegeunfall-Fragebogen". Durch Bescheid vom 23. Mai 1966 gewährte sie K. wegen der Folgen des "Arbeitsunfalls" eine vorläufige Rente von 30 v. H. der Vollrente; diese setzte sie später auf 20 v. H. herab und stelle sie mit Ablauf des Monats Mai 1967 ein.
Die Beklagte wies durch Bescheid vom 28. März 1968 den Widerspruch der Klägerin zurück, weil sich der Unfall K. s auf dem Betriebsgelände ereignet habe und somit kein Wegeunfall vorliege.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Gießen durch Urteil vom 22. April 1969 unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides den Bescheid vom 30. November 1967 dahin geändert, daß der darin aufgeführte Beitragszuschlag in Höhe von 983,47 DM entfällt. Es ist der Auffassung, daß K. sich im Zeitpunkt des Unfalls bereits auf dem Heimweg befunden habe, so daß Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) nach § 550 Satz 1 RVO gegeben gewesen sei.
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 28. Januar 1970 die Entscheidung des Erstgerichts dahin geändert, daß ein Beitragszuschlag für den Unfall des Versicherten K. entfällt; im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Entgegen der Ansicht der Beklagten sei für den hier zu entscheidenden Beitragsstreit nicht maßgeblich, daß die Beklagte im Bescheid vom 23. Mai 1966 gegenüber dem Verletzten einen Arbeitsunfall als vorliegend angenommen habe. Dieser Bescheid äußere gegenüber der Klägerin, der er nicht zugestellt worden sei, keine Rechtswirkungen. Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Rechtsgrund die Klägerin in der Lage gewesen sei, diesen Rentenbescheid zu verhindern und daher, wie die Beklagte meine, daran gebunden sei. Bei räumlich ausgedehnten Betrieben wie dem Unternehmen der Klägerin sei als "Ort der Tätigkeit" des Verletzten im Sinne von § 550 Satz 1 RVO lediglich der Teil des Betriebs anzusehen, mit dem der Verletzte durch die ihm zugewiesene Arbeit in Berührung komme; bei einem Arbeiter mit festem Arbeitsplatz sei dies das Gebäude, in welchem sich sein Arbeitsplatz befinde. K. habe, als er verunglückt sei, das Gebäude, in dem er arbeite, schon verlassen gehabt und sich bereits auf der Fahrt nach Hause befunden. Da K. somit einen Wegeunfall erlitten habe, entfalle ein Beitragszuschlag für den Unfall dieses Versicherten. Lediglich in diesem Sinn sei das Urteil des Erstgerichts zu ändern gewesen; es bestehe die - allerdings entfernte - Möglichkeit, daß auch auf Grund der zwischen den Beteiligten unstreitigen 20 meldepflichtigen Arbeitsunfälle ein, wenn auch geringer, Beitragszuschlag zu Recht bestehe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
In der Sache ergebe sich aus der unterschiedlichen Fassung der Urteilsformeln der Vorinstanzen kein Unterschied, weil ein Beitragszuschlag sich nicht errechne, wenn die Entschädigungslast für den Unfall des Verletzten K. nicht berücksichtigt werden dürfe. K. sei jedoch im Zeitpunkt seines Unfalls noch nach § 548 Abs. 1 RVO geschützt gewesen. Der UV-Schutz nach dieser Vorschrift umfasse den gesamten Bereich eines Unternehmens, somit auch die Tätigkeiten eines Beschäftigten, welche sich nach Beendigung seiner eigentlichen Arbeitstätigkeit auf dem Betriebsgelände abspielten. K. sei indessen verunglückt, als er sich auf dem Werksgelände befunden habe. Deshalb sei ihm zu Recht nach § 548 Abs. 1 RVO Entschädigung wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls gewährt worden. Da diese Entscheidung gegenüber dem Verletzten und dem Unternehmen nur einheitlich ergehen könne, hätte die Klägerin wegen § 725 Abs. 2 RVO darauf hinwirken müssen, daß die Entschädigung an K. wegen eines Wegeunfalls gewährt werde.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt dem Sinne nach,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet.
Zu Unrecht sieht die Revision die Voraussetzungen für die Auferlegung eines Beitragszuschlags nach § 725 Abs. 2 RVO schon aus dem Grund als gegeben an, weil der Verletzte K. durch Bescheid vom 23. Mai 1966 Entschädigungsleistungen wegen eines "Arbeitsunfalls" erhalten habe. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, wirkt dieser Bescheid - unabhängig vom Umfang seiner Bindungswirkung (§ 77 SGG) - zwischen der Beklagten und dem Verletzten, nicht jedoch ohne weiteres auch gegenüber einem Dritten, selbst wenn er - wie die Klägerin - als Unternehmer und Arbeitgeber des Verletzten möglicherweise ein faktisches Interesse hat, daß dem Verletzten eine Unfallentschädigung bewilligt wird. § 639 RVO ermöglicht diesem Personenkreis nur unter den in dieser Vorschrift aufgeführten - hier nicht gegebenen - Voraussetzungen ein Anfechtungsrecht. Die nach § 725 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVO für die Auferlegung eines Beitragszuschlags maßgebliche Frage, ob es sich um einen Wegeunfall (§ 550 RVO) handelt, ist sonach unabhängig davon zu prüfen und zu entscheiden, ob der UV-Träger gegenüber dem Verletzten den UV-Schutz auf Grund des § 548, des § 549, des § 550 RVO oder einer sonstigen Anspruchsnorm bejaht hat.
Nach Lage des vorliegenden Falles ist der Verletzte K. bei dem Verkehrsunfall, den er am 24. Juli 1965 erlitten hat, nach § 550 Satz 1 RVO geschützt gewesen; er hat sich damals bereits auf dem Weg von dem Ort seiner nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO versicherten Tätigkeit befunden.
Die Grenzziehung zwischen dem in § 550 Satz 1 RVO verwendeten Begriff des Orts der Tätigkeit und dem Beginn des Weges von diesem Ort oder dem Ende des Weges zu diesem Ort kann in manchen Fällen schwierig sein (vgl. SozR Nr. 6 zu § 550 RVO). Für den Verletzten ist diese Unterscheidung im Regelfall ohne praktische Bedeutung; hinsichtlich der ihm gewährten Leistungen besteht kein Unterschied, ob vom Versicherungsträger als Leistungsgrundlage etwa § 548 oder § 550 RVO als vorliegend angenommen wird. Für die unterschiedliche Rechtslage, welche § 725 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVO für die Auferlegung eines Beitragszuschlags daran knüpft, ob es sich um einen Wegeunfall (§ 550 RVO) handelt, kann indessen nicht stets allein der Gesichtspunkt ausschlaggebend sein, ob der Beschäftigte auf dem Werksgelände verunglückt ist. K. hatte damals seine nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO geschützte Tätigkeit eines Elektrikers bereits abgeschlossen. Er war schon mit seinem Motorrad unterwegs nach Hause. Die Straße, auf der er verunglückt ist, befindet sich zwar im Bereich des Unternehmens, in dem er beschäftigt ist, sie ist aber mangels einer Umzäunung des Werksgeländes und angesichts des Fehlens eines Einfahrtstors auch dritten Personen, welche mit dem Unternehmen nichts zu tun haben, zugänglich; die in ihr angelegte Kreuzung ist durch amtliche Verkehrszeichen gekennzeichnet. Unter diesen besonderen Umständen sind im Hinblick darauf, daß K. diese Straße zu dem Zweck befahren hat, um nach beendeter Arbeit nach Hause zu gelangen, die Voraussetzungen des § 550 Satz 1 und nicht die des § 548 Abs. 1 RVO als gegeben anzusehen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob - wie das Berufungsgericht erwogen hat - auch rechtserheblich sein könnte, ob K. bei dem Unfall einer vom Unternehmen ausgehenden Gefahr erlegen ist und das Unternehmen die Möglichkeit hatte, Unfälle dieser Art zu verhindern.
Die Revision der Beklagten war somit als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen