Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustellung. Zustellungsmängel. Prozeßurteil. Sachurteil
Orientierungssatz
1. Vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen waren Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes ungesetzlich, auch dann, wenn es sich um polnisch besetztes, früher deutsches Gebiet handelte (vgl BSG 1973-01-31 9 RV 706/71 = SozR Nr 1 zu § 14 VwZG).
2. Da vor der Errichtung der Deutschen Botschaft in Warschau am 14. September 1972 eine Zustellung gemäß § 14 Abs 1 VwZG in Polen unausführbar war, konnte sie nur im Wege der öffentlichen Zustellung erfolgen.
3. Entscheidet das Gericht durch Prozeßurteil, statt eine sachliche Entscheidung zu treffen, so leidet das Verfahren unter einem bestehenden Mangel.
Normenkette
VwZG § 14 Abs. 1, § 4
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.04.1972) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. April 1972 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der in Polen wohnhafte Kläger beantragte im Juli 1969 Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) (Teilversorgung). Die Versorgungsverwaltung lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15. April 1970 mangels einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 20. August 1971 wurde am 26. August 1971 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 30. August 1971 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 21. Januar 1972, eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 26. Januar 1972, legte der Kläger gegen dieses Urteil Berufung ein und führte u. a. aus, er habe sich in Polen beim Innenministerium wiederholt bemüht, seine Angelegenheit fristgemäß persönlich vor der Geschäftsstelle des SG Münster vortragen zu können, jedoch sei eine Reise in die Bundesrepublik in der Zwischenzeit abgelehnt worden.
Die Berufung des Klägers verwarf das LSG als unzulässig (Urteil vom 20.4.1972). Es führte aus, die Frist zur Einlegung der Berufung betrage für einen Kläger, der außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und von Westberlin wohne, drei Monate. Die Berufungsfrist sei am 30. November 1971 abgelaufen. Die erst am 26. Januar 1972 eingegangene Berufung sei verspätet. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht ersichtlich. Dieses Urteil wurde am 15. Mai 1972 mit eingeschriebenem Brief zur Post gegeben und dem Kläger laut Rückschein am 18. Mai 1972 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 28. Juni 1972, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 12. Juli 1972, erhob der Kläger hiergegen Einwendungen und bat unter Hinweis auf seine Notlage um Beiordnung eines Anwalts. Nach Bewilligung des Armenrechts (Beschluß vom 22.12.1972) begehrte der dem Kläger beigeordnete Prozeßbevollmächtigte am 9. Februar 1973 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte Revision ein mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er führte aus: Als der Kläger beim LSG Berufung eingelegt habe, sei die Berufungsfrist noch nicht gelaufen; denn die Zustellung des Urteils des SG durch Einschreiben mit Rücksein sei nicht rechtens gewesen. Der Wohnsitz des Klägers liege im Sinne von § 14 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) im Ausland. Da eine Zustellung des Urteils nach Polen damals nach § 14 Abs. 1 VwZG nicht ausführbar gewesen sei, hätte nach § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er vertritt die Ansicht, die Zustellung des Urteils des SG sei gemäß § 63 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - i. V. m. § 4 VwZG selbst dann zulässig gewesen, wenn es sich um eine Zustellung im Ausland gehandelt habe. Denn nach § 2 Abs. 2 VwZG hätten die Verwaltung und das Gericht die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. Hieran habe sich durch § 27 Abs. 3 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung in der Fassung vom 28. Dezember 1966 (VerwVG), der nur noch auf die §§ 2 bis 15 VwZG verweise, für die Zustellung im Ausland nichts geändert. § 28 VerwVG regele die Zustellung im Ausland unabhängig von § 14 VwZG. Der Unterschied zwischen einer Zustellung nach § 63 dos Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 27 VerwVG sei nicht wesentlich. Nur wenn eine Zustellung nach § 4 VwZG unzulässig gewesen wäre, hätte nach § 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG zugestellt werden müssen. Der Zweck einer Bekanntgabe durch Zustellung bestehe darin, dem Empfänger Gelegenheit zur Kenntnis vom Inhalt des Schriftstücks zu geben, dieser Zweck werde aber durch die öffentliche Zustellung in den wenigsten Fällen verwirklicht. Im übrigen habe der Kläger das Urteil am 30. August 1971 erhalten, so daß von einer nicht ausführbaren Zustellung keine Rede sein könne.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; denn die Zustellung des Urteils des LSG mit eingeschriebenem Brief gegen Rückschein ist - ebenso wie dies im Folgenden für die Zustellung des Urteils des SG ausgeführt wird - nicht rechtswirksam (§ 63 Abs. 2 SGG) und hat die Revisionsfrist nicht in Lauf gesetzt (§ 9 Abs. 2 VwZG). Einer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers bedarf es daher nicht. Die Revision erweist sich auch als statthaft i. S. von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da der Kläger mit Recht rügt, das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern eine Sachentscheidung treffen müssen (BSG 1, 283, 287; SozR Nr. 21 zu § 162 SGG).
Wie der erkennende Senat in dem Urteil vom 31. Januar 1973 (SozR Nr. 1 zu § 14 VwZG) bereits entschieden hat, waren auch vor der Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Polen Zustellungen in dieses Gebiet durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes (§ 4 VwZG) ungesetzlich, auch dann, wenn es sich um polnisch besetztes früher deutsches Gebiet handelte. Das in § 2 Abs. 2 VwZG vorgesehene Wahlrecht, auf das der Beklagte sich beruft, wird durch die zwingende Vorschrift des § 14 VwZG eingeschränkt. Da vor der Errichtung der Deutschen Botschaft in Warschau am 14. September 1972 (BAnz Nr. 176 vom 19.9.1972 S. 5) eine Zustellung gemäß § 14 Abs. 1 VwZG in Polen unausführbar war, konnte sie nur im Wege der öffentlichen Zustellung (§ 15 Abs. 1 Buchst. c VwZG) erfolgen, um zu einem eindeutig bestimmbaren, für den Lauf der Rechtsmittelfrist maßgebenden Zustellungsdatum zu führen. Daneben sollte dem Empfänger der Inhalt des zugestellten Schriftstücks nach § 19 Abs. 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum VwZG idF vom 13.12.1966 (Beil. zum BAnz Nr. 240 vom 23. Dezember 1966) mitgeteilt werden, wenn seine Anschrift bekannt war und Postverbindung bestand; im Rahmen des Möglichen konnte also schon bisher dafür Sorge getragen werden, daß der Empfänger auch bei der gesetzlich vorgeschriebenen öffentlichen Zustellung von dem an ihn gerichteten Schriftstück tatsächlich Kenntnis erhielt. Inzwischen ist die bisher nur in den Verwaltungsvorschriften vorgesehene Mitteilung als "Mußvorschrift" durch § 15 Abs. 5 Satz 2 VwZG in das Gesetz eingefügt worden (vgl. Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b VwZÄndG vom 19. Mai 1972, BGBl I 789). Die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung ist aber allein von der Beachtung der Absätze 2 und 3 des § 15 abhängig. Daß der Kläger das Urteil des SG am 30. August 1971 tatsächlich erhalten hat, ist im vorliegenden Falle ohne Bedeutung; § 9 Abs. 1 VwZG, der dies unter den dort genannten Voraussetzungen genügen läßt, ist nach Abs. 2 gerade nicht anzuwenden, wenn mit der Zustellung eine der in Abs. 2 genannten Fristen beginnt.
Da es im vorliegenden Fall allein auf die Wirksamkeit der Zustellung eines Urteils ankommt, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beklagten, wie bei der Zustellung eines Bescheides ins Ausland (§§ 27, 28 VerwVG) zu verfahren und ob möglicherweise zwischen Zustellungen im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren zu unterscheiden ist.
Die fehlerhafte Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils hat die Berufungsfrist damit ebensowenig in Lauf setzen können, wie dies durch die in gleicher Weise erfolgte Zustellung des LSG-Urteils hinsichtlich der Revisionsfrist der Fall ist.
Da die Berufung des Klägers beim LSG nicht verspätet eingegangen ist, hätte das LSG über sie sachlich entscheiden müssen. Das Verfahren des LSG, das durch Prozeßurteil entschieden hat, leidet damit an einem wesentlichen Mangel. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei Vermeidung des Verfahrensmangels zu einem für den Kläger günstigen Urteil gelangt wäre; sein Urteil war deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), damit es die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachholen kann. Ihm bleibt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen