Leitsatz (redaktionell)
BVG § 30 Abs 4 - Einkommensverlust - Vergleichsgrundlage:
Wenn ein Beschädigter seinen Beruf aus schädigungsunabhängigen Gründen aufgegeben und eine andere Tätigkeit aufgenommen hat, für die sich die Schädigungsfolgen nicht auswirken, so würde diese neue Tätigkeit zwar das Einkommen in der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, welcher der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen angehört hätte (Vergleichseinkommen) bestimmen. Da sie sich aber mit der "gegenwärtigen" Tätigkeit in der Zeit, für die Berufsschadensausgleich begehrt wird, deckt, hat ein schädigungsbedingter "Einkommensverlust" nicht eintreten können.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 4
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. Dezember 1971 wird abgeändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 23. Januar 1970 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1915 geborene Kläger machte nach dem Besuch der Volksschule eine Gärtnerlehre durch, die er 1933 mit der Gesellenprüfung abschloß. Anschließend war er bis zur Dienstverpflichtung im Jahre 1940 überwiegend als Gärtner tätig. 1935 und 1937 wurden bei ihm Radikaloperationen am linken Ohr durchgeführt. Anfang 1944 wurde der Kläger bei Ausübung militärähnlichen Dienstes durch Bombensplitter am linken Unterarm, an der rechten Halsseite, am rechten Schädelbein und hinter dem rechten Ohr verletzt. Er bezieht vor allem wegen "hochgradiger Schwerhörigkeit rechts" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. Nach dem Kriege war der Kläger bis zur vorübergehenden Invalidisierung im Jahre 1949 (mit Bezug einer Knappschaftsrente von der Hannoverschen Knappschaft wegen überwiegend nicht schädigungsbedingter Gesundheitsstörungen) als Gärtner beschäftigt. Mit der Begründung, er sei in Anbetracht einer Besserung seines Gesundheitszustandes befähigt, als landwirtschaftlicher Arbeiter, Gärtner oder Wächter tätig zu sein, wurde ihm die Knappschaftsrente ab 1. September 1956 entzogen. Der Kläger hatte bereits im August 1955 eine Arbeit bei den Blaupunktwerken in Hildesheim im 2-Schichten-Betrieb als Stanzer aufgenommen. Nach mehrmaligen innerbetrieblichen Umstellungen wegen schädigungsunabhängiger Krankheiten wurde er Werkstatthelfer und in die Lohngruppe 6 eingestuft.
Im September 1964 beantragte der Kläger Berufsschadensausgleich. Mit Bescheid vom 3. Juli 1967 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) den Antrag ab, weil der Kläger den erlernten Beruf als Gärtner trotz der Schädigung noch ausüben könne. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts (SG) und der angefochtenen Bescheide dem Kläger ab 1. Januar 1967 Berufsschadensausgleich, unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe 3 der Arbeiter in der elektrotechnischen Industrie, zu zahlen und wies im übrigen die Berufung zurück. Es führte aus: Der mit dem Hauptantrag unter Zugrundelegung des Durchschnittseinkommens eines Vollgesellen aller erfaßten Handwerkszweige (d. h. als Gärtner) begehrte Berufsschadensausgleich stehe dem Kläger nicht zu, weil er nach Ansicht der Mehrzahl der ärztlichen Gutachten wahrscheinlich auch ohne Schädigungsfolgen 1949 den Beruf eines Gärtners aufgegeben hätte und Arbeiter bei den Blaupunktwerken geworden wäre. Dagegen habe der Kläger Anspruch auf Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe 3 der Arbeiter in der elektrotechnischen Industrie, zwar nicht für die Zeit von 1964 bis Ende 1966, weil die Berechnung keinen Einkommensverlust von mindestens 75,- DM ergebe, wohl aber ab 1. Januar 1967. Der Kläger hätte ab 1955 auch ohne Kriegsbeschädigung die gleichen Arbeitsplätze innegehabt, die er mit seiner Kriegsbeschädigung tatsächlich gehabt habe. Der Anspruch auf Schadensausgleich setze auch keinen Berufswechsel voraus, vielmehr genüge es, wenn die Schädigung einen wirtschaftlichen Schaden verursacht habe. Dieser schädigungsbedingte Einkommensverlust bestimme sich jedoch nicht nach individuellen Einkommensverhältnissen, sondern ebenso wie die Höhe des Berufsschadensausgleichs nach der generalisierenden Betrachtungsweise des § 30 Abs. 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als der Legaldefinition des "Einkommensverlustes". Danach sei für die Feststellung des Einkommensverlustes lediglich das tatsächlich erzielte Einkommen mit den Durchschnittssätzen derjenigen Berufsgruppe zu vergleichen, der der Beschädigte ohne Kriegsbeschädigung zuzuordnen wäre. Es genüge, wenn dieser Durchschnittssatz das tatsächliche Einkommen übersteige, und sei nicht erforderlich, daß auch individuell wahrscheinlich kein höheres Einkommen erzielt worden wäre, als der Beschädigte tatsächlich erzielt habe. Diese Auffassung ergebe sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Juli 1971 - 9 RV 519/68 -. Nach dem Gesetz müsse nur die Berufsgruppenzugehörigkeit, nicht aber die Erzielung des Durchschnittseinkommens wahrscheinlich sein. Der Verzicht auf eine individuelle Betrachtung wirke sich hinsichtlich der Kausalitätsprüfung wie eine gesetzliche Vermutung aus, daß die Durchschnittssätze erreicht worden wären, solange nicht zu voller Überzeugung das Gegenteil nachgewiesen werde. Wenn dem Beschädigten der Nachweis eines über dem Durchschnitt liegenden Verlustes genommen werde, dann sei auch der Nachweis auszuschließen, daß er ohne Schädigung den Durchschnitt nicht erreicht hätte.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte die Verletzung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG durch das LSG. Er ergänzt seine schriftliche Revisionsbegründung in der mündlichen Verhandlung dahin, ein Berufsschadensausgleich komme hier deshalb nicht in Betracht, weil nach den bindenden Feststellungen des LSG der Kläger den Beruf als Gärtner aus nicht schädigungsbedingten gesundheitlichen Gründen aufgegeben habe und auch in den neuen Tätigkeiten (als Stanzer, Werkstatthelfer) durch die schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen nicht beeinträchtigt werde; auf § 30 Abs. 4 BVG komme es deshalb hier nicht an.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern, soweit es zur Zahlung von Berufsschadensausgleich verurteilt habe und die Berufung in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er stimmt dem angefochtenen Urteil zu.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie erweist sich auch als sachlich begründet.
Streitig ist nur noch, ob dem Kläger ab 1. Januar 1967 Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens der Leistungsgruppe 3 der Arbeiter in der elektrotechnischen Industrie zusteht (§ 3 Abs. 1 Buchst. a DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG). Dies hat das LSG zu Unrecht bejaht.
Nach § 30 Abs. 3 BVG in der hier maßgebenden Fassung des 3. Neuordnungsgesetzes (NOG) vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750) erhalten Schwerbeschädigte, "deren Einkommen durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust)", einen der Höhe nach in diesem Absatz bestimmten Berufsschadensausgleich. Die Minderung des Erwerbseinkommens muß in der Zeit, für die der Berufsschadensausgleich begehrt wird, bestehen (BSG 32, 1 ff), und sie ist nach § 30 Abs. 4 BVG zu berechnen durch einen Vergleich zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Ist in dem hiernach maßgebenden, durch die Berufs- oder Wirtschaftsgruppe mitbestimmten Beruf eine Einkommensminderung nicht oder jedenfalls nicht wesentlich "durch die Schädigungsfolgen" verursacht, so kann sie nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck der Absätze 3 und 4 des § 30 BVG, die die wirtschaftlichen Folgen der Schädigung im Sinne von § 1 Abs. 1 BVG mit "ausgleichen" sollen, nicht zu einem Berufsschadensausgleich führen.
Im vorliegenden Falle hat das LSG für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß der Kläger den Beruf eines Gärtners, den er erlernt und trotz der anerkannten Schädigungsfolgen bis 1949 ausgeübt hat, aus schädigungsunabhängigen Gründen, nämlich wegen einer Lungen-Tbc und einer 1949 durchgemachten Rippenfellentzündung, die im Zusammenhang mit der Lungen-Tbc gesehen werden müsse, aufgegeben habe, diese Leiden hätten einer weiteren Betätigung im Freien wegen der damit verbundenen, für einen Tbc-Kranken schädlichen Sonneneinstrahlung entgegengestanden. Es hat weiter festgestellt, diese schädigungsunabhängigen Leiden seien auch ursächlich dafür gewesen, daß der Kläger, nachdem sich diese Leiden gebessert hatten (und deshalb dann auch 1956 die wegen dieser Leiden gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente entzogen wurde) schon 1955 eine Arbeit bei den Blaupunkt-Werken in Hildesheim als Stanzer aufgenommen und später andere (offenbar geringer bezahlte) Beschäftigungen in diesem Betrieb ausgeübt habe. Die Beschäftigung als Stanzer und die späteren Beschäftigungen würden also zwar - wovon auch das LSG ausgegangen ist - nach § 30 Abs. 4 BVG das Einkommen in der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe bestimmen, der der Kläger ohne die Schädigung u. a. "nach seinen Lebensverhältnissen", zu denen der schädigungsunabhängige Berufswechsel vom Gärtner zu anderen Beschäftigungen gehört, angehört hätte, jedoch nur dann, wenn der Berufswechsel schädigungsbedingt wäre. Die hiernach maßgebende Berufstätigkeit deckt sich aber im vorliegenden Falle mit der "gegenwärtigen oder früheren Tätigkeit" des Klägers - Arbeiter in der elektrotechnischen Industrie - in der Zeit, für die er den Berufsschadensausgleich begehrt, ohne daß die Schädigungsfolgen für sie bedeutsam wären. Ein schädigungsbedingter "Einkommensverlust" im Sinne von § 30 Abs. 3 BVG kann deshalb hier nicht eintreten. Damit entfallen die Voraussetzungen für eine Berechnung nach § 30 Abs. 4 BVG und die Erwägungen, die das LSG insoweit angestellt hat. Auf die vom LSG ausführlich erörterte Frage, ob ein Einkommensverlust "nach individuellen Einkommensverhältnissen" oder "nach der generalisierenden Betrachtungsweise des § 30 Abs. 4 BVG als der Legaldefinition des Einkommensverlustes" zu ermitteln sei, könnte es - was auch das LSG selbst meint - nur ankommen, wenn überhaupt ein "schädigungsbedingter" Einkommensverlust festzustellen wäre. Das LSG hat verkannt, daß die von ihm erwähnten Urteile des BSG vom 23. Juli 1970 - 8 RV 59/70 - (SozR Nr. 43 zu § 30 BVG), vom 6. Juli 1971 - 9 RV 514/68 - (BSG 33, 60), vom 16. Juli 1971 - 10 RV 594/69 und 10 RV 363/70 - und vom 21. September 1971 - 8 RV 475/70 - (vgl. ferner das Urteil des erkennenden Senats vom 6. Juli 1972 (BSG 34, 216) und des 10. Senats vom 6. Februar 1973 - 10 RV 42/72 -) sich nur auf die Ermittlung des schädigungsbedingten Einkommensverlustes beziehen.
Da dem Kläger durch die anerkannten Schädigungsfolgen kein Einkommensverlust entstanden ist, hat das LSG den Beklagten zu Unrecht zur Gewährung von Berufsschadensausgleich verpflichtet. Auf die sonach begründete Revision des Beklagten mußte deshalb das angefochtene Urteil abgeändert und die Berufung des Klägers gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG in vollem Umfang zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; sie betrifft auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Fundstellen