Leitsatz (redaktionell)
Das alleinige oder überwiegende Verschulden der wiederverheirateten Witwe an der Scheidung der Ehe ist nur dann beachtlich, wenn das Scheidungsurteil im Tenor oder in den Gründen einen diesbezüglichen Schuldausspruch enthält.
Normenkette
AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Oktober 1963 und des Sozialgerichts Detmold vom 21. Mai 1963 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 1962 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen Bescheid über den Anspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente zu erteilen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin, geboren 2. April 1894, war in erster Ehe mit G G (G.) verheiratet; G. war zuletzt in der Angestelltenversicherung pflichtversichert, er starb am 6. Dezember 1944. Die Klägerin bezog von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen vom 1. Januar 1945 an Witwenrente aus der Versicherung des G. Im Jahre 1947 heiratete die Klägerin J F F (F.), geboren 1872. Seit August 1953 lebte die Klägerin von ihrem zweiten Ehemann F. getrennt, 1957 erhob sie erstmals Scheidungsklage gemäß § 48 des Ehegesetzes (EheG), F. widersprach der Scheidung; das Landgericht (LG) B wies die Klage durch Urteil vom 6. März 1958 ab und führte in den Gründen aus, der Widerspruch des F. sei zulässig und auch beachtlich, die Klägerin trage die überwiegende Schuld an der Zerrüttung der Ehe, sie habe F. verlassen und keinen Grund zum Getrenntleben gehabt; die Berufung gegen dieses Urteil nahm die Klägerin zurück. Im Jahre 1961 erhob die Klägerin erneut Scheidungsklage aus § 48 EheG und machte dabei geltend, von der Scheidung hänge die Gewährung der Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann G. ab, auf diese Rente sei sie dringend angewiesen; F. erhob wiederum Widerspruch und beantragte Klagabweisung. Durch Urteil des LG Bielefeld vom 23. November 1961, rechtskräftig seit 20. Januar 1962, wurde die Ehe der Klägerin mit F. nach § 48 EheG geschieden, das Urteil enthält im Tenor keinen Schuldausspruch; in den Gründen führte das LG aus, nach den Feststellungen in dem Urteil des LG vom 6. März 1958 sei die Klägerin zumindest überwiegend an der Zerrüttung der Ehe schuld, an dieser Feststellung werde festgehalten; der Widerspruch des F. gegen das Scheidungsbegehren sei daher zulässig, dieser Widerspruch sei jedoch - wie das LG näher darlegt - unbeachtlich, u. a. auch deshalb, weil F. sich vorhalten lassen müsse, daß die Klägerin, falls die Ehe nicht geschieden werde, gezwungen sei, ihren eigenen Sohn auf Unterhalt zu verklagen, während sie im Falle der Scheidung der Ehe eine Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann G. wiedererlangen könne.
Am 13. Februar 1962 beantragte die Klägerin Witwenrente aus der Versicherung des G., diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Oktober 1962 ab, da die Klägerin nach dem Scheidungsurteil vom 23. November 1961 überwiegend schuld an der Scheidung sei (§ 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Detmold mit Urteil vom 21. Mai 1963 ab. Die Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 23. Oktober 1963 zurück: Nach § 68 Abs. 2 AVG sei das Wiederaufleben des Witwenrentenanspruchs nicht nur ausgeschlossen, wenn das Scheidungsurteil im Tenor einen entsprechenden Schuldausspruch enthalte, sondern auch dann, wenn die Antragstellerin materiell-rechtlich allein oder überwiegend die Schuld an der Auflösung der Ehe habe und sich dies aus dem im Scheidungsurteil insgesamt festgestellten Sachverhalt ergebe. Auch bei der Scheidung nach § 48 EheG sei unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 2 EheG auf Antrag des Beklagten auszusprechen, daß den Kläger ein Verschulden treffe. F. habe diesen Antrag im (zweiten) Scheidungsverfahren zwar nicht gestellt, er habe aber Widerspruch gegen die Scheidung erhoben und geltend gemacht, die Klägerin habe ihn ohne Grund verlassen, er habe auch Klagabweisung beantragt; hierin sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Antrag auf Schuldausspruch nach § 53 Abs. 2 EheG enthalten. Das LG habe festgestellt, die Klägerin sei durch ihren Fortgang von F. mindestens überwiegend an der Zerrüttung der Ehe schuld, hieraus ergebe sich - wie das LSG meinte - eine Eheverfehlung der Klägerin im Sinne von § 43 EheG (böswilliges Verlassen), diese Eheverfehlung habe F. sinngemäß geltend gemacht. Obwohl das LG § 53 Abs. 2 EheG nicht ausdrücklich angewandt habe, bedeute doch im vorliegenden Fall die Feststellung der überwiegenden Schuld an der Zerrüttung der Ehe in dem Urteil des LG vom 23. November 1961 (wie schon in dem Urteil vom 6. März 1958) gleichzeitig die Feststellung der überwiegenden Schuld der Klägerin an der Scheidung. Das Urteil wurde der Klägerin am 23. November 1963 zugestellt.
Am 18. Dezember 1963 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,
unter Abänderung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23. Oktober 1963 und des Urteils des SG Detmold vom 21. Mai 1963 sowie unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 8. Oktober 1962 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin einen Bescheid über die Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung des Gustav Grau zu erteilen.
Am 17. Januar 1964 begründete die Klägerin die Revision: Das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das LSG habe die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulassen müssen, es habe über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung entschieden; es sei an das Urteil des LG, durch das die Ehe ohne Schuldausspruch geschieden worden sei, gebunden und es habe keine eigenen Feststellungen über die Schuld an der Scheidung treffen dürfen; das LSG habe auch insoweit gegen § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG verstoßen, als es zu Unrecht § 68 Abs. 2 AVG dahin ausgelegt habe, daß es selbst die Schuldfrage entscheiden könne, es habe damit in die Zuständigkeit der Zivilgerichte eingegriffen und dadurch gegen Vorschriften verstoßen, die aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse erlassen seien. Das LSG habe auch gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen; wenn es sich für befugt gehalten habe, die Schuld der Klägerin an der Scheidung festzustellen, habe es noch die von der Klägerin hierzu im Berufungsverfahren benannten Zeugen hören müssen.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist zunächst zu prüfen, ob die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist und die Klägerin einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des LSG mit Erfolg gerügt hat. Entgegen der Meinung der Klägerin ergibt sich die Statthaftigkeit der Revision nicht daraus, daß das LSG zu Unrecht die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen habe. Die Nichtzulassung der Revision durch das LSG ist für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (vgl. BSG 2, 81 ff., 84 mit weiteren Hinweisen; ständige Rechtsprechung des BSG). Wenn das LSG zu Unrecht angenommen haben sollte, der Rechtsstreit beziehe sich nicht auf eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, und wenn es deshalb die Revision zu Unrecht nicht zugelassen hat, so liegt darin nicht, wie die Klägerin meint, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; der zweite Halbsatz dieser Vorschrift, dessen Verletzung die Klägerin rügt, betrifft nicht das Verfahren vor dem LSG, vielmehr regelt er die Voraussetzungen für den Inhalt einer Entscheidung des LSG, diese Entscheidung berührt aber das Verfahren des LSG nicht mehr (vgl. zuletzt Beschluß des BSG vom 30. September 1963, SozR Nr. 175 zu § 162 SGG mit weiteren Hinweisen). Auch die nach Meinung der Klägerin unrichtige Anwendung des § 68 Abs. 2 AVG vermag die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht zu begründen, weil § 68 Abs. 2 AVG eine Vorschrift des materiellen Rechts ist und diese Vorschrift nicht das Verfahren des LSG berührt. Bei der Entscheidung darüber, ob die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist, darf der Senat nicht prüfen, ob das LSG zu Recht der Meinung gewesen ist, für die Feststellung des (alleinigen oder überwiegenden) Verschuldens der Klägerin an der Auflösung der Ehe im Sinne von § 68 Abs. 2 AVG komme es nicht darauf an, ob die Schuld an der Scheidung im Tenor des Scheidungsurteils ausgesprochen sei, es genüge, wenn sich "aus dem im Scheidungsurteil insgesamt als festgestellt angesehenen Sachverhalt" die (alleinige oder überwiegende) Schuld der Klägerin an der Scheidung ergebe.
Die Klägerin rügt jedoch zu Recht, das Verfahren des LSG leide deshalb an einem wesentlichen Mangel im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil das LSG hinsichtlich der Schuld der Klägerin an der Scheidung eine Feststellung getroffen habe, die es aus dem Inhalt des Urteils des LG nicht habe entnehmen dürfen, sie rügt zu Recht, das LSG habe gegen § 128 SGG verstoßen. Zwar hat die Klägerin entgegen § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG diese Rechtsnorm nicht ausdrücklich als verletzt bezeichnet, hierauf kommt es aber nicht an, weil sich aus dem substantiierten Vorbringen der Klägerin klar ergibt, daß die Klägerin - auch - diese Vorschrift als verletzt ansieht (BSG 1, 227). Diese Rüge greift durch. Das Urteil des LG läßt nicht nur deshalb, weil der Tenor dieses Urteils eine Schuldfeststellung nicht enthält, sondern auch nach seinen Gründen nicht den Schluß zu, das LG habe die - wenigstens überwiegende - Schuld der Klägerin an der Scheidung festgestellt. Das LSG hat zu dieser Schlußfolgerung nicht deshalb kommen können, weil nach seiner Meinung der Widerspruch des F. gegen die Scheidung im (zweiten) Scheidungsverfahren und sein Antrag auf Abweisung der Scheidungsklage im Sinne von § 53 Abs. 2 EheG als Antrag, die Schuld der Klägerin an der Scheidung festzustellen, habe angesehen werden müssen. Es kommt nicht darauf an, ob das LG eine Entscheidung über die Schuld der Klägerin hat treffen müssen , jedenfalls lassen auch die Gründe des Urteils des LG nicht den Schluß zu, daß das LG eine solche Entscheidung getroffen hat ; das LG hat nicht nur - wie auch das LSG angenommen hat - § 53 Abs. 2 EheG "nicht ausdrücklich angewandt", es hat diese Vorschrift überhaupt nicht angewandt, es hat sein Urteil allein auf § 48 EheG gestützt. Soweit das LG ausgeführt hat, daß die Klägerin "zumindest überwiegend an der Zerrüttung der Ehe schuld ist", hat es diese Feststellung allein im Hinblick auf die Zulässigkeit des Widerspruchs des F. gegen das Begehren der Klägerin auf Scheidung der Ehe aus den Gründen des § 48 Abs. 1 EheG getroffen. Da das LG die Frage der Schuld der Klägerin an der Scheidung überhaupt nicht erörtert hat, lassen auch die Gründe des Urteils nicht den Schluß zu, das LG habe insoweit eine Entscheidung getroffen, und sie lassen jedenfalls nicht den vom LSG gezogenen Schluß zu, diese Entscheidung bestehe darin, daß die Klägerin überwiegend an der Scheidung schuld sei. Darauf, daß das Urteil des LG eine Entscheidung über die Schuld der Klägerin enthalte, ist es aber vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG aus angekommen; auch das LSG ist nicht etwa - was den sachlich-rechtlichen Inhalt seiner Entscheidung und nicht sein Verfahren berühren würde - der Meinung gewesen, es sei, da das LG eine Entscheidung über die Schuld der Klägerin an der Scheidung nicht getroffen habe, befugt, bei der Entscheidung über den Rentenanspruch der Klägerin aus § 68 Abs. 2 AVG selbst darüber zu entscheiden, ob die Ehe der Klägerin mit F. ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Klägerin aufgelöst worden sei.
Das LSG hat sonach zu Unrecht aus den Gründen des Urteils des LG vom 23. November 1961 die Tatsache entnommen, das LG habe festgestellt, die Klägerin treffe die überwiegende Schuld an der Scheidung; das Urteil des LG ist ein Beweismittel gewesen, auf das das LSG sich für diese Feststellung gestützt hat; das LSG hat damit die Grenzen, die seinem Recht zu freien Würdigung der Beweise gezogen sind (BSG 2, 236 ff.; vgl. auch BSG 4, 112 ff.), überschritten, die Klägerin hat diesen Mangel des Verfahrens des LSG zu Recht gerügt. Die Revision ist deshalb statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; da die Revision auch frist- und formgerecht eingelegt ist, ist sie zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 8. Oktober 1962 den Antrag der Klägerin auf die wiederaufgelebte Witwenrente zu Unrecht abgelehnt, das SG und das LSG haben diesen Bescheid zu Unrecht als rechtmäßig angesehen. Die Voraussetzungen, an die nach § 68 Abs. 2 AVG das Wiederaufleben des Anspruchs auf Witwenrente geknüpft ist, liegen bei der Klägerin vor. Das LSG hat festgestellt, der Klägerin sei vom 1. Januar 1945 an Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes G. bewilligt worden; mit dem Ablauf des Monats, in dem die Klägerin sich mit F. verheiratet hat, ist dieser Anspruch weggefallen (§ 41 Abs. 1 AVG aF in Verbindung mit § 1287 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF), der Anspruch ist jedoch vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe der Klägerin mit F. aufgelöst worden ist, sonach vom Dezember 1961 an wiederaufgelebt; die Klägerin hat den Antrag auf die wiederaufgelebte Witwenrente am 13. Februar 1962, sonach noch innerhalb von zwölf Monaten nach der Auflösung der Ehe gestellt. Die Ehe der Klägerin mit F. ist ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Klägerin geschieden worden. Bei der Beurteilung dieser Frage sind die Sozialversicherungsträger und auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit an den Inhalt des Scheidungsurteils gebunden; sie sind also grundsätzlich daran gebunden, ob das Scheidungsurteil einen Schuldausspruch enthält und wie der Schuldausspruch, falls er in dem Scheidungsurteil enthalten ist, lautet; der Schuldausspruch gehört an sich in die Urteilsformel des Scheidungsurteils, es genügt aber auch, wenn die Entscheidung über die Schuldfrage in den Gründen des Urteils enthalten ist (vgl. Palandt, Komm. zum BGB, 17. Aufl. Anm. 2 zu § 52 EheG). Das Urteil des LG vom 23. November 1961 enthält - wie bereits dargelegt ist - weder im Tenor noch in den Gründen einen Schuldausspruch.
Auf die Revision der Klägerin sind daher das Urteil des LSG, das Urteil des SG und der Bescheid der Beklagten aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin einen Bescheid über den Anspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente - gegebenenfalls unter Beachtung der Anrechnungsvorschriften in § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG, 2. Halbsatz - zu erteilen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen