Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederaufgelebte Witwenrente. Unterhaltsverzicht
Orientierungssatz
1. Hat eine wiederverheiratete "Witwe" bei der Scheidung ihrer zweiten Ehe auf Unterhalt verzichtet, so ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Unterhaltsanspruch anzurechnen, welcher der "Witwe" ohne den Verzicht gegen den zweiten Ehemann nach dem EheG (§ 58 ff) zustehen würde.
2. Da die Mindestversorgung in erster Linie aus den infolge der Auflösung der zweiten Ehe neu erworbenen Ansprüchen bestritten werden soll kann es nicht zulässig sein, daß die "Witwe" selbst eine Versorgungslücke schafft und auf diese Weise die vom Gesetz vorgesehene "Rangfolge" der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstößt.
3. Der Umstand, daß § 72 EheG Unterhaltsvereinbarungen zuläßt, ändert nichts daran, daß solche Unterhaltsvereinbarungen im Rahmen des § 68 Abs 2 AVG (= 1291 Abs 2 RVO) nicht zu beachten sind, wenn sie die "Rangfolge der Versorgung" umkehren.
Normenkette
AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; EheG § 72; RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 24.04.1964) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 19.11.1963) |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. April 1964 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Klägerin bezog nach dem Tod ihres ersten Ehemannes im Jahre 1951 bis zur Wiederheirat im Jahre 1953 eine Witwenrente aus der Angestelltenversicherung. Aus der Veräußerung der Steuerhelfer-Praxis ihres ersten Ehemannes erhielt sie eine Abfindung in laufenden Beträgen, die in den Jahren 1961 bis 1963 250.- DM monatlich betrugen. Ihre zweite Ehe wurde im Oktober 1961 aus dem Verschulden des Mannes geschieden; die Klägerin verzichtete im Ehescheidungsverfahren ihrem zweiten Ehemann gegenüber auf Unterhalt.
Der zweite Ehemann der Klägerin bezieht Renten wegen Berufsunfähigkeit und aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die zusammen 1961 640,40 DM, 1962 658,90 DM und 1963 677,40 DM monatlich ausmachten.
Am 17. November 1961 beantragte die Klägerin, ihr die Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes wiederzugewähren. Mit Bescheid vom 16. April 1963 stellte die Beklagte fest, daß die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes ab 1. November 1961 wiederaufgelebt sei; sie errechnete die Höhe der - ungekürzten - Witwenrente mit 288,20 DM ab 1. November 1961, 302,40 DM ab 1. November 1962 und 322,50 DM ab 1. Januar 1963, kürzte diese Rente jedoch für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 1961 um monatlich 46,60 DM, für das Jahr 1962 um monatlich 53,- DM und für das Jahr 1963 um monatlich 59,- DM, weil die Klägerin sich die Beträge anrechnen lassen müsse, die ihr der zweite Ehemann als Unterhalt zu gewähren hätte.
Mit der Klage wandte sich die Klägerin gegen die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen gegen ihren zweiten Ehemann auf die wiederaufgelebte Witwenrente, weil sie in einem rechtswirksamen Vergleich auf Unterhalt verzichtet habe. Das Sozialgericht (SG) Schleswig und das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) verurteilten die Beklagte, die wiederaufgelebte Witwenrente ohne Anrechnung des Unterhaltsanspruchs zu gewähren (Urteile vom 19. November 1963 und vom 28. April 1964). Zur Begründung berief sich das LSG auf Wortlaut und Sinn des Gesetzes; nach dem Wortlaut des § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) dürften nur wirklich erworbene Ansprüche angerechnet werden, hier habe die Klägerin jedoch wegen des Unterhaltsverzichts nach § 72 des Ehegesetzes (EheG) keinen Unterhaltsanspruch für die Zeit nach der Scheidung; ein solcher Unterhaltsverzicht verletze nicht die Interessen der Versichertengemeinschaft, der Verzicht sei aus der Sicht des Ehescheidungsverfahrens zweckmäßig gewesen; eine "offensichtliche Manipulation" mit der Rangfolge zwischen der wiederaufgelebten Witwenrente und dem Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann liege nicht vor.
Die Beklagte legte die vom LSG zugelassene Revision ein, mit dem Antrag
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16. April 1963 abzuweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 i. V. m. § 153 und 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG; sie ist auch begründet.
Die Auffassung des LSG, auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin (§ 68 Abs. 2 AVG) sei schon deshalb kein Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Ehemann anzurechnen, weil die Klägerin im Ehescheidungsverfahren auf Unterhalt verzichtet habe, trifft nicht zu. Hat eine wiederverheiratete "Witwe" bei der Scheidung ihrer zweiten Ehe auf Unterhalt verzichtet, so ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Unterhaltsanspruch anzurechnen, welcher der "Witwe" ohne den Verzicht gegen den zweiten Ehemann nach dem EheG (§ 58 ff) zustehen würde. Dies hat der erkennende Senat bereits in dem Urteil vom 2. September 1964 (SozR Nr. 9 zu § 1291 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) entschieden. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat sich dieser Auffassung in dem Urteil vom 24. März 1965 - 1 RA 225/61 - angeschlossen (vgl. auch das Urteil des 9. Senats vom 27. November 1964, SozR Nr. 8 zu § 51 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - = Breithaupt 1965, 238). Die Ausführungen des LSG geben keinen Anlaß, diese Rechtsansicht aufzugeben. Der Senat hat in dem Urteil vom 2. September 1964 eingeräumt, daß § 68 Abs. 2 AVG seinem Wortlaut nach nur die Anrechnung tatsächlich erworbener Unterhaltsansprüche zuzulassen scheint; er hat jedoch weiter dargelegt, daß der Wortlaut den Sinn des Gesetzes unvollständig wiedergibt und daß der erkennbare Sinngehalt der Vorschrift eine berichtigende - erweiternde - Auslegung fordert. Sinn und Zweck des Gesetzes erschöpfen sich nicht darin, der Witwe nach der Auflösung der zweiten Ehe eine Mindestversorgung in Höhe der Witwenrente nach der 1. Ehe zu garantieren. Das Gesetz läßt vielmehr erkennen, daß die Mindestversorgung in erster Linie aus den infolge der Auflösung der zweiten Ehe neu erworbenen Ansprüchen (Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüchen) bestritten werden soll; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der Versorgung nach der ersten Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente - hilfsweise (subsidiär) - diese "Lücke" in der Versorgung füllen. Mit Rücksicht hierauf kann es aber nicht zulässig sein, daß die "Witwe" selbst eine Versorgungslücke schafft und auf diese Weise die vom Gesetz vorgesehene "Rangfolge" der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstößt. Ein solches Verhalten der Witwe darf nicht durch Gewährung einer ungekürzten Witwenrente aus der Angestelltenversicherung des ersten Ehemannes "honoriert" werden; die Versorgungsgarantie, die das Gesetz gibt, muß vielmehr entfallen, soweit die Witwe selbst die ihr nach dem Gesetz zustehende Mindestversorgung vereitelt. Der Umstand, daß § 72 EheG Unterhaltsvereinbarungen (Unterhaltsverzicht vor Rechtskraft der Scheidung) zuläßt, ändert nichts daran, daß solche Unterhaltsvereinbarungen im Rahmen des § 68 Abs. 2 AVG nicht zu beachten sind, wenn sie die "Rangfolge der Versorgung" umkehren.
Dieses Ergebnis steht auch nicht mit den Neufassungen der §§ 615 Abs. 2 RVO, 44 Abs. 5 BVG im Widerspruch. Die dort genannten Einschränkungen für die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf wiederaufgelebte Witwenrenten beziehen sich auf Ansprüche, die mit der Auflösung der zweiten Ehe tatsächlich entstanden, aber nicht zu verwirklichen sind (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 4.11.1964, SozR Nr. 10 zu § 1291 RVO, und Urteil des 1. Senats vom 24.3.1965 - 1 RA 225/61 -). Sie könnten nicht auf den Fall übertragen werden, in dem die Witwe vor der Scheidung das Entstehen von Unterhaltsansprüchen durch einen Verzicht auf solche Ansprüche überhaupt verhindert hat (vgl. auch Urt. des erkennenden Senats vom 23.6.1965 - 11 RA 9/65 -).
Da die Revision hiernach zu Recht eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG rügt und die Entscheidung des LSG sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden, weil Feststellungen über die Höhe des anzurechnenden Unterhalts fehlen; der Rechtsstreit muß deshalb zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dabei ist vom LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen