Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf Unterhalt bei Scheidung der 2. Ehe
Leitsatz (redaktionell)
Der Senat sieht keinen Anlaß, seine Rechtsansicht, der der 1. Senat gefolgt ist, aufzugeben.
Die vom Gesetz gegebene Versorgungsgarantie muß entfallen, wenn - insoweit als - die Witwe selbst die ihr nach dem Gesetz zustehende Mindestversorgung vereitelt.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. November 1964 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin bezog nach dem Tode ihres ersten Ehemannes bis zur Wiederheirat im Jahre 1950 eine Witwenrente aus der Angestelltenversicherung. Ihre zweite Ehe wurde im Januar 1961 aus dem Verschulden des Mannes geschieden; die Klägerin hatte im Scheidungstermin ihm gegenüber auf jeglichen Unterhalt verzichtet.
In ihrem Bescheid vom 8. September 1961 stellte die Beklagte fest, daß die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Mannes ab Februar 1961 zwar wieder aufgelebt sei, dennoch aber nicht gezahlt werden könne; die Rente sei nämlich geringer als der gesetzliche Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den zweiten Mann; dieser Unterhaltsanspruch sei nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) trotz des Unterhaltsverzichts auf die Rente anzurechnen. Das Sozialgericht Bremen und das Landessozialgericht (LSG) Bremen haben die Beklagte verurteilt, die wiederaufgelebte Witwenrente ohne Anrechnung des Unterhaltsanspruchs zu gewähren (Urteile vom 11. Dezember 1963 und 26. November 1964). Zur Begründung berief sich das LSG auf Wortlaut und Sinn des Gesetzes; nach dem Wortlaut des § 68 Abs. 2 AVG dürften nur wirklich erworbene Ansprüche angerechnet werden, hier habe die Klägerin jedoch wegen des nach § 72 des Ehegesetzes (EheG) rechtswirksamen Unterhaltsverzichts für die Zeit nach der Scheidung keinen Unterhaltsanspruch erworben; die Nichtanrechnung entspreche auch dem Sinn des Gesetzes, nach dem der ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden geschiedenen "Witwe" (Witwe des Versicherten) eine Mindestversorgung in Höhe der früheren Witwenrente garantiert werde. Dieses Ergebnis werde durch die Neufassungen des § 615 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) (durch das UVNG) und des § 44 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) (durch das zweite NOG) bestätigt; nach beiden Vorschriften dürften auf die wiederaufgelebte Witwenrente nur Unterhaltsansprüche angerechnet werden, die sich verwirklichen ließen; § 44 Abs. 5 BVG erkläre außerdem einen Unterhaltsverzicht nur dann für unbeachtlich, wenn die Witwe ihn ohne verständigen Grund abgegeben habe, das treffe hier nicht zu.
Die Beklagte legte die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 8. September 1961 abzuweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG und stützte sich dabei auf das Urteil des erkennenden Senats vom 2. September 1964 - 11/1 RA 189/61 - (SozR Nr. 9 zu § 1291 RVO).
Die Klägerin war im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Wenn eine wiederverheiratete "Witwe" bei der Scheidung ihrer zweiten Ehe auf Unterhalt verzichtet, dann ist auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Unterhaltsanspruch anzurechnen, welcher der Witwe ohne den Verzicht gegen den zweiten Ehemann nach dem EheG (§§ 58 ff) zustehen würde. Dies hat der erkennende Senat bereits in dem von der Beklagten angeführten Urteil vom 2. September 1964 entschieden. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat sich dem im Urteil vom 24. März 1965 - 1 RA 225/61 - angeschlossen (vgl. auch das Urteil des 9. Senats vom 27. November 1964 - 9 RV 58/64 - S. 10). Die Ausführungen des LSG geben keinen Anlaß, diese Rechtsansicht aufzugeben. Der Senat hat in dem Urteil vom 2. September 1964 eingeräumt, daß § 68 Abs. 2 AVG seinem Wortlaut nach nur die Anrechnung tatsächlich erworbener Unterhaltsansprüche zuzulassen scheine, er hat jedoch weiter dargelegt, daß der Wortlaut den Sinn des Gesetzes unvollständig wiedergibt und daß der erkennbare Sinngehalt der Vorschrift eine berichtigende - erweiternde - Auslegung fordert. Entgegen der Auffassung des LSG erschöpfen sich Sinn und Zweck des Gesetzes nicht darin, der Witwe nach der Auflösung der zweiten Ehe eine Mindestversorgung in Höhe der Witwenrente nach der ersten Ehe zu garantieren. Das Gesetz läßt vielmehr erkennen, daß die Mindestversorgung in erster Linie aus den infolge Auflösung der zweiten Ehe neu erworbenen Ansprüchen (Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüche) bestritten werden soll; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der nach der ersten Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente - hilfsweise (subsidiär) - die entstandene Versorgungslücke füllen. Mit Rücksicht hierauf kann es aber nicht zulässig sein, daß die "Witwe" selbst eine Versorgungslücke schafft und auf diese Weise die vom Gesetzgeber vorgesehene "Rangfolge" der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstößt. Ein solches Verhalten der Witwe darf nicht durch Gewährung einer ungekürzten Witwenrente aus der Angestelltenversicherung des ersten Ehemannes "honoriert" werden; die vom Gesetz gegebene Versorgungsgarantie muß vielmehr entfallen, wenn - insoweit als - die Witwe selbst die ihr nach dem Gesetz zustehende Mindestversorgung vereitelt.
Daran vermögen auch die Hinweise des LSG auf die Neufassungen der §§ 615 Abs. 2 RVO, 44 Abs. 5 BVG nichts zu ändern. Die dort genannten Einschränkungen für die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf wiederaufgelebte Witwenrenten beziehen sich auf Ansprüche, die mit der Auflösung der zweiten Ehe tatsächlich entstanden sind (vgl. die Urteile des erkennenden Senats vom 4. November 1964, SozR Nr. 10 zu § 1291 RVO, und das Urteil des 1. Senats vom 24. März 1965); sie können nicht ohne weiteres auf den Fall übertragen werden, in dem die Witwe durch einen Verzicht vor der Scheidung das Entstehen von Unterhaltsansprüchen überhaupt verhindert hat. Auf Grund solcher Verzichte übernimmt nämlich der Ehemann als Gegenleistung nicht selten die Schuld an der Scheidung; diese Verquickung des Verzichts mit den späteren Schuldfeststellungen im Scheidungsurteil darf aber nicht unberücksichtigt bleiben. Wollte man hier zugestehen, daß die Ehegatten der zweiten Ehe nicht nur die gesetzlichen Voraussetzungen für das Wiederaufleben der Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes (Scheidung ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe) schaffen, sondern auch noch die Anrechnung von gesetzlichen Unterhaltsansprüchen gegen den zweiten Mann auf die wiederauflebende Witwenrente verhindern könnten, so würden beide Ehegatten in einer vom Gesetz nicht gewollten Weise auf Kosten des Versicherungsträgers begünstigt; im Gegensatz zu anderen auf Unterhalt verzichtenden Frauen könnte sich die Witwe an dem Versicherungsträger schadlos halten und der zweite Ehemann könnte den Unterhalt der Witwe auf den Versicherungsträger abwälzen. Daß damit aber die Vorstellungen des Gesetzgebers über die "Rangfolge" der Leistungen, die zur Sicherung des Witwenunterhalts nach Auflösung der zweiten Ehe in Betracht kommen, völlig umgestoßen würden, liegt auf der Hand.
Da die Revision hiernach zu Recht eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG rügt und die Entscheidung des LSG sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil Feststellungen über die Höhe des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs ab Februar 1961 fehlen; der Rechtsstreit muß deshalb zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dabei ist vom LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen