Leitsatz (amtlich)
Als "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" iS von AVG § 25 Abs 3 S 1 können nur solche Beschäftigungen oder Tätigkeiten berücksichtigt werden, für die auch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten (Anschluß BSG 1964-03-03 4 RJ 17/61 = SozR Nr 20 zu § 1248 RVO).
Normenkette
AVG § 25 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
1) Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1960 und des Sozialgerichts Köln vom 10. Juni 1959 werden aufgehoben.
2) Die Klage wird abgewiesen.
3) Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten ein vorzeitiges Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Streitig ist allein, ob sie in den letzten 20 Jahren, hier im Zeitraum von Mai 1937 bis April 1957, überwiegend - also mindestens 121 Monate - eine "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" ausgeübt hat. In dieser Zeit sind nur für 119 Monate Pflichtbeiträge nachgewiesen und freiwillige Beiträge i. S. des § 25 Abs. 3 Satz 2 AVG nicht entrichtet worden. Die Klägerin will jedoch ihre Tätigkeit als Haushälterin bei einem (inzwischen verstorbenen) Rechtsanwalt von Oktober 1946 bis März 1947 noch als weitere "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" berücksichtigt haben, obgleich hierfür keine Versicherungsbeiträge geleistet worden sind. Die Beklagte hielt das nicht für zulässig und lehnte daher den Rentenantrag ab (Bescheid vom 8. Februar 1959). Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt. Die Berufungen der beteiligten Versicherungsträger wies das Landessozialgericht (LSG) zurück; es war der Auffassung, daß der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in § 25 Abs. 3 AVG die tatsächliche Beitragsentrichtung nicht einschließe.
Mit der zugelassenen Revision beantragte die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA),
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 25 Abs. 3 AVG.
Die Klägerin begehrte die Zurückweisung der Revision.
Die Beklagte, die ursprünglich auch Revision eingelegt, sie aber dann zurückgenommen hat, stellte keinen Antrag.
Alle Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beigeladenen ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG; BSG 18, 131) und begründet.
Den Begriff "rentenversicherungspflichtige" oder "versicherungspflichtige" Beschäftigung oder Tätigkeit verwendet das AVG an mehreren Stellen
(§§ 10 Abs. 1, 21 a Abs. 2, 25 Abs. 2 und 3, 28 Abs. 2, 36 Abs. 1 Nr. 1 - 4 und Abs. 3, 37 Abs. 1 und 2, 82 Abs. 1, 97 Abs. 2, 123 Abs. 3, vgl. auch Art. 2 § 50 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -; die Vorschriften decken sich mit den entsprechenden Bestimmungen in den §§ 1233, 1244 a, 1248, 1251, 1259, 1260, 1303, 1318, 1401 der Reichsversicherungsordnung - RVO - und Art. 2 § 52 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -);
mit seiner Auslegung hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt befaßt
(BSG 11, 274; 16, 284; 17, 110; SozR Nr. 14 und 20 zu § 1248 und Nr. 6 zu § 1251 RVO);
die Entscheidungen stimmen allerdings darin nicht überein, ob der Begriff in allen Vorschriften die gleiche Bedeutung hat; darüber braucht sich der Senat im vorliegenden Falle jedoch kein Urteil zu bilden, weil hier der Begriff im Rahmen des § 25 Abs. 3 AVG (= 1248 Abs. 3 RVO) und dabei auch nur insoweit streitig ist, als er sich auf die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten 20 Jahren bezieht.
Der Begriff der ( renten )versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit weist seinem Wortlaut nach auf die Bestimmungen über die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung hin (ebenso BSG 17 aaO und SozR Nr. 6 zu § 1251 RVO), obgleich er in dieser Wortfolge dort nicht erscheint, es sei denn, man hält die Formulierung in § 4 AVG (1228 RVO) Abs. 1 Nr. 5 und 6: "eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung oder Tätigkeit" für eine im wesentlichen gleiche Fassung. Gegenüber den Vorschriften über die Versicherungspflicht besteht allerdings insofern ein Unterschied, als dort die Versicherungspflicht auf Personen, hier dagegen auf Beschäftigungen oder Tätigkeiten bezogen wird; mag dieser Unterschied auch dadurch abgeschwächt sein, daß nach den Vorschriften über die Versicherungspflicht immer nur Personen in bestimmten Beschäftigungen oder Tätigkeiten versicherungspflichtig sind (vgl. hierzu wieder § 4 AVG aaO), so war er doch jedenfalls der Grund, daß das BSG wiederholt prüfen mußte, ob die "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" losgelöst von der jeweils sie ausübenden Person zu verstehen ist oder nicht; das wurde - ausgenommen in § 1248 Abs. 2 RVO (SozR Nr. 20 zu § 1248 RVO) - verneint. Im vorliegenden Falle geht es darum jedoch nicht. Hier kommt es vielmehr darauf an, ob die Versicherungspflicht - die hier weder in bezug auf die Beschäftigung noch auf die Person streitig ist - genügt oder ob außerdem eine Beitragsleistung erforderlich ist. Insoweit ist allerdings nicht zu verkennen, daß nach dem Wortlaut des § 25 Abs. 3 AVG das Vorliegen von Versicherungspflicht zu genügen scheint; dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß das Gesetz an einigen Stellen im Zusammenhang mit der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit ausdrücklich die Beitragsleistung verlangt
("Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit", §§ 10 Abs. 1, 21 a Abs. 3, 36 Abs. 3, 37 Abs. 1 AVG; vgl. auch den vom LSG besonders hervorgehobenen § 16 des Fremdrentengesetzes: "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung, für die Beiträge entrichtet sind");
der Wortlaut wäre danach ohne Zweifel eine starke Stütze für die Ansicht der Klägerin und des LSG, wenn der Gesetzgeber immer deutlich zwischen der Versicherungspflicht und ihrer Erfüllung (der Beitragsleistung) unterschiede; das ist aber nicht der Fall. Bei genauer Terminologie dürfte der Gesetzgeber zB in der gesetzlichen Rentenversicherung "Versicherte" nur diejenigen nennen, bei denen die Versicherung schon durchgeführt ist, d. h. Beiträge schon entrichtet sind; der Gesetzgeber bezeichnet jedoch mehrfach auch die erst Versicherungspflichtigen schon als Versicherte (vgl. die § 2 AVG vorangestellte Gliederung der §§ 2 - 11 AVG und ferner §§ 112, 119, 120 AVG); bei der Auslegung des Begriffs der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit darf deshalb dem Wortlaut, insbesondere dem Wort versicherungspflichtig, keine entscheidende Bedeutung dann beigemessen werden, wenn klargestellt werden soll, ob dieser Begriff die Beitragsleistung umfaßt oder nicht. Zu Recht hat deshalb das LSG auch nach dem Sinn und Zweck des § 25 Abs. 3 AVG geforscht; dem Ergebnis seiner Erwägungen kann der Senat indes nicht beitreten; er schließt sich vielmehr dem 4. Senat des BSG an, der im Urteil vom 3. März 1964 (SozR Nr. 20 zu § 1248 RVO) zu dem Schluß gekommen ist, rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen oder Tätigkeiten i. S. v. § 1248 Abs. 3 RVO (= § 25 Abs. 3 AVG) könnten nur solche Beschäftigungen oder Tätigkeiten sein, für die auch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind oder doch als entrichtet gelten.
Das LSG hat den Umstand überbewertet, daß § 25 Abs. 3 AVG ersichtlich der Doppelbelastung der berufstätigen Hausfrau und dem dadurch bedingten stärkeren Kräfteverbrauch Rechnung tragen will. Das ist aber nur einer der Gründe der gesetzlichen Regelung; das BSG hat in den bisherigen Entscheidungen wiederholt darauf hingewiesen, daß dieses Motiv nicht erklärt, weshalb die Berufstätigkeit, die zur Doppelbelastung in den letzten 20 Jahren geführt hat, eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gewesen sein muß und weshalb ihr - nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AVG - nur solche wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze (JAV-Grenze) versicherungsfreie Beschäftigungen oder Tätigkeiten gleichstehen, die mit freiwilligen Beiträgen belegt sind. Diese Einzelheiten der gesetzlichen Regelung zeigen nämlich, daß es dem Gesetzgeber auch auf eine "qualifizierte" Beitragsleistung zur gesetzlichen Rentenversicherung in den letzten 20 Jahren angekommen ist. Das wird gerade an Satz 2 des § 25 Abs. 3 AVG deutlich. Mit dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber - ebenso wie in § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG (vgl. hierzu BSG 17, 290, 292) und in § 37 Abs. 2 AVG - den hier sonst zu Härten führenden Unterschied ausgleichen, der zwischen der Arbeiterrentenversicherung (ArV) und der Angestelltenversicherung (AnV) insofern besteht, als bei der AnV im Gegensatz zur ArV die Versicherungspflicht mit dem Überschreiten einer JAV-Grenze endet. Hätte der Gesetzgeber bei der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit i. S. v. § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG nicht auch die Beitragsleistung vorausgesetzt, dann hätte er keinen Grund gehabt, in Satz 2 nach Überschreiten der JAV-Grenze die Entrichtung von freiwilligen Beiträgen zu verlangen; § 25 Abs. 3 Satz 2 AVG bestätigt somit, daß auch die in Satz 1 erwähnte "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" mit Beiträgen belegt sein muß. Damit verwirklicht § 25 Abs. 3 AVG auf seine Weise nur wiederum das Versicherungsprinzip, das allen Leistungen der Rentenversicherung zugrunde liegt und bei ihrer Neuregelung im Jahre 1957 wieder stärker herausgestellt worden ist. Die Leistungen der Rentenversicherung sind hiernach weitgehend von den geleisteten Beiträgen abhängig; dieser Grundzug der gesetzlichen Rentenversicherung legt es nahe, dort, wo die Entstehung von Rechten - wie in § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG - oder die Gewährung von Vergünstigungen - wie zB in § 28 Abs. 2 AVG - ua an eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit geknüpft ist, zugleich die Entrichtung von Beiträgen für diese zu fordern. Die in § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG gewählte Wortfassung steht dem nicht entgegen; den Ausdruck "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" hat der Gesetzgeber im wesentlichen deshalb gewählt, weil es ihm in diesem Zusammenhang auf eine Pflichtversicherung ankam; die Beitragsleistung mag ihm hierbei als selbstverständlich eingeschlossen erschienen sein, zumal sie beim Bestehen einer Versicherungspflicht auch die Regel bildet.
Da das angefochtene Urteil mithin § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG verletzt, ist die Revision der Beigeladenen begründet. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden. Die Beschäftigung der Klägerin als Haushälterin von Oktober 1946 bis März 1947 kann im Rahmen des § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG nicht als rentenversicherungspflichtige Beschäftigung berücksichtigt werden, weil für diese Tätigkeit trotz bestehender Versicherungspflicht Beiträge zur Rentenversicherung nicht entrichtet worden sind und ein Tatbestand, nach dem sie als entrichtet gelten, nicht vorliegt. Der tatsächlichen Beitragsentrichtung kann nur der - hier nicht gegebene - Fall gleichgestellt werden, daß der Arbeitgeber dem Versicherten immerhin den auf ihn entfallenden Beitragsanteil vom Lohn (Gehalt) abgezogen hat. Diese vom Gesetzgeber in § 119 Abs. 6 AVG ausdrücklich ausgesprochene Gleichstellung rechtfertigt sich aus dem Umstand, daß der Versicherte in die sem Falle selbst alles Erforderliche getan hatte, daß er "geleistet" hatte und auf die Abführung des Beitrags an den Versicherungsträger vertrauen durfte. Ist eine Einbehaltung seines Beitragsanteils vom Lohn (Gehalt) dagegen unterblieben, so verdient er versicherungsrechtlich selbst dann keinen besonderen Schutz, wenn der Arbeitgeber die Abführung von Beiträgen an den Versicherungsträger bewußt unterlassen hat. Es bedarf daher keiner Klärung, ob der die Klägerin von Oktober 1946 bis März 1947 beschäftigende Rechtsanwalt - was zweifelhaft ist - die Beiträge "absichtlich hinterzogen" hat; dieser Fall ist jedenfalls vom Gesetzgeber der tatsächlichen Beitragsleistung nirgends gleichgestellt worden und kann ihr auch im Rahmen des § 25 Abs. 3 AVG nicht gleichgestellt werden (ebenso SozR Nr. 20 zu § 1248 RVO). Schließlich muß sich die Beklagte auch nicht deshalb, weil von den Rechtsnachfolgern des Rechtsanwalts nach der Meinung der Klägerin die Beiträge noch beigetrieben werden könnten, nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als seien sie - nachträglich - entrichtet worden; das ist schon deshalb nicht möglich, weil etwaige Einwände der Rechtsnachfolger gegen eine Beitreibung nicht bekannt sind und darum offen ist, ob diese überhaupt erfolgreich wäre.
Auf die Revision der Beigeladenen sind deshalb die Urteile des LSG und des SG aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen